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1 (2002), Nr. 1: Inhalt
Inquisition
Dämonologie
Herrschaftsverhältnisse
Ausblick
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Georg Modestin / Kathrin Utz Tremp

Zur spätmittelalterlichen Hexenverfolgung in der heutigen Westschweiz. Ein Forschungsbericht

Inquisition

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Dass in der Westschweiz besonders frühe, das heißt spätmittelalterliche Hexenverfolgungen stattgefunden haben, ist der Forschung spätestens seit Joseph Hansen bekannt [1] und vor rund einem Jahrzehnt eindringlich von Carlo Ginzburg [2] und insbesondere Andreas Blauert [3] in Erinnerung gerufen worden. Das Seminar für mittelalterliche Geschichte an der Universität Lausanne (Prof. Agostino Paravicini Bagliani) nahm diese Anregungen auf und begann sich seit ungefähr 1990 intensiv mit einem Register zu beschäftigen, das im Staatsarchiv des Kantons Waadt liegt und die Protokolle von rund dreißig Hexenprozessen aus dem 15. Jahrhundert enthält.[4] Gleichzeitig begann Kathrin Utz Tremp, damals Oberassistentin für mittelalterliche Geschichte an der Universität Lausanne, mit der Edition von zwei Waldenserprozessen, die 1399 und 1430 in Freiburg stattgefunden hatten. Es stellte sich rasch heraus, dass sowohl der zweite Freiburger Waldenserprozess als auch die ersten Westschweizer Hexenprozesse (seit 1438) von ein und demselben Inquisitor geführt worden waren: dem Dominikaner Ulrich von Torrenté (um 1420-1445).[5] Ulrich von Torrenté kann als eigentlicher Begründer einer ständigen Inquisition in der Westschweiz gelten, die um 1440 einen ersten Höhepunkt erreichte.

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Die im Register Archives cantonales vaudoises, Ac 29, überlieferten frühen Hexenprozesse wurden im Rahmen von Lizentiatsarbeiten in den "Cahiers lausannois d'histoire médiévale" ediert und kommentiert.[6] Als letzte erschienen schließlich im Jahr 2000 auch die Editionen der Freiburger Waldenserprozesse von 1399 und 1430.[7] Gerade beim zweiten Waldenserprozess, demjenigen von 1430, lassen sich erste Übergänge von der Häresie zur Hexerei beobachten, indem Häretiker (Waldenser) verfolgt wurden, wenn die Verfolgung sich gegen Stadtbewohner, und Hexen und Rebellen verfolgt wurden, wenn diese sich von der Stadt gegen das Umland und werdende Territorium richtete.[8] Auffällig ist, dass es in Freiburg nur zehn Jahre nach dem letzten Waldenserprozess zu einer ersten Hexenjagd (1437-1442) kam, die ausschließlich von der Stadt gegen das Land gerichtet war.[9]

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Im Jahr 1997 haben wir eine erste vorläufige Synthese zur Geschichte der Inquisition in der Westschweiz versucht, die über Ulrich von Torrenté hinaus bis ans Ende des Mittelalters reicht.[10] Dabei war zunächst einmal festzustellen, dass ein Inquisitor allein gar nichts vermag, dass er vielmehr von den weltlichen Mächten gerufen werden musste und, dass dieser "Ruf" über den Bischof von Lausanne zu erfolgen hatte, der dem Inquisitor einen entsprechenden Auftrag erteilte und sich selber im Inquisitionsgericht vertreten ließ. In diesem saßen aber auch Vertreter der weltlichen Autoritäten, welche die Inquisition in Auftrag gegeben hatten, so dass es sich bei den Inquisitionstribunalen in der Westschweiz immer um gemischt geistlich-weltliche Gerichte handelte, in denen die weltlichen Herrschaften ohne Scheu Einfluss nahmen. Die erste und beste "Kundin" der Westschweizer Inquisition war die Stadt Freiburg, welche diese mit ihren Waldenserprozessen von 1399 und 1430 recht eigentlich lanciert hat (während die Stadt Bern, die ebenfalls in der Diözese Lausanne lag, nie einen Westschweizer Inquisitor herangezogen hat). Die Bischöfe der drei westschweizerischen Diözesen Lausanne, Genf und Sitten, waren wesentlich zurückhaltender, bis unter Georg von Saluzzo, Bischof von Lausanne (1440-1461), der Damm zumindest für das Bistum Lausanne recht eigentlich gebrochen wurde.

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Erstaunlich ist, dass die Freiburger, die als erste einen Inquisitor aus dem Lausanner Dominikanerkonvent gerufen haben, auch als erste auf die dominikanische Inquisition verzichteten und ihre erste Hexenjagd, die von 1437-1442, ganz auf eigene Faust führten, und dies, obwohl damals noch der ihnen wohl bekannte Ulrich von Torrenté im Amt war und ebenfalls erste Hexenprozesse führte: 1438 in Dommartin und 1439 in Neuenburg.[11] Dieses Beispiel lehrt, dass Häretikerverfolgungen nicht zwangsläufig in Hexenverfolgungen übergehen, nur weil eine zuständige Institution, die Inquisition, vorhanden ist, die sonst, nach Ausrottung der Häretiker, ihre Aufgabe und Daseinsberechtigung verlieren würde. Bemerkenswert ist weiter, dass der Frauenanteil an den Opfern ansteigt, sobald das "Wirkungsfeld" den weltlichen Autoritäten überlassen ist. Diese scheinen also frauenfeindlicher zu sein als die Dominikanerinquisition, denn sonst übersteigt der Frauenanteil an den Opfern der Hexenverfolgungen der Westschweiz im 15. Jahrhundert das Drittel nicht.[12]

Dämonologie

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Es kann kein Zufall sein, wenn im gleichen, etwas erweiterten Raum zur gleichen Zeit auch die ersten theoretischen Texte über den Hexensabbat entstanden: der Bericht des Chronisten Hans Fründ über die Hexenverfolgungen im Wallis, mehrere Kapitel im "Formicarius" des Johannes Nider, die "Errores gazariorum seu illorum qui scopam vel baculum equitare probantur" eines anonymen Autors, der Traktat "Ut magorum et maleficorum errores ..." des delphinatischen Richters Claude Tholosan und schließlich das vierte Buch des "Champion des Dames" des Lausanner Dompropstes Martin le Franc. Diese theoretischen Texte waren freilich bekannt: mit Ausnahme des Traktates "Ut magorum ..." des Claude Tholosan hatte Joseph Hansen sie bereits 1901 veröffentlicht, allerdings nur in unbefriedigenden Auszügen, aus den Zusammenhängen gerissen. Den Traktat des Claude Tholosan hatte 1979 Pierrette Paravy publiziert und zugleich auf eine zweite Fassung der "Errores gazariorum" hingewiesen.[13] All diese Texte hatten uns bei unseren Bemühungen um die westschweizerischen Hexenverfolgungen immer wieder begleitet, so dass schließlich der Wunsch entstand, sie neu und umfassender herauszugeben, zu kommentieren und ins Französische zu übersetzen, ganz ähnlich wie wir dies mit den Prozessakten getan hatten. Dieser Wunsch liess sich mit der zusätzlichen Hilfe von ForscherInnen wie Robert Deschaux (Martin le France) und Pierrette Paravy (Claude Tholosan) bis 1999 realisieren.[14]

<6>
Unser Ziel war es, zunächst den einzelnen Texten und Autoren voll gerecht zu werden und vor allem auch die Entstehungszeit der verschiedenen Texte neu einzugrenzen und diese in eine chronologische Reihenfolge zu bringen (Fründ - Nider - "Errores gazariorum" - Tholosan - Martin le Franc). Dabei stellte sich heraus, dass die fünf Texte praktisch innerhalb eines Jahrzehnts entstanden waren, nämlich zwischen 1428, als Hans Fründ als kritischer Zeitgenosse und Chronist die merkwürdigen Vorgänge im Wallis beschrieb, und 1442, als Martin le Franc im "Champion des Dames" angeblich eine Lanze für die Frauen brach und dabei die frauenfeindlichste Beschreibung des Sabbats hervorbrachte, die es bisher gegeben hatte (in einer Zeit übrigens, als die Freiburger ihre erste Hexenjagd führten, bei welcher der Frauen- den Männeranteil überwog). Aber auch der Raum, in welchem diese Schriften entstanden, ist seltsam homogen: er hat zwar einen etwas weiteren Radius als die bisher beschriebenen und bearbeiteten westschweizerischen Hexenverfolgungen, doch er beschränkt sich auf die Westalpen, - auf das Aostatal, das bernische Territorium, die Diözese Lausanne (und insbesondere das Dekanat von Vevey, wo 1448 eine erste Hexenjagd stattfand), das Wallis und die Täler der Dauphiné. Es war also nicht nur reiner Rufmord, wenn das Herzogtum Savoyen, zu dem zum großen Teil auch die Westschweiz gehörte, den Zeitgenossen als Vaterland der Hexer und Hexen galt. Dass die ersten theoretischen Schriften zu den Hexenverfolgungen in diesem Umkreis entstanden oder zumindest auf Ereignisse Bezug nahmen, die sich angeblich darin zugetragen hatten, lässt sich, wie Arno Borst bereits 1988 für das bernische Simmental gezeigt hat, nicht auf die Rückständigkeit dieser Alpentäler zurückführen, sondern im Gegenteil auf die großen ökonomischen und politischen Veränderungen, die hier am Ende des Mittelalters im Gang waren.[15]

<7>
Unser besonderes Augenmerk galt dem Verhältnis von Theorie und Praxis: Wurden zuerst Hexenprozesse geführt oder zuerst theoretische Schriften darüber geschrieben? Das Ergebnis scheint eindeutig: Die Theorie folgte der Praxis, die theoretischen Schriften schöpften zumindest zum Teil aus Hexenverfolgungen, die bereits stattgefunden haben und unternahmen zugleich deren Legitimierung. Der anonyme Autor der "Errores Gazariorum" könnte gar ein Inquisitor gewesen sein, wenn auch vielleicht eher aus dem Aostatal als aus dem Lausanner Dominikanerkonvent.[16] Claude Tholosan war ebenfalls ein Mann der Praxis, seiner Ansicht nach war die Verfolgung der "Irrtümer von Magiern und Hexern" Sache des Staates und nicht der Kirche und der kirchlichen Inquisition - eine Ansicht, die er offenbar mit den Freiburger Hexenverfolgern von 1437-1442 und dann auch mit den späteren Verfassern des "Hexenhammers" (gedruckt 1487) teilte, und der vor allem in der frühen Neuzeit viel Erfolg beschieden war. Die größte Überraschung bei den Forschungen über die frühesten theoretischen Schriften zu den Hexenverfolgungen aber bot das Wallis: Während man bisher nicht so richtig gewusst hatte, ob der Bericht des Chronisten Hans Fründ reiner Phantasie entsprungen war, steht nun dank der Forschungen von Chantal Ammann-Doubliez fest, dass zeitgleich zum Bericht des Chronisten im Wallis eine umfangreiche Hexenverfolgung stattgefunden hatte, die ganz erstaunliche Übereinstimmungen mit diesem Bericht aufweist.[17]

Herrschaftsverhältnisse

<8>
Mit zunehmender Durchdringung des Quellenbestandes drängt sich vermehrt auch die Frage nach der Herrschaftstopographie in den von der Hexenverfolgung betroffenen Gebieten auf. Haben sich erste Synthesebemühungen auf die institutionelle Aufarbeitung der Dominikanerinquisition beziehungsweise deren "Macht" konzentriert [18], rücken nunmehr - nicht zuletzt im Hinblick auf ein unlängst angelaufenes Projekt des Schweizerischen Nationalfonds (siehe unten, Ausblick) - die dynamischen Beziehungen zwischen den einzelnen Herrschaftsträgern in den Blickpunkt. In der Tat kann in bezug auf die Inquisition nur noch sehr bedingt von einer Art "Räderwerk" ausgegangen werden, das sich gleichsam auf Knopfdruck in Bewegung gesetzt habe. Vielmehr geht es darum, zu ergründen, was für Interessen und Initiativen zur Konstituierung eines Inquisitionstribunals und damit zum Einsetzen der Repression führten; ein Forschungsgegenstand, der durch den oben - zugegebenermaßen überspitzt - geschilderten mechanistischen Ansatz leicht verdeckt wird.

<9>
Nicht wenige Elemente auf dem Weg zu einer Lösung der gestellten Aufgabe finden sich bereits in den einzelnen Bänden der "Cahiers lausannois d'histoire médiévale". So hat Martine Ostorero auf die tragende Rolle des Lausanner Reformbischofs Georg von Saluzzo (1440-1461) hingewiesen, der als treibende Kraft hinter der Hexenverfolgung des Jahres 1448 um das am nordöstlichen Genferseeufer gelegene Vevey gelten kann. Es ist eine administrative Maßnahme, die Georg verrät: Im Juni 1447, also noch vor dem Anlaufen der Hexenjagd im darauf folgenden März, betraut er nämlich den Offizial des Dekanates von Vevey, Leopard von Bosco, mit der Verfolgung, und zwar an der Seite ("unacum") des zuständigen Dominikanerinquisitors Peter von Aulnay.[19] Bevor indes das Gericht in Erscheinung treten kann, muss der weltliche Herrschaftsträger eingebunden werden. Im Fall von Vevey ist er in Person des örtlichen savoyischen Vizekastellans vertreten, der - wie aus den Prozessprotokollen ersichtlich ist - sämtlichen erhaltenen Verfahren beiwohnt. Die Zusammenarbeit mit der weltlichen Gewalt scheint reibungslos vonstatten zu gehen, ja man könnte sich sogar fragen, ob der konkrete Anstoß zur Verfolgung nicht etwa von ihr ausgegangen sei. In Betracht käme allerdings auch Leopard von Bosco, dem in seiner Funktion als Dekan etwas "Verdächtiges" zu Ohren gekommen sein könnte. In diesem Fall kann es Georg von Saluzzo nicht schwer gefallen sein, den savoyischen Amtmann in die Verfolgung einzubinden, pflegte doch der Bischof, der in Basel zu den Elektoren des 1448 noch amtierenden Felix V. (vormals Herzog Amadeus VIII. von Savoyen) gezählt hatte, traditionell gute Beziehungen zum savoyischen Nachbarn.

<10>
Bei der zweiten Hexenjagd unter dem Episkopat von Georg von Saluzzo, die in zwei Schüben 1458 (beziehungsweise 1461) stattfand, waren die herrschaftlichen Verhältnisse insofern einfacher, als sich die Verfolgung auf die Randgebiete des verstreut liegenden Lausanner Fürstbistums selbst konzentrierte und deshalb keine Absprachen mit fremden Landesherrn getroffen werden mussten.[20] Auch diesmal verfügte Georg von Saluzzo über einen "verlängerten Arm": Der Lausanner Jurist Peter Creschon wirkte mit dem Inquisitor Raymund von Rue aus dem Lausanner Magdalenenkonvent so eng zusammen, dass ihm letzterer zweimal seine Vollmachten übertrug. Über die Auslöser dieser neuerlichen Verfolgungswelle lässt sich nur spekulieren. Eine Hypothese, die sich im Moment nur für die bischöfliche Kastellanei von La Roche einigermaßen erhärten lässt [21], tendiert dazu, in der Hexenjagd an der Wende zu den 1460er Jahren eine symbolisch stark befrachtete Demonstration des unter machtpolitischen Druck geratenen bischöflichen Herrschaftswillens zu sehen. Belegen, wenn auch nur rückwirkend, lässt sich eine solche Instrumentalisierung von Verfolgung für die umstrittene Herrschaft Châtel-Saint-Denis, die - zum savoyischen Lehensverband gehörig - von der Stadt Freiburg im März 1461 als Schuldpfand besetzt wurde.[22] Mittels paralleler Chronologien lässt sich der Verdacht auf ähnliche Abläufe auch in Bezug auf die freiburgische Territorialpolitik in den Jahren 1428 bis 1442 formulieren. [23]

<11>
Ungleich komplizierter als 1448 und 1458/61 präsentieren sich die herrschaftlichen Hintergründe der insgesamt sieben aus den Jahren 1477 bis 1484 überlieferten Prozesse, die zwar alle ediert, von denen aber erst vier kommentiert worden sind.[24] Was bei diesen Verfahren auffällt, ist die Häufung von Vernehmungsplätzen - neben dem bischöflichen Schloss von Ouchy bei Lausanne auch die Schlösser von Le Châtelard, Oron und Attalens -, was auf das tätige Einverständnis der örtlichen Lehensherrn hinweist. Ungewohnt ist zudem die dem jeweiligen Prozess vorausgegangene Überstellung dreier Verdächtiger aus dem Einzugsgebiet der Jagd von 1448 nach Ouchy - 1448 hatten die Prozesse nämlich vor Ort stattgefunden. Anders 1458/61: Da wurden tatsächlich vermeintliche Hexer und Hexen von außerhalb ins bischöfliche Gefängnis von Ouchy überführt, doch handelte es sich dabei um Lehensleute des Bischofs. Beim gegenwärtigen Kenntnisstand lässt sich nicht mehr sagen, als dass bei der Verfolgungswelle der Jahre 1477 bis 1484 das ansonsten gepflegte Territorialitätsprinzip aus noch unbekannten Gründen verletzt wurde.

<12>
Respektiert wurde das Territorialitätsprinzip hingegen ganz genau 1498 in Dommartin [25]. Diese Herrschaft besaß einen besonderen Status, da es sich um ein Besitztum des Lausanner Domkapitels handelte, das peinlichst auf die Einhaltung seiner Vorrechte bedacht war - soweit, dass es keinen bischöflichen Vertreter zu den vier erhaltenen Prozessen zuließ. Mehr noch: Mit einer Untersuchung im Vorfeld der Prozesse übernahmen die Lausanner Kanoniker gleich selbst die Funktion des Inquisitors, dessen Vorrechte sie im übrigen grob verletzten, indem sie seiner Urteilsverkündung mit eigenen Verdikten zuvorkamen.

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Solche Fragen stellten sich 1524-1528 nicht, als in Dommartin die bislang letzten bekannten Hexenprozesse vor der bernischen Annexion der Waadt - dazu kam es zu Beginn des Jahres 1536 - und der darauf folgenden Einführung der Reformation über die Bühne gingen:[26] Die Dominikanerinquisitoren traten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Erscheinung; vielmehr wurden die Verfahren im Namen des Kapitels von einem Lausanner Augustinerchorherren und dem Kastellan von Dommartin geleitet. Dieser musste sich im übrigen im Oktober 1524, stellvertretend für das Kapitel, vor dem letzten Lausanner Bischof Sebastian von Montfaucon wegen Amtsmissbrauchs in Hexereiangelegenheiten verantworten, rund drei Wochen vor dem ersten Prozess! Deutlicher konnte sich der Zerfall der bisherigen Ordnung kaum niederschlagen.

Ausblick

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Nach dem Erscheinen der gewichtigen Quellenbände mit den ältesten theoretischen Texten zum Hexensabbat [27] und den Quellen zur Geschichte der Waldenser von Freiburg im Uechtland [28] ist uns rasch klar geworden, dass wir noch nicht am Ende unserer Mühen angelangt sind. Als erstes ist das Thesenprojekt zu Ende zu führen, das Martine Ostorero inzwischen begonnen hat: die Edition und Kommentierung von weiteren wichtigen theoretischen Texten zum Hexensabbat, die in den Jahren 1440-1480 in der nachmaligen Schweiz, Frankreich, Italien und Deutschland entstanden sind (insbesondere Traktate von Jean Vinet, Nicolas Jacquier, Pierre Mamoris und Jean Vincent), eine Art Fortsetzung des Imaginaire du sabbat. Weiter hat sich gezeigt, dass das bischöfliche Wallis, obwohl hier nie Häresieprozesse geführt worden sind und dem Inquisitor aus dem Lausanner Dominikanerkonvent der Zugang konsequent verwehrt wurde, eine ausgesprochen reiche Hexenprozesstradition (beginnend mit dem Ende 14. Jahrhundert) aufweist, die nach bewährter Manier in gut kommentierten Editionen aufgearbeitet werden sollte, eine Arbeit, die Chantal Ammann-Doubliez übernommen hat. Trotz der Arbeiten von Strobino oder Chantal und Hans-Robert Ammann bleibt hier noch fast alles zu tun.

<15>
Ein weiteres Projekt von Kathrin Utz Tremp widmet sich den Übergängen von der Häresie zur Hexerei nicht mehr in Kurzzeitstudien wie bisher [29], sondern in einer "longue durée": von der Sekte der Katharer in Südfrankreich im 13. Jahrhundert bis zu derjenigen der Hexer und Hexen in der Westschweiz im 15. Jahrhundert. Dabei geht es vornehmlich um das häretische Substrat, das häretische Erbe der Hexensekte, das hier herausgearbeitet werden soll, einmal nicht in einer Quellenedition, sondern in einer Synthese, in einem allerdings stark quellenorientierten Buch, das nicht zuletzt auch die frühneuzeitlichen Hexenforscher an die mittelalterlichen Wurzeln des Phänomens heranführen soll. Und schließlich bleiben noch die restlichen Hexenprozesse des Registers Ac 29 des Waadtländer Staatsarchivs und weitere einschlägige Quellenstücke aus der Westschweiz des 15. Jahrhundert zu edieren und zu kommentieren, eine Arbeit, die wir in gemeinsamer Anstrengung [30] bewältigen wollen. Dazu soll an der Geschichte der westschweizerischen Inquisition weiterarbeitet werden, die erst in skizzenhafter Form vorliegt.[31] Für all diese Projekte hat uns der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung seine finanzielle Unterstützung für zwei (bis drei) Jahre zugesagt.

Anmerkungen

[1]Joseph Hansen: Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexenwahns und der Hexenverfolgung im Mittelalter, Hildesheim 1963 (reprografischer Nachdruck der Ausgabe Bonn 1901); siehe auch Norman Cohn: Europe's inner demons. An enquiry inspired by the great witch-hunt, London 1993 (1975) sowie Richard Kieckhefer: European witch trials: their foundations in popular and learned culture, 1300-1500, London 1976.
[2]Carlo Ginzburg: Storia notturna. Una decifrazione del sabba, Turin 1989 (deutsche Übersetzung: Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte, Berlin 1990; französische Übersetzung: Le sabbat des sorcières, Paris 1992).
[3]Andreas Blauert: Frühe Hexenverfolgungen. Ketzer-, Zauberei- und Hexenprozesse des 15. Jahrhunderts, Hamburg 1989 (Sozialgeschichtliche Bibliothek bei Junius).
[4]Archives cantonales vaudoises, Ac 29.
[5]Bernard Andenmatten / Kathrin Utz Tremp: De l'hérésie à la sorcellerie: l'inquisiteur Ulric de Torrenté OP (vers 1420-1445) et l'affermissement de l'inquisition en Suisse romande, in: Revue d'histoire ecclésiastique suisse 86 (1992), 69-119; inzwischen neue Vita Ulrichs von Torrenté von Bernard Andenmatten in: Helvetia Sacra IV/5 (1999), 447f.
[6]In chronologischer Reihenfolge des Erscheinens: Pierre-Han Choffat: La Sorcellerie comme exutoire. Tensions et conflits locaux: Dommartin 1524-1528, Lausanne, 1989 (Cahiers lausannois d'histoire médiévale 1); Martine Ostorero: "Folâtrer avec les démons". Sabbat et chasse aux sorciers à Vevey (1448), Lausanne 1995 (Cahiers lausannois d'histoire médiévale 15); Eva Maier: Trente ans avec le diable. Une nouvelle chasse aux sorciers sur la Riviera lémanique (1477-1484), Lausanne 1996 (Cahiers lausannois d'histoire médiévale 17); Laurence Pfister: L'enfer sur terre. Sorcellerie à Dommartin (1498), Lausanne 1997 (Cahiers lausannois d'histoire médiévale 20) und Georg Modestin: Le diable chez l'évêque. Chasse aux sorciers dans le diocèse de Lausanne (vers 1460), Lausanne 1999 (Cahiers lausannois d'histoire médiévale 25).
[7]Kathrin Utz Tremp (Hg.): Quellen zur Geschichte der Waldenser von Freiburg im Uechtland (1399-1439), Hannover 2000 (Monumenta Germaniae Historica. Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 18) (mit bibliographischer Angabe weiterer Titel der Autorin zum Thema 276f.).
[8]Dies.: Waldenser, Wiedergänger, Hexen und Rebellen. Biographien zu den Waldenserprozessen von Freiburg im Uechtland (1399 und 1430), Freiburg 1999 (Freiburger Geschichtsblätter, Sonderband).
[9]Kathrin Utz Tremp: Ist Glaubenssache Frauensache? Zu den Anfängen der Hexenverfolgungen in Freiburg (um 1440), in: Freiburger Geschichtsblätter 72 (1995), 9-50.
[10]Eva Maier / Martine Ostorero / Kathrin Utz Tremp: Le pouvoir de l'inquisition, in: Les pays romands au Moyen Age, éd. par Agostino Paravicini Bagliani et al., Lausanne 1997, 247-258.
[11]Kathrin Utz Tremp: Ist Glaubenssache Frauensache?
[12]Catherine Chène / Martine Ostorero: Démonologie et misogynie. L'émergence d'un discours spécifique sur la femme dans l'élaboration doctrinale du sabbat au XVe siècle, in : Les femmes dans la société européenne. 8e Congrès des Historiennes suisses, éd. par A.-L. Head-König et L. Mottu-Weber, Genève 2000, 171-196.
[13]Pierrette Paravy: A propos de la genèse médiévale des chasses aux sorcières: le traité de Claude Tholosan, juge dauphinois (vers 1436), in: Mélanges de l'Ecole française de Rome. Moyen Age/Temps Modernes 91 (1979), 332-379; deutsche Übersetzung in: Andreas Blauert (Hg.): Ketzer, Zauberer, Hexen. Die europäischen Hexenverfolgungen, Frankfurt a. M. 1990, 118-159.
[14]Martine Ostorero / Agostino Paravicini Bagliani / Kathrin Utz Tremp (Hg.) (in Zusammenarbeit mit Catherine Chène): L'imaginaire du sabbat. Edition critique des textes les plus anciens (1430 c.-1440 c.), Lausanne 1999 (Cahiers lausannois d'histoire médiévale 26).
[15]Arno Borst: Anfänge des Hexenwahns in den Alpen, in: ders.: Barbaren, Ketzer und Artisten. Welten des Mittelalters, München-Zürich 1988, 262-286.
[16]Martine Ostorero : Ponce Feugeyron et les Errores Gazariorum: itinéraire d'un inquisiteur", in: Studi medievali, im Druck.
[17]Chantal Ammann-Doubliez, La première chasse aux sorciers en Valais (1428-1436?), in: L'imaginaire du sabbat, 63-100.
[18]Eva Maier, Martine Ostorero, Kathrin Utz Tremp: Le pouvoir de l'inquisition,
[19]Martine Ostorero: Folâtrer avec les démons 281-282.
[20]Georg Modestin: Der Teufel in der Landschaft. Zur Politik der Hexenverfolgungen im heutigen Kanton Freiburg von 1440 bis 1470, in: Freiburger Geschichtsblätter 76 (1999), 81-122.
[21]Ders.: Des Bischofs letzte Tage. Georg von Saluzzo und die Hexenverfolgung im Fürstbistum Lausanne (1458-1461). Vortrag an der internationalen Tagung Hexenverfolgung und Herrschaftspraxis (Wittlich, 11.-13. Okt. 2001), erscheint im Tagungsband.
[22]Ders.: Wozu braucht man Hexen? Herrschaft und Verfolgungen in Châtel-Saint-Denis (1444-1465), in: Freiburger Geschichtsblätter 77 (2000), 107-129 und ders.: Text als Repressionsinstrument. Zur Funktionalität der im Waadtländer Staatsarchiv aufbewahrten spätmittelalterlichen Hexenprozessakten. Vortrag am internationalen Kongress Text als Realie des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Krems an der Donau, 3.-6. Okt. 2000), erscheint im Tagungsband.
[23]Ders.: Der Teufel in der Landschaft, 81-122.
[24]Maier: Trente ans avec le diable.
[25]Pfister : L'enfer sur terre.
[26]Choffat : La Sorcellerie comme exutoire.
[27]Ostorero / Paravicini Bagliani / Utz Tremp: L'imaginaire du sabbat.
[28]Utz Tremp: Quellen zur Geschichte der Waldenser, mit bibliographischer Angabe weiterer Titel der Autorin zum Thema 276f.
[29]Andenmatten / Utz Tremp: De l'hérésie à la sorcellerie, 69-119; Paravicini / Utz Tremp / Ostorero: Le sabbat dans les Alpes. Les prémices médiévales de la chasse aux sorcières, Utz Tremp: Ist Glaubenssache Frauensache?
[30]Es handelt sich um Chantal Ammann-Doubliez, Georg Modestin, Martine Ostorero und Kathrin Utz Tremp.
[31]Eva Maier / Martine Ostorero / Kathrin Utz Tremp: Le pouvoir de l'inquisition.

Empfohlene Zitierweise:

Georg Modestin / Kathrin Utz Tremp: Zur spätmittelalterlichen Hexenverfolgung in der heutigen Westschweiz. Ein Forschungsbericht, in: zeitenblicke 1 (2002), Nr. 1 [08.07.2002], URL: <http://www.zeitenblicke.historicum.net/2002/01/modestin/modestin.html>

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