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"Zwischen den Zeilen, gegen den Strich".
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Carlo Ginzburg |
Carlo Ginzburg wurde 1939 in Turin geboren und lehrt als Franklin D. Murphy Professor of Italian Renaissance Studies an der University of California / Los Angeles. Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Sciences. 1993 Aby M. Warburg-Preis der Stadt Hamburg. Publikationen: Die Benandanti. Feldkulte und Hexenwesen im 16. und 17. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1980; Erkundungen über Piero. Piero della Francesca, ein Maler der frühen Renaissance, Frankfurt/M. 1981; Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt/M. 1983; Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte, Berlin 1989; Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 1995; Holzaugen. Über Nähe und Distanz, Berlin 1999. |
GUDRUN GERSMANN:
Herr Ginzburg, Ihre erste, später in viele Sprachen übersetzte Studie über Hexerei und Hexenverfolgungen haben Sie Mitte der 1960er Jahre veröffentlicht - I Benandanti, ricerche sulla stregoneria e sui culti agrari tra Cinquecento e Seicento - ein ungewöhnliches und aufregendes Buch, das bekanntlich eine große Forschungsdiskussion entfachte. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht ein im Friaul des 16. und 17. Jahrhunderts weit verbreiteter Feldkult: Die "Benandanti" - Männer und Frauen, die sich als "Wohlfahrende" bezeichnen und angeblich in eine Eihaut eingehüllt zur Welt gekommen sind - erklären ihren Inquisitoren, dass sie um der Fruchtbarkeit ihrer Felder willen viermal im Jahr, bewaffnet mit Fenchelzweigen, des Nachts ausziehen müssten, um gegen Hexen und Hexer zu kämpfen. Sie haben die überlieferten Quellen benutzt, um zu einer Schicht archaischer volkstümlicher Mythen und Vorstellungsweisen vorzudringen, die sich nur verzerrt und bruchstückhaft in der "Geschichtsschreibung der Sieger", mithin in den Quellenzeugnissen der Inquisition wiederfinden lassen - wie ist dieses Werk denn überhaupt entstanden?
CARLO GINZBURG:
Das Buch habe ich auf der Grundlage von Archivbeständen aus Udine geschrieben. Damals war das, womit ich mich beschäftigte, wirklich noch ein ziemlich entlegenes Thema für Historiker, obwohl ich selber seit Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre darüber gearbeitet und 1961 einen Aufsatz über Hexerei und Volksbräuche publiziert hatte. Allerdings hatte ich bereits ab einem frühen Zeitpunkt die Rekonstruktion des Verlaufs oder der Umstände von Prozessen aus dem Blick zu verlieren begonnen: Es war der Glaube, die Vorstellungswelten der vermeintlichen Hexer und Hexen, die einen nachhaltigen Einfluss auf mich ausübten - ein wahrlich marginales Sujet in einem noch marginaleren Bereich, ein Sujet von einer geradezu doppelten Marginalität, wenn man so will.
GUDRUN GERSMANN:
So haben Sie schon zu diesem frühen Zeitpunkt die Entscheidung getroffen, eine ganz bestimmte Forschungsrichtung einzuschlagen?
CARLO GINZBURG:
GUDRUN GERSMANN:
Wenn dies der Ausgangspunkt Ihrer Untersuchung war, wie ging es dann weiter?
CARLO GINZBURG:
Auf der Suche nach Inquisitionsarchiven habe ich daraufhin erst einmal ein Jahr auf Reisen zugebracht: Obwohl viele Archive - insbesondere die Kirchenarchive - der Forschung damals bestenfalls kaum oder aber gar nicht zur Verfügung standen, konnte ich mich dem überwältigenden Sog der von mir konstatierten Differenz zwischen den Kulturen einfach nicht mehr entziehen, um so weniger, als die "Gefängnisnotizen", die von Antonio Gramsci in den zehn Jahren seiner Gefangenschaft unter den Faschisten verfasst worden waren, einen nachhaltigen Einfluss bei mir hinterlassen hatten. Ich teilte diese Erfahrung wohl mit der Mehrheit der italienischen Wissenschaftler meiner Generation. Die Auseinandersetzung mit Gramsci war außerordentlich bedeutsam für mich, denn er hatte über die Volkskultur geschrieben, über die Brüche und inneren Oppositionen einer Kultur, was mir sehr half.
GUDRUN GERSMANN:
Verraten Sie uns ein bisschen mehr über Ihre Arbeit in den italienischen Archiven?
CARLO GINZBURG:
GUDRUN GERSMANN:
Was haben Sie nach Ihrer Entdeckung getan?
CARLO GINZBURG:
Einige Wochen später fuhr ich nach Udine, um in der städtischen Bibliothek zu arbeiten, da mir das Kirchenarchiv leider verschlossen blieb. Und dort, in Udine, stieß ich, ein echter Glücksfall, auf ein vor langer Zeit aus dem Kirchenarchiv gestohlenes Manuskript mit einem Verzeichnis der in der Stadt geführten Inquisitionsprozesse: Ich begann intensiv zu lesen und gelangte dabei auf die Spur weiterer Prozesse gegen die "Benandanti", wurde mithin erneut mit jener Terminologie konfrontiert, die mich schon in Venedig verstört hatte. In dem Archiv war ein Geistlicher tätig, der mir Zugang zu einem Raum mit Schränken voller Handschriften gewährte. Wohlgemerkt, damals stand ich vollkommen allein auf weiter Flur und war praktisch der erste Forscher, der sich mit dem Material auseinander setzte, ohne auf eine wissenschaftliche Tradition zum Thema zurückgreifen zu können. So stürzte ich mich in die Transkription der Quellen und gelangte im Laufe der Zeit zu folgender Hypothese: Die überlieferten Prozesse gaben in meinen Augen sehr klar zu erkennen, dass die Menschen, die ursprünglich gegen die Hexen gekämpft hatten, am Ende selbst zu Hexen geworden waren. Und ich meinte, das volkstümliche Pendant zur gelehrten Darstellung des Hexensabbats gefunden zu haben: Es gab das magische nächtliche Fliegen, den Teufel, die Fruchtbarkeit.
GUDRUN GERSMANN:
Ich habe den Eindruck, dass sich Ihr Buch über die "Benandanti" vor allem durch drei Charakterzüge auszeichnet. Erstens durch die Betonung des für Sie immens wichtigen Faktors Zufall: Sie sind mit einer These von Klassenkampf angetreten und haben diese angesichts der Resultate ihrer Forschungen unerwartet revidieren müssen; zweitens durch das Nachwirken einer geradezu schockhaften visuellen Begegnung mit den Quellen, drittens durch die Benennung eines spezifischen methodischen Zugangs zum Gegenstand, der auch stark an Ihr Buch "Der Käse und die Würmer" erinnert.
CARLO GINZBURG:
GUDRUN GERSMANN:
In der deutschen Hexenforschung ist ein aktuell sehr starker Trend zu lokalen Fallstudien unübersehbar, haben die 'Orte des Geschehens' - zum Beispiel im ländlichen Friaul der Frühen Neuzeit - für Sie bei Ihren Forschungen eigentlich eine wichtige Rolle gespielt?
CARLO GINZBURG:
Nein, denn obwohl ich durchaus um ihre Bedeutung weiß, hängt mein Gefühl der Zugehörigkeit keineswegs von speziellen Räumen ab. Ich bin Italiener, ohne mich an einen einzelnen Ort gebunden zu fühlen.
GUDRUN GERSMANN:
Ihrer Studie über den Müller Menocchio und seine Welt ist ein Zitat des Schriftstellers Louis-Ferdinand Céline vorangestellt: "L'histoire véritable se passe dans l'ombre", - "die wahre Geschichte vollzieht sich im Dunkeln". Dürfen wir annehmen, dass Sie Ihre Arbeit als Historiker als die eines Anatomen betrachten, der eine Bedeutungsschicht nach der anderen freizulegen hat?
CARLO GINZBURG:
Ja, der glühende Wunsch, etwas aus den tiefen Schichten und Millionen von Ablagerungen hervor zu Tage zu fördern: Nachdem ich in Princeton die erste Stummfilmversion des "Phantoms der Oper" gesehen hatte, war es mir unmöglich, dieses Bild je wieder loszuwerden. Denn im "Phantom der Oper" haben wir es mit einer sich auf unterschiedlichen Ebenen - im Theater wie im unterirdischen Paris - abspulenden Geschichte zu tun. Als ich mir den Film anschaute, dachte ich sofort an mein - zwischendurch unterbrochenes - Projekt, an die vielfältigen Bedeutungsebenen und Implikationen nämlich des Phänomens der "Benandanti". Also begann ich wieder daran zu arbeiten, musste mich bald jedoch des übermächtigen Eindrucks erwehren, mit dem Thema und der Fragestellung im Grunde überfordert zu sein. So steht es auch in der Einleitung, und ich bin nach wie vor davon überzeugt. Es lag eigentlich etwas Unrealisierbares in meinem Vorhaben, und dennoch musste ich es angehen, obwohl es für mich dabei nur zwei Aussichten gab, - entweder die eines kleinen Erfolges oder die einer großen Niederlage. Natürlich wollte ich einen "großen Wurf", doch das schien schlicht unmöglich.
GUDRUN GERSMANN:
Was empfanden Sie gegenüber Ihrem Buch, als es nach so vielen Jahren, in denen es Ihr Leben begleitet hatte, schließlich in gedruckter Form vor Ihnen lag?
CARLO GINZBURG:
Ich freute mich sehr darüber, aber es war damit auch für mich erledigt. Ich habe mich danach neuen Themen und literarischen Gattungen zugewandt. Meinem Eindruck nach arbeiten viele Forscher ihr ganzes Leben lang auf einem einzigen Gebiet, das trifft auf mich jedoch gar nicht zu.
GUDRUN GERSMANN:
Als Historiker- Spieler plädieren Sie für den Zufall: Heißt das, dass Sie sich auch gerne einmal - gleichsam "en passant" - von einer Quelle oder einer "Geschichte" verführen lassen?
CARLO GINZBURG:
GUDRUN GERSMANN:
Das ist also das Fazit des Historikers Carlo Ginzburg und des Menschen Carlo Ginzburg?
CARLO GINZBURG:
Gewiss kann man bestrebt sein, bereits im Vorfeld Licht in eine Angelegenheit bringen und diese gewissermaßen systematisch betrachten zu wollen. Doch dreht es sich häufig nicht vor allem darum, bereits vorhandene Dinge zutage zu fördern, die nur darauf warten, entdeckt und freigelegt zu werden? Hier sind wir übrigens wieder bei der "verborgenen Geschichte" angelangt.
GUDRUN GERSMANN:
Sie haben oft mit den - häufig von ihnen so genannten - "Archiven der Repression" gearbeitet, nimmt man daraus nicht einen pessimistischen Blick auf die Entwicklung der Geschichte mit nach Hause?
CARLO GINZBURG:
Optimistisch und pessimistisch sind zweifellos relative Begriffe. Antonio Gramsci hat in Anlehnung an Romain Rolland vom Pessimismus des Verstandes und vom Optimismus des Willens geprochen. Das lässt sich sicher auf verschiedenen Ebenen interpretieren, in jedem Fall muss man etwas tun, das heißt den "Archiven der Repression" das Wissen über die Vergangenheit, das sie beherbergen, entreißen.
GUDRUN GERSMANN:
In den 1980er und 1990er Jahren haben Sie außerordentlich viel zu kunsthistorischen Themen publiziert - zitiert sei nur Ihr Buch über Piero oder über Guernica. War dies ein neues "zufälliges" Interessengebiet oder liegen die Gründe hierfür bereits weiter zurück? Und sehen Sie sich selbst sogar als eine Art epochenüberschreitenden interdisziplinären "Wanderer zwischen den Welten"?
CARLO GINZBURG:
Anfang der 60er Jahre war ich im Londoner Warburg Institute und habe dort Arbeiten Warburgs und anderer, die im Umfeld des Instituts forschten, gelesen. Das hat mich stark geprägt, 1966 habe ich dann einen langen Artikel über diese Forschungstradition geschrieben. Eigentliches Thema des Artikels war die Frage nach der Möglichkeit einer Interpretation bildlicher Zeugnisse als historische Dokumente, ein Thema, das mich immer wieder von neuem stark beschäftigt hat. Mit dem Bild des "Wanderers" haben Sie recht, tatsächlich bedeutete es stets eine Herausforderung für mich, in bis dahin unbekannte Bereiche und Wissensgebiete vorzudringen.
GUDRUN GERSMANN:
Sie haben seit Beginn unseres Gesprächs vielfach den bei der Konfrontation mit Archivquellen empfundenen Schock thematisiert, gilt dies auch für die Konfrontation mit anderen ästhetischen Gebilden, für die Betrachtung von Gemälden beispielsweise?
CARLO GINZBURG:
Ja, da gibt es eine eindeutige Entsprechung. Leo Spitzer hat einmal über den "Kick" geschrieben, den ihm die wiederholte Lektüre eines Textes vermittelt habe. Für ihn waren es die "Kicks" der Erkenntnis, doch ich möchte noch einmal ein weiteres Element hervorheben: Normalerweise geht man bei seinen Forschungen davonm aus, in der Dunkelheit zu starten und sich dann allmählich immer stärker zum Licht hin zu bewegen. Aber nein, so ist es gar nicht: Ich habe einmal geschrieben, dass man mit der Antwort beginnt und dann die Frage rekonstruiert. Das kann mit Dokumenten und auch mit Bildern passieren.
GUDRUN GERSMANN:
Da der Zufall und das Spiel von so zentraler Bedeutung für Sie sind, müssten Sie doch eigentlich ein Anhänger des Internets sein - lassen sich nicht in der Unendlichkeit des Hypertextes Dinge kombinieren, die trotz ihrer scheinbaren Nicht-Kompatiblität in einer Recherche schließlich doch zusammengefügt werden können?
CARLO GINZBURG:
Nun, ich bin gerade dabei, etwas über Online-Kataloge zu schreiben. Allerdings bin ich in Hinsicht auf das Netz ziemlich zurückhaltend, denn ich habe Angst, von Informationen überrollt zu werden, die mich nicht interessieren. Vielleicht verteidige ich mich aber auch nur!
GUDRUN GERSMANN:
Würden Sie uns mitteilen, welche Bücher von Historikern oder welche Filme Sie in der letzten Zeit besonders beeindruckt haben?
CARLO GINZBURG:
GUDRUN GERSMANN:
Erlauben Sie mir zum Schluss noch eine persönliche Frage: Sie leben, arbeiten und lehren teils in Bologna, teils in anderen europäischen Städten, teils in den USA. Glauben Sie, dass man mit Ihren Forschungsinteressen und Fragestellungen besser in den USA oder in Europa aufgehoben ist? Fühlen Sie sich noch als Europäer?
CARLO GINZBURG:
Ja, ich bin Italiener. Aber hier halte ich auch schon ein, denn ich habe keine emotionale Verbindung zu einer "Heimat", wenn Sie so wollen.
GUDRUN GERSMANN:
Danke, dass Sie sich während Ihres Studienaufenthalts in München Zeit für dieses Gespräch genommen haben.
Das Interview wurde von Gudrun Gersmann im Mai 2001 in München auf Französisch geführt.
Carlo Ginzurg: I Benandanti, ricerche sulla stregoneria e sui culti agrari tra Cinquecento e Seicento, 2. ed., Torino 1974 (= Piccola biblioteca Einaudi, 197). Deutsche Übersetzung: Die Benandanti: Feldkulte und Hexenwesen im 16. und 17. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1980.
Ders.: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt am Main 1983.
Ders.: Erkundungen über Piero: Piero della Francesca, ein Maler der frühen Renaissance, Frankfurt a. M. 1991.
Ders.: Das Schwert und die Glühbirne. Eine neue Lektüre von Picassos Guernica, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1999 (= Erbschaft unserer Zeit, 3).
Empfohlene Zitierweise:
"Zwischen den Zeilen, gegen den Strich". Interview mit Carlo Ginzburg (Gudrun Gersmann), in: zeitenblicke 1 (2002), Nr. 1 [08.07.2002], URL: <http://www.zeitenblicke.historicum.net/2002/01/ginzburg/ginzburg.html>
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