Stephan Kraft
Literarisiertes Leben und gelebte Literatur - Interferenzen von Autobiographie, Briefkultur und galantem Roman um 1700
Der Beitrag untersucht Interferenzen von Literatur und Leben in höfischen Selbstzeugnissen um 1700. Am Beispiel einer autobiographischen Schlüsselerzählung von Aurora von Königsmarck wird zum einen gezeigt, wie die eigene Lebensgeschichte literarisch überformt in einer typischen galanten Erzählung dargeboten wird. An einem zweiten Beispiel, dem Briefwechsel zwischen Sophie Dorothea von Hannover und Graf Philipp von Königsmarck, lässt sich zum anderen erkennen, dass eben diese literarischen Muster aus dem Bereich der Galanterie wiederum Vorbilder für ganz reale Lebensentwürfe werden konnten. Der galante Diskurs um 1700 erweist sich als ein Diskurs, der der Verwischung der Grenzen zwischen Literatur und Leben Vorschub leistet. Dabei verstärken sich die selbstreflexiven Züge des frühneuzeitlichen Rollen-Ichs, was einerseits Handlungsspielräume neu eröffnet, andererseits von den Diskursteilnehmern eine komplexere Form von Fremd- und Selbstbeobachtung erfordert und sich deshalb als riskant erweist.
"Die 'Wirkliche Welt'?: ist, in Wahrheit, nur die Karikatur unsrer Großn Romane!" (Arno Schmidt)
<1> "Ehe und bevor hube Antiochus Epiphanes/ dieses hörend/ an/ solches geschieht/ muß ich zur nachricht melden/ daß ich ehmahlen diese Schrifft in der Diana Tempel in Dacien gefunden/ und selbige einer von den heiligen Jungfrauen aus ihrem Cabinet wieder ihren Willen entwendet/ die diese ihre Liebes-Geschicht unter verdeckten Nahmen dergestalt der Nach-Welt hat wollen kund machen [...]." [1]
So wird die "Geschichte der Solane" (zur Edition) [2] eingeleitet, eine Binnenerzählung im vierten Band der zweiten Fassung des spätbarocken höfischen Romans "Die Römische Octavia" von Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel. Im Rahmen der Romanfiktion ist die hierauf folgende Geschichte selbst, die einem Kranken zur Unterhaltung vorgetragen wird, also bereits als eine schriftlich fixierte, autobiographische Schlüsselerzählung angekündigt, und um eine solche handelt es sich auch in der historischen Wirklichkeit [3]. Verfasst wurde sie nicht vom Romanautor selbst, sondern von einer guten Freundin Anton Ulrichs, der auch ansonsten mit literarischen Werken hervorgetretenen Gräfin Maria Aurora von Königsmarck [4]. Sie hielt sich zum Zeitpunkt der Niederschrift zwar nicht in einem Dianatempel in Dacien auf, doch immerhin im Reichsstift Quedlinburg, wo sie die Stelle einer Pröbstin innehatte. Auch die Behauptung, dass das Manuskript der Verfasserin entwendet und gegen ihren Willen an die Öffentlichkeit gelangt sei, ist kaum für wahr zu nehmen - eine solche Fiktion stellt bei weiblicher Autorschaft im 17. und 18. Jahrhundert einen gern gebrauchten Topos dar.
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Trotz der Verschlüsselung und der Integration in einen Romankontext kann man hier durchaus noch von einem Selbstzeugnis im engeren Sinne sprechen, heißt es doch in der eingangs zitierten Einleitung ganz deutlich, die Verfasserin habe "diese ihre Liebes-Geschicht unter verdeckten Nahmen dergestalt der Nach-Welt [...] wollen kund machen". Die Liebesgeschichte, auf die sich die Gräfin hier bezieht, ist die Nacherzählung ihres Verhältnisses mit August dem Starken von Sachsen, dessen Mätresse sie in den Jahren 1694 bis 1696 war. Einander näher gekommen sind die beiden während der Festlichkeiten des Dresdner Karnevals.
<3> Im Mittelpunkt der Schilderung dieses Dresdner Karnevals, auf die ich hier meine Überlegungen konzentrieren will [5], stehen die Kostümbälle, die von den Hauptfiguren der Erzählung Solane (Aurora von Königsmarck) und Orondates (August der Starke) für ein vielschichtiges galantes Verkleidungsspiel genutzt werden. Dies beginnt gleich auf dem ersten Ball: Solane verkleidet sich, wohl ohne etwas Besonderes damit zu beabsichtigen, als Griechin (vgl. Römische Octavia IVb, 615f.). Orondates tritt ihr daraufhin ebenfalls als Grieche verkleidet entgegen und überreicht ihr in Anspielung auf das Parisurteil einen Apfel, nutzt also ihre Verkleidung zu einer ebenso galanten wie eleganten Huldigung.
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Beim folgenden Maskenball gelingt es Orondates noch einmal, Solane zu überrumpeln:
"Man brachte ihr das [von Orondates] bestellete Kleid/ womit sie sich ankleiden ließ/ als eine Sclavin in gantz weisse Seiden/ mit einer güldenen Kette geschlossen/ auf deren Arm-Bänder zwey doppelte O mit Diamanten versetzet waren/ an statt der Schlösser/ welche den Nahmen Orondates nicht undeutlich vorstelleten." (Römische Octavia IVb, 620)
Orondates selbst tritt dazu passend als ein weißgekleideter Bräutigam auf. Die beiden Verkleidungen sind besonders in ihrer Kombination voller erotischer Anspielungen. Das Verfängliche an der Situation wird von Solane auch sofort bemerkt:
"Solane wurde beschämet unter der Maske/ wol vorhersehend/ diese Gleichförmigkeit der Kleidung würde einen Argwohn nach sich ziehen/ absonderlich da Orondates sie zum Tantz aufforderte/ und denselben Abend beständig bey ihr blieb/ zuletzt aber ihr die Ketten ablösete/ welche er mit sich nach Hause nahm." (Römische Octavia IVb, 621)
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Auf dem nächsten Fest übernimmt nun Solane selbst die Initiative, indem sie durch einen Kostümtausch mit ihrer Schwester bei Orondates für Verwirrung sorgt und ihn auch so weit täuschen kann, dass er die beiden verwechselt: Solane selbst tritt dabei als Pyramide verkleidet auf. Das vordergründige Ziel scheint die Abwehr und Täuschung des Liebhabers durch ein Verbergen der Körperformen und des Gesichts zu sein; gleichzeitig aber überreicht ihm Solane eine vergoldete Binde, mit der sie auf die Verletzung anspielt, die sich der Fürst zugezogen hatte, als er in der Nacht zuvor durch ein Fenster in ihr Zimmer eingestiegen ist. Es liegt hier also eine durchaus subtile Kombination von offenen Abwehrsignalen und heimlichen Zeichen des Einverständnisses vor (vgl. Römische Octavia IVb, 625). Schließlich verkleidet sich Solane später noch als Mann, um Orondates heimlich folgen zu können und dadurch seine Aufrichtigkeit und Beständigkeit zu prüfen (vgl. Römische Octavia IVb, 628f.). Hierbei gerät sie in ziemlich gefährliche Situationen und wird in ihrer Verkleidung sogar festgenommen.
<6> Die beiden Partner in diesem Spiel versuchen, die Situation des Verkleidens im Karneval auf raffinierte Weise zu ihrem jeweiligen Vorteil und gemäß ihren jeweiligen Zielen zu nutzen, und entwickeln dabei so etwas wie einen kleinen 'Kostümcode'. Was bei einem genaueren Blick auf ihre Interaktion sichtbar wird, ist in der Tat der typische Verlauf einer galanten Verführung mit den Stationen erste Werbung, vorläufige scheinbare Abwehr und Prüfung der Beständigkeit des Geliebten, der hier auf der neuen, ad hoc gebildeten Zeichenebene des 'Kostümcodes' durchgespielt wird. Vergleichen ließe sich dieser 'Kostümcode' eventuell mit anderen höfischen nonverbalen Zeichensystemen, etwa mit der allerdings viel stärker konventionalisierten Fächersprache. Die Interaktion schreibt sich damit geradezu perfekt in den galanten Diskurs ein, nicht nur weil in ihrem Zentrum ein galantes Liebesabenteuer steht, sondern auch, weil sich die Teilnehmer des Spiels durch ihr sowohl formvollendetes als auch geschmeidiges Anpassen an die jeweilige Situation und deren geistreiche, 'witzige' Nutzbarmachung für ihre Ziele als ideale Mitglieder der galanten Welt präsentieren. Vor allem Orondates als Verführer ist ein vollendeter 'homme galant'.
<7> Gleichzeitig drängt sich angesichts der extremen Stilisierung der Beschreibung die Vermutung auf, dass es sich bei dieser explizit als autobiographisch angekündigten Erzählung, aus der hier nur ein ganz kurzer Ausschnitt exemplarisch vorgestellt werden konnte, weniger um eine 'echte' Beschreibung von tatsächlich Vorgefallenem handelt, als vielmehr in erster Linie um einen literarischen Text, der eigenen Gesetzlichkeiten gehorcht - hier konkret: um eine galante Liebeserzählung mit ihren weitgehend genormten Verlaufsmustern. Dabei ist der Rahmen - also der Dresdener Karneval als wichtige Station in der Entwicklung der Liebesbeziehung zwischen Aurora und August - durchaus historisch verbürgt. Die Darstellung selbst ist jedoch so weit typisiert und literarisch durchgeformt, dass der Quellenwert - wenn es denn das Ziel der Analyse sein soll, herauszufinden, was die beiden wirklich getan haben und auch was die Erzählerin Aurora dabei gefühlt und gedacht hat - ein äußerst problematischer ist. Zum Teil lässt sich auch ganz konkret nachweisen, dass Aussagen Auroras nicht der Wahrheit entsprechen. So wird versucht, das Verhältnis zwischen Solane und Orondates als ein eher platonisches darzustellen. Solane ist zwischen Freundschaft und Liebe hin- und hergerissen und muss sich der verliebten Nachstellungen von Orondates erwehren. Ob sie sich ihm schließlich 'hingibt', wird die gesamte Erzählung hindurch geschickt in der Schwebe gehalten. Tatsächlich jedoch hatte Aurora einen Sohn von August dem Starken, den späteren französischen Marschall Moritz von Sachsen [6].
<8> Fragt man ein literarisch überformtes Selbstzeugnis nach dem Selbst selbst, das sich in ihm äußert, stößt man praktisch immer auf das doppelte Problem, das an diesem Beispiel skizzenhaft vorgeführt wurde. Zum einen lässt sich zeigen, dass praktisch jedes Selbstzeugnis in hohem Maße diskursiv gebunden ist. Im konkreten Fall lässt sich der zentrale Diskurs, der die Grundlage liefert, relativ einfach als der galante festmachen. Bei literarisch überformten Texten kann man zum anderen meist an Gattungen gebundene Textkonventionen und -strategien nachweisen. Auch im vorliegenden Fall lässt sich zeigen, dass die Erzählung immanenten narrativen Gesetzen folgt und damit eine Eigendynamik entwickelt, die sie von der zugrunde liegenden Faktenwirklichkeit emanzipiert. Dass dies dem Quellenwert der Erzählung sowohl auf der Faktenebene als auch bei der Frage nach einer sich ausdrückenden Subjektivität durchaus abträglich ist, liegt auf der Hand.
<9> Es kann natürlich trotzdem in hohem Maße interessant sein, den Unterschieden zwischen Faktenwirklichkeit und narrativer Umsetzung nachzugehen, wenn dies aufgrund weiterer Quellen möglich ist. Gerade die Differenzen zwischen Realität und Fiktion können bei einem literarischen Selbstentwurf den Blick dafür schärfen, worauf es bei der Konstruktion dieses Selbst angekommen ist - was dabei so wichtig oder problematisch war, dass es 'angepasst' werden musste. Die Germanistik hat dies in den letzten Jahren etwa am Beispiel der "Italienischen Reise" Goethes in extenso durchexerziert [7].
<10> Dort wie hier, in der Beschreibung einer Italienreise wie in einer galanten Liebeserzählung, zeigt sich jedoch - und darauf kommt es mir vor allem an - , dass literarische Texte sich immer schon vor allem auf andere Texte und auf Texttraditionen beziehen, und dass diese Bindung durchaus stärker sein kann als die an die faktische Wirklichkeit. Auf vergleichbare Probleme, wenn sie auch wahrscheinlich meist nicht so offensichtlich sind, trifft man natürlich auch bei nichtliterarischen Texten. Inwieweit Texttraditionen hier reglementierend wirken, wäre jeweils im Einzelfall zu prüfen. Dass sie auch hier von Bedeutung sind und dass man sie bei der Interpretation beachten muss, scheint mir nicht zu bezweifeln. - So weit, so bekannt, möchte man sagen, aber das Verhältnis von literarischer Tradition und historischer Wirklichkeit lässt sich gerade im literarischen Feld um 1700 durchaus auch noch von einer anderen, vielleicht noch interessanteren Seite her angehen.
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Im Jahre 1694 sorgte ein Skandal an der Residenz des Kurfürsten Ernst August von Hannover für Gesprächsstoff an den Höfen Europas [8]. Die Kurprinzessin Sophie Dorothea wurde wegen eines Fluchtversuchs festgenommen, und gleichzeitig verschwand Graf Philipp Christoph von Königsmarck, der Bruder Auroras, der sich zuletzt am Hof in Hannover aufgehalten hatte, spurlos. Von offizieller Seite wurde ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen abgestritten. Die 1682 geschlossene Ehe zwischen Sophie Dorothea und dem Kurprinzen Georg Ludwig, dem nachmaligen König Georg I. von England, verlief unglücklich. Georg Ludwig hielt sich eine Mätresse und vernachlässigte seine Frau, und Sophie Dorothea begann ab etwa 1690 ein geheim gehaltenes Verhältnis mit dem Grafen Königsmarck. Mehrfach versuchte sie vergeblich, ihre Scheidung von Georg Ludwig durchzusetzen. Im Sommer 1694 schließlich plante sie die Flucht zusammen mit Königsmarck und ihrer Hofdame Eleonore von dem Knesebeck, die entweder nach Wolfenbüttel zu Herzog Anton Ulrich oder nach Kursachsen führen sollte, wo der Graf eine Offiziersstelle innehatte. Dies war der Augenblick, in dem der Kurfürst Ernst August eingriff: Graf Königsmarck wurde heimlich ermordet und seine Leiche in die Leine geworfen; Sophie Dorothea und die Knesebeck wurden verhaftet und verhört. Die Prinzessin wurde später wegen böswilligen Verlassens von ihrem Ehemann geschieden und für den Rest ihres Lebens bis 1726 (also insgesamt 32 Jahre lang) in Ahlden in der Lüneburger Heide festgesetzt.
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Die Geschichte klingt wie ein Stück Literatur - im Ganzen, aber auch in den Details: Die Verliebten verabreden etwa nächtliche Stelldicheins bei einem Jagdschlösschen im Wald, bei denen sie sich anhand von gepfiffenen Erkennungsmelodien zu erkennen geben. Graf Königsmarck wird dabei einmal beinahe entdeckt und irrt stundenlang durch den Wald, bis er schließlich doch sein Pferd wiederfindet [9]. Tatsächlich wird die Geschichte der beiden in der Folgezeit und durchgehend bis in unsere Gegenwart in einer langen Reihe von Romanen (und gelegentlich auch Dramen) verschlüsselt oder auch mit Namensnennung nacherzählt [10], so dass die 'Prinzessin von Ahlden', so der geläufige Name Sophie Dorotheas in der Literatur, selbst in Elisabeth Frenzels bekanntes Kompendium über "Stoffe der Weltliteratur" [11] mit einem längeren Eintrag eingegangen ist.
<13> Schon Graf Königsmarck war sich der Affinität der von ihm selbst erlebten Geschichte zu einer Romanhandlung durchaus bewusst. Am 3. Juli 1693 schreibt er seiner Geliebten:
"Cela resamble bien un romang et en le racontemps, bien de jans ne vous croirong pas". (All das gleicht sehr einem Roman, und wenn man es erzählte, würden einem viele nicht glauben.) [12]
Und nicht nur an dieser Stelle scheint das Gefühl der beiden durch, schon vor der Überführung ihrer Geschichte in Literatur Protagonisten einer Romanhandlung zu sein: In den meist verschlüsselten und mit sympathetischer Tinte geschriebenen Briefen, die die beiden wechseln, treten die Personen, über die gesprochen wird, fast durchgehend unter Decknamen auf. Viele dieser Namen sind sprechend: Eleonore von dem Knesebeck erhält die Chiffre "Confidente" (die Vertraute), Sophie Dorotheas offenbar nicht immer gut gelaunter Vater Herzog Georg Wilhelm von Celle-Lüneburg, den Namen "Grondeur" (der Grummler) [13].
<14> Die Namen jedoch, die die beiden im Laufe der Zeit sich selbst oder sich gegenseitig geben, sind in der Regel sogar fiktionalen Texten entnommen - vor allem zeitgenössischen Romanen und Opern. So nennt Königsmarck seine Geliebte seit Ende 1692 bevorzugt "Leonisse", ein Name, den er nach eigenen Angaben der "Histoire de Jean de Bourbon, prince de Carency" von Marie Catherine LeJumel de Barneville d'Aulnoy, einem beliebten französischen Roman der Epoche entnommen hat [14]. Die Bezeichnung Königsmarcks als "Tircis" stammt aus der Oper "Les Festes de l'Amour et de Bacchus" von Lully und Quinault, und die Prinzessin heißt Hermione nach der Oper "Cadmus et Hermione", ebenfalls von Lully und Quinault [15]. Auch die gegenseitige Benennung als "chevalier" und "petite louche" geht nach Andeutungen aus dem Briefwechsel auf einen - allerdings bisher nicht identifizierten - Roman zurück, in dem im Übrigen wohl auch schon der gemeinsame Fluchtversuch der unglücklich Liebenden fiktiv vorgebildet ist [16].
<15> Im Laufe des Briefwechsels rekurrieren die beiden auch in anderer Form auf literarische Vorbilder: Sehr oft werden Liebesarien aus vorzugsweise italienischen Opern zitiert, die die beiden in Hannover gesehen haben [17]. Und auch teils selbstverfasste, teils zitierte Liebesgedichte finden sich in den Briefen, in denen sich die beiden mit weiteren fiktiven, meist aus der Schäferpoesie und der petrarkistischen Tradition entnommenen Namen belegen. Insgesamt stehen die Briefe in ihrem Ton, ihrer Metaphorik und in ihren bildhaften Vergleichen deutlich in einer petrarkistischen Tradition, die in der galanten Dichtung um 1700 durchaus noch lebendig war [18].
<16> Dass die Handlung dieser sogenannten 'Königsmarck-Affäre' auf uns wirkt wie ein Stück Literatur, hat also, wie die Beispiele zeigen, letztlich auch damit zu tun, dass die Handlungen der Protagonisten bereits auf Literatur bezogen sind. So wie die "Geschichte der Solane" ein literarisiertes Leben darstellt, so handelt es sich bei der Königsmarck-Affäre zumindest auch um gelebte Literatur. Damit soll nicht angezweifelt werden, dass die beiden ein ganz reales Liebesverhältnis miteinander hatten, aber was und wie sie sich in ihren Briefen geschrieben haben, die Form ihrer nächtlichen Stelldicheins, der Fluchtplan, all das ist Teil der Romane, Opern und Gedichte, auf die in den Briefen angespielt wird - literarische Texte, die die Grundmuster liefern für das reale Verhalten der beiden, das dann ohne große Änderungen wieder in Literatur überführt werden konnte.
<17> Worauf ich mit meinen beiden kleinen Geschichten um die Geschwister Königsmarck hinweisen wollte, ist das eigentümliche Phänomen, dass sich nicht nur literarische Texte auf andere literarische Texte beziehen, sondern gelegentlich auch ganz reale Lebensentwürfe. Wenn ein literarischer Text nicht nur ein reales Leben nachstellt - wie gebrochen auch immer -, sondern dieses überhaupt erst generiert und formt, gelangt man zu einem eigentümlichen Rückkopplungseffekt, der die Trennung von Leben und Literatur, von Fakten und Fiktion noch problematischer macht, als es bereits nach dem ersten Argumentationsschritt schien und der vor allem das Verhältnis von Vorbild und Abbild, von Zeichen und Bezeichnetem, das gerade bei Selbstzeugnissen auf den ersten Blick so klar erscheint, nachhaltig durcheinander bringt.
<18> Besonders aus dem späteren 18. Jahrhundert kennt man die Klage, das Lesen von Romanen verderbe die jungen Frauen und mache sie für das wirkliche Leben untauglich. Ihren Namen hat diese Tendenz zur Verwechslung von Fiktion und Faktenwirklichkeit durch einen Roman aus dem 19. Jahrhundert erhalten, durch Gustave Flauberts "Madame Bovary" - den Bovarysmus [19]. Deutliche Tendenzen zu einer solchen systematischen Aufweichung der Grenze zwischen Literatur und Leben gab es, wie nicht nur die Geschichten um die Geschwister Königsmarck zeigen, jedoch auch schon in der galanten Zeit um 1700. Das Besondere an dieser Zeit ist, dass in ihr eine solche Vermischung keinesfalls immer als eine pathologische Erscheinung aufgefasst wurde, wie es im späteren Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts dann die Regel werden sollte.
<19> Kaum einer der vielen Briefsteller aus dieser Zeit versäumt es, auf den Vorbildcharakter vor allem der galanten Briefe hinzuweisen, die sich so zahlreich in zeitgenössischen Liebesromanen abgedruckt finden. Christian Friedrich Hunold, ein Verfasser sowohl von galanten Romanen als auch von Briefstellern und Verhaltenslehren, druckt häufig Briefe seiner Romanfiguren in seinen Briefstellern ab und empfiehlt in seinen Verhaltenslehren auch die in den Romanen gepflegten "Conversationen" und "Complimenten" als Vorbilder. [20] Ganz unriskant ist dies nicht, denn im Rahmen der Galanteriebewegung ist die Grenze zwischen wahr und falsch, zwischen echt und unecht eine ziemlich durchlässige - eine bewusste Selbstinszenierung, die zur Verstellung tendiert, wird nicht unbedingt als anrüchig empfunden [21], zumal von Teilnehmern am galanten Diskurs geradezu erwartet wird, den Inszenierungscharakter des vom Gegenüber Dargebotenen immer mitzubedenken.
<20> Die logische Falle, in die man geraten kann, wenn die Welt weitgehend zur (literarischen) Inszenierung wird, hat Benjamin Neukirch in seiner "Anweisung zu Teutschen Briefen" einmal auf den Punkt gebracht:
"Galante liebes-briefe sind schreiben/ welche man mit frauenzimmer wechselt/ und in welchen man entweder eine liebe simulieret; oder eine wahrhafftige so schertzhafft und galant fürbringet/ daß sie die lesende Person für eine verstellte halten muß." [22]
Schwierig wird es also vor allem dann, wenn man in die Verlegenheit kommt, eine wahre Liebe gestehen zu wollen. Für eine solche Form von Offenheit ist zumindest in der Theorie des galanten Briefs kein Platz [23]. Das Spiel wird hier so dominant, dass für ein 'Echt' kaum mehr Raum bleibt.
<21> Unter diesen Voraussetzungen ist plötzlich gar nicht mehr so sicher, dass die galante Erzählung Auroras, nur weil sie literarischen Mustern folgt, nur wenig mit der zugrunde liegenden Wirklichkeit zu tun hat, denn vielleicht haben die beiden Protagonisten ihr Verhalten auch schon in der Realität an dem Muster einer galanten Erzählung ausgerichtet. Dies ist umso eher möglich, als die Geschichte im Karneval stattfindet, einem Raum des Spiels, der solchen fiktional-faktischen Mischformen, solchen bewussten Inszenierungen durchaus entgegenkommt. Und genauso schillernd und uneindeutig ist die Verpackung, in der die Geschichte der Öffentlichkeit präsentiert wird: eine angeblich gegen den Willen der Verfasserin veröffentlichte verschlüsselte Autobiographie im Rahmen eines Romans.
<22> Die Geschichte von Sophie Dorothea und Graf Königsmarck dagegen ist insofern die Geschichte eines Missverständnisses, als die beiden vergessen haben, sich bei der Übertragung der Fiktion auf die Realität des eigenen Lebens den Inszenierungscharakter immer bewusst zu halten. Wie später auch Madame Bovary, die ja letztlich immer noch denselben Typ von Roman konsumiert, tappten sie in die Falle des galanten Diskurses. Die Katastrophe, in der ihr Leben endete, fußt im Kern auf einem diskursiven Betriebsunfall. Eine wichtige Funktion des galanten Diskurses bestand ja darin, durch eine (Teil-)Fiktionalisierung von Gefühlen leichter über sie kommunizieren zu können - dass eine solche Fiktionalisierung auch leicht zu Übersteigerungen führen konnte, die bei einer einfachen Rückübersetzung in die Lebenswelt gefährlich zu werden drohten, wurde hier vergessen.
<23> Um 1700 wird durch die Galanteriebewegung und die damit verbundene Ausbreitung der Privatklugheitslehren [24], die das Prinzip der politischen Klugheit zu popularisieren suchen, ein neues Emergenzniveau in der Frage nach dem Ich erreicht. Wird dieses in der Frühen Neuzeit in erster Linie als Rolle oder als Kombination verschiedener gesellschaftlicher Rollen begriffen, tritt hier nun auch außerhalb der im engeren Sinne politischen Sphäre verstärkt das Bewusstsein über das eigene Rollenhandeln und auch über die Manipulationsmöglichkeiten hinzu, die mit einem bewussten Rollenhandeln verbunden sind. Durch diesen Eintritt in das Stadium der Reflexivität ist jedoch das ältere Konzept vom Ich auf Dauer von den Beteiligten immer schwerer zu handhaben, die Fußangeln werden zahlreicher.
<24> Vielleicht - und das sei hier als eine These in den Raum gestellt, die wesentlich komplexere historische Entwicklungen radikal vereinfacht [25] - gerät man mit diesem Grad an Selbstreflexivität bereits in die Nähe des Umschlagpunkts, an dem ein Weitermachen mit der dominanten frühneuzeitlichen Auffassung des Ichs als variabler Rolle nicht mehr möglich ist. Und tatsächlich wird dieses 'ältere Ich' im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts durch ein Konzept ersetzt, das sowohl in der Selbstbeobachtung als auch im sozialen Miteinander wieder einen festeren Halt und eine einfachere Orientierung verspricht, durch das 'Ich' im emphatischen Sinne.
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