Jens Bove
Die Schule des Sehens und die Transformation
kunsthistorischer Lehre unter digitalen Bedingungen
Genauso, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die
Auswirkungen von
Fotografie und Lichtbildprojektion auf die Methodik des Faches
Kunstgeschichte gestritten wurde, geschieht dies heute im Hinblick
auf die digitale Lehre. Im Rahmen des Projektes "Schule des
Sehens"
wird erprobt, wie netzbasierte kunsthistorische Lernmodule
überhaupt aussehen können, wie Texte und Bilder mediengerecht
aufgearbeitet, Kommunikationsstrukturen einbezogen werden können
und die Vermittlung von Fachwissen und kritischer Medienkompetenz verbunden
werden können. Nur wenn das Internet nicht nur als Lern-, sondern
auch als Partizipations- und Sozialisationsraum begriffen wird,
kann ein aktiver Austausch von Wissen gewährleistet werden.
<1> Digitale Bedingungen? Was soll das eigentlich heißen? Das
Wort "digital" bedeutet, Informationen in Ziffern darzustellen, in
Nullen und Einsen; Strom an oder Strom aus. Digitale Information steht für
Genauigkeit und für einfache Reproduzierbarkeit, ihre Inhalte stehen im Geruch
der technischen Determiniertheit und der Beliebigkeit - einerseits. Andererseits
werden hohe Erwartungen an digitale Informationsverarbeitung geknüpft:
Ortsunabhängigkeit, bessere, effizientere Vermittlung von Wissen in ungeahnter
Quantität und ganz neuer Qualität. Dies alles sind Implikationen, die mir im
Grunde nicht spezifisch zu sein scheinen für die neuen Medien, treffen sie doch
oft ebenso auf ihre analogen Vorgänger zu. So sind im Zuge der Einführung der
fotografischen Reproduktion und Projektion in den kunstgeschichtlichen
Unterricht vor hundert Jahren letztlich genau die gleichen Argumente vorgebracht
worden. 1906 sei die "Zeit, in der einzelne Gelehrte Jahrzehnte lang
mühsame Reisen ausführten und sich Kollationen und Abschriften in
umständlicher Weise von diesem und jenem zusammenbettelten oder kauften, um
endlich ein ungleichwertiges und technisch ungleichmäßig zubereitetes Material
für eine verhältnismäßig kleine Arbeit zu besitzen, die Postkutschenzeit
wissenschaftlicher Materialsammlung" endgültig vorbei. [1]
<2> Gerade diese vertraute, sich immer wieder aktualisierende Rhetorik der
Verfechter und Kritiker legt Fotografie und Kinematografie als schlüssigen
Ausgangspunkt für die Betrachtung des Verhältnisses aktueller technischer
Medien und kunsthistorischer Lehre nahe. Den Kritikern der vorletzten
Jahrhundertwende, für die der Einsatz der Lichtbildprojektion als Medium
lärmenden Jahrmarktrummels mit dem Humboldtschen Bildungsideal einfach nicht
vereinbar war, entsprechen gegenwärtig gar nicht so wenige Bedenkenträger, die
sich nicht vorstellen können, dass ein seriöser Austausch von Wissen, der nur
einen Mausklick von Profanem wie "Teen-Sex" und "ebay"
entfernt ist, überhaupt denkbar ist; die sich auch nicht vorstellen können,
dass die dauerhafte Dignität des Buchwissens durch verzeitlichte Information
flüchtiger Hypertexte adäquat ergänzt werden kann. [2]
<3> Den Pionieren und Förderern kunstgeschichtlicher Dokumentarfotografie und
ihrer Anwendung in der Lehre, etwa Bruno Meyer oder Herman Grimm, sehen sich
dagegen vielleicht einige derjenigen verbunden, die es für unabdingbar halten,
dass die Bibliotheken ihrer Institute - als Nekropolen immer schon vergangener
Bildungsinhalte - durch die Aktualität und Dynamik eines globalen
Wissensreservoirs vervollständigt werden. Die immense Bedeutung der Fotografie
für die Konstituierung unseres Faches hat Heinrich Dilly bereits Ende der
siebziger Jahre untersucht. [3] Dass die universitäre Kunstgeschichte durch die
Fotografie überhaupt erst möglich geworden ist, ließe sich einfach
begründen. Welche Auswirkungen das Internet auf eine seit langem etablierte
Form des Unterrichts, seine bewährte Methodik und auf einen mehr oder weniger
fest abgesteckten inhaltlichen Kanon haben wird, ist heute noch nicht
vorauszusagen.
<4> Zwar hat die Betonung einer Koinzidenz von technischer Innovation und
gesellschaftlichem Wandel Konjunktur, doch während bildungsbürgerliche
Lesezirkel und Salons fast nur noch in Form intellektueller Talkrunden im
Nachtprogramm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens existieren, haben in
kunstgeschichtlichen Seminaren, Vorlesungen und Institutsbibliotheken die
bewährten Verfahren der Aneignung und Reproduktion fachlicher Inhalte in den
letzten Jahrzehnten kaum eine signifikante Änderung erfahren.
<5> In der bildungspolitischen Konzeption des Bundesministeriums für Bildung und
Forschung nimmt die Lern- und Lehrzukunft an Hochschulen dagegen Formen an, die
vehement auf die Nutzung neuer Medien im Unterricht zielen:
"Die westlichen Industriestaaten befinden sich im Umbruch von
Industriegesellschaften hin zu Informations- und Kommunikationsgesellschaften
oder Wissensgesellschaften. Die damit verbundenen tiefgreifenden Veränderungen
und Gestaltungspotenziale betreffen nahezu alle Lebensbereiche. Der
Bildungsbereich ist durch diesen Wandel zugleich betroffen und gefordert. Es
ändern sich nicht nur die inhaltlichen und strukturellen Anforderungen an die
Aus- und Weiterbildung, vielmehr bieten die Neuen Medien auch neue
Möglichkeiten für die Aufbereitung des Wissens, seiner Präsentation sowie der
Gestaltung der Vermittlungsprozesse in der Lehre. Selbstlernen und betreutes
Lernen werden mit Hilfe der Neuen Medien eine tiefgreifende Umgestaltung
erfahren. Die digitale Aufbereitung von Wissen gewinnt an Bedeutung und neue
Formen von Wissensvermittlungsprozessen bilden sich heraus. Die Vision des
selbst bestimmten, ortsunabhängigen Lernens bekommt neue Impulse: Die modernen
Informations- und Kommunikationstechniken eröffnen neuartige Aus-, Fort- und
Weiterbildungsmöglichkeiten, die ein eigenverantwortliches und
selbst organisiertes individuelles Lernen und ein Einstellen auf
unterschiedliche, sich rasch wandelnde berufliche Anforderungen ermöglichen.
Netzbasiertes Lernen bricht die Strukturen herkömmlicher Lehrangebote auf und
verbindet inhaltlich und organisatorisch stärker als bisher berufliche
Erstausbildung und spätere Weiterbildung". [4]
<6>
Mit dem Erlös aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzen hat das Ministerium
vor zwei .Jahren das Förderprogramm "Neue Medien in der
Bildung" aufgelegt, aus dem im kunstgeschichtlichen Bereich
zwei Projekte gefördert werden. Das eine nennt sich "Prometheus
- Das verteilte digitale Bildarchiv für Forschung und Lehre", das andere "Schule
des Sehens - Neue Medien der Kunstgeschichte". Während
sich Prometheus vor allem auf die Verbesserung der Logistik unseres
Faches konzentriert, indem es heterogene Datenbestände zentral
abfragbar machen will, richtet sich die Schule des Sehens nicht primär
auf die Bereitstellung einer Materialbasis, sondern unmittelbar auf
die Vermittlung kunsthistorischer Inhalte:
<7>
"Die Schule des Sehens bietet Interessierten kunstgeschichtliche
Lehrveranstaltungen und Studieneinheiten unterschiedlichen Umfangs
und Schwierigkeitsgrads. Sie soll ein Ort des gemeinschaftlichen
Lernens werden, der geschichtliche Erfahrung vermittelt und zu kritischem
Umgang mit Bildern befähigt." So heißt es knapp auf
der Homepage der "Schule des
Sehens". Im Projektantrag wird genauer
erläutert, dass "im Zuge der Einführung einer neuen
Kombination von Präsenzlehre, betreutem Selbst- und kontrolliertem
Fernstudium unter Mitwirkung des Lehrstuhls für Empirische
Pädagogik und pädagogische Psychologie der Universität
München netzbasierte multimediale kunstgeschichtliche Studieneinheiten
im Umfang von 30 Semesterwochenstunden produziert werden sollen.
Das entspricht etwa 50% der Pflichtveranstaltungen eines Haupt-,
75% eines Bachelor- oder 100% eines Nebenfachstudiums. Die meisten
Veranstaltungen sollen in zwei Formen (Präsenzstudium /
Selbststudium / Fernstudium) sowie
für jeweils zwei Bereiche (Grundstudium /
Hauptstudium / Weiterbildung)
pädagogisch gestaltet werden, um eine gute Kosten-Nutzen-Relation
zu erreichen."
<8>
Gesetzt haben sich dieses sehr ehrgeizige Ziel die kunsthistorischen
Institute der Freien Universität Berlin, der Technischen Universität
Dresden, der Universität Hamburg und der Ludwig-Maximilians-Universität
München unter der Leitung des kunstgeschichtlichen Instituts
der Philipps-Universität Marburg.
Mit welchen Inhalten die Schule des Sehens debütieren will,
stand relativ schnell fest: Berlin produziert eine 'Einführung
in die Buchmalerei' und überführt das 'Funkkolleg Kunst'
in eine aktualisierte, digitale Form, Dresden bietet 'Spanische
Kunst' und 'Mittelalterliche Kunsttechniken' an, Hamburg eine 'Einführung
in die politische Ikonographie' und in das 'Reliquienwesen im Mittelalter',
Marburg eine 'Einführung in die antike Mythologie' und eine
'Einführung in die Filmanalyse' und in München werden
Lehreinheiten zur 'Architektur der Renaissance und des Barock' sowie
zur 'Deutschen und Französischen Malerei im 19. Jahrhundert'
erstellt.
<9>
Die Ziele schienen klar abgesteckt, aber mit welchen Mitteln sollte
man sie erreichen? Medienpädagogische Erfahrungen lagen vor allem
bei den etablierten Institutionen des Fernunterrichts vor, etwa der
britischen Open University oder der Fernuniversität Hagen. Obwohl
diese Modelle noch der analogen Welt angehören, sollten besonders
qualitätsvolle und erfolgreiche Modelle exemplarisch aktualisiert
und für die neue Lehr- und Lernumgebung des Internet multimedial
aufbereitet werden. Ein solches Modell ist das Funkkolleg Kunst, das
zu den anerkannten Basistexten unseres Faches zählt und in Buchform
seit 15 Jahren erfolgreich verkauft wird. Mit acht Semesterwochenstunden
stellt die aus den aktualisierten Texten von 28 Autoren zusammenzustellende
Lehreinheit "Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen"
die inhaltliche Basis der "Schule des Sehens" dar. Gedacht ist dabei
nicht an eine einfache Überführung der digitalisierten Texte
der Rundfunkausstrahlung und ihres in begleitenden Lerngruppen, etwa
in Form von Volkshochschulkursen, erprobten didaktischen Konzepts
in eine Online-Fassung, sondern an eine Adaption der unter konventionellen
Bedingungen erstellten Einheiten an die Gegebenheiten netzbasierten
Lernens. Da hier sowohl die Inhalte als auch das methodische Vorgehen
weitgehend festgelegt sind, stellt die Adaption des Funkkollegs vor
allem ein Mengenproblem dar.
<10>
Dagegen sehen sich die Autoren der gänzlich neu zu erstellenden
Lehreinheiten in erster Linie mit der Frage konfrontiert, wie netzbasierte
kunstwissenschaftliche Lernmodule überhaupt aussehen können
und sollen. Entsprechend unterschiedlich sind die ersten Realisierungsansätze
der einzelnen Partner ausgefallen, von denen zur Zeit sechs im Internet
eingesehen werden können.
<11>
Obwohl die Hypertextstruktur des Internets lediglich als Weiterentwicklung
textualer Darstellung verstanden werden kann, hat sich anfangs für
viele Produzenten vor allem die traditionelle Textfixierung universitärer
Forschung und Lehre als erhebliche Hürde erwiesen. Die Wissensvermittlung
mittels assoziativer, nicht linearer Strukturen musste von den meisten
erst erlernt werden. Hinzu kamen die zunächst geringe Kenntnis
der technischen Möglichkeiten einerseits und die mangelnden
finanziellen Spielräume für extravagante Lösungen
andererseits. Nicht umsonst wird kontinuierlich an einer Werkstatt
mit technischen Musterlösungen und an ausführlichen Produktionsanleitungen
für HTML-Seiten, Java-Scripts und Flash-Animationen gearbeitet.
Die Ausbildung und Selbstausbildung der Ausbilder nehmen zwangsläufig
ein großes Maß der Arbeitskapazität in Anspruch.
<12>
Methodische Schwierigkeiten bereitet insbesondere der weitgehend
ungewohnte, medial bedingte Zwang zur Parzellierung und Strukturierung
von Information und die detaillierte Gliederung der weiterzugebenden
Information, die stetige Revision und Selbstvergewisserung über
die eigenen Ziele verlangen.
Im Idealfall wird davon ausgegangen, dass der Inhalt einer Lektion,
dem zeitlichen Äquivalent einer Seminarsitzung, zunächst in
wenigen Sätzen zusammengefasst wird und dann die konkreten
Lernziele der einzelnen Schritte definiert werden. Die inhaltlichen
Blöcke werden von vertiefenden Exkursen flankiert, von Möglichkeiten
der Selbstkontrolle durch die Studierenden begleitet und durch abschließende
Übungen oder Arbeitsaufgaben repetiert.
<13>
Wie ungewohnt diese additiven Strukturen sind, zeigt eine gerade
bei den Autoren zu beobachtende Tendenz, die sich in überdurchschnittlichem
Maße auf die skizzierte Strukturierung der Inhalte eingelassen
haben: Das Bestreben, die in einzelne Bausteine zerlegten Informationen
nachträglich zu sequentialisieren. Obwohl diese Inhalte am
ehesten in einer Baumstruktur, deren Äste explorativ geöffnet
und geschlossen werden können, darstellbar sind, in der Regel
auch so dargestellt werden, ist stets ein Button zum linearen Weiterblättern
vorhanden, der offenbar sicherstellen soll, dass alle Inhalte in
der gewünschten Reihenfolge konsumiert werden. Die assoziative
Aneignung ist zwar möglich, wird aber durch die vorgesehene
Benutzerführung praktisch weitgehend eingeschränkt.
<14>
Will man die vorliegenden Konzepte beim derzeitigen Stand der Entwicklung
in zwei wesentliche Gruppen unterteilen, so zeichnen sich die beschriebenen,
verstärkt mit hypertextuellen Strukturen arbeitenden Ansätze
meist gleichzeitig dadurch aus, dass sich die interaktiven Komponenten
auf die nicht kontrollierte und nicht kommentierte Anfertigung von
Antworten durch die Lernenden beschränken, die diese dann mit
vorgefertigten Musterantworten vergleichen können. Hinzu kommen
bei einigen Lektionen auch Formen des - zum Teil sehr ausgefeilten
- Selbsttests durch unterschiedliche Arten von Multiple-Choice-Aufgaben,
die der Selbstkontrolle der Lernenden dienen. Als eigentlich zu
erbringende Prüfungsleistung muss eine Abschlussaufgabe in
Form einer konventionellen Hausarbeit erbracht werden, die vom Seminarleiter
korrigiert wird.
<15>
Eine zweite Gruppe von Lehreinheiten stellt - grob vereinfachend
gesprochen - die kommunikativen Aspekte des Mediums in den Vordergrund.
Sie legt weit weniger Wert auf die Binnengliederung ihrer Texte,
sondern stellt das jeweilige Sitzungsthema in einem kompakten Einführungstext
dar, der konsequent auch als ausdruckbares Word-Dokument angeboten
wird.
<16>
Die Texte sind insofern unvollständig, als sie nicht primär
vorgefertigtes Wissen vermitteln wollen, sondern eher in ein Szenario
für wöchentliche Aufgaben einführen. Unterstützend
werden unkommentierte Text- und Bildquellen bereitgestellt, deren
abschließende Bearbeitung und Interpretation durch die Studierenden
zunächst in Einzelarbeit vorbereitet werden muss. Vorläufige
Ergebnisse und Lösungsansätze sollen dem Dozenten wie
den Kommilitonen in den jeweiligen Internet-Foren zur Einsichtnahme
bereitgestellt werden. Anschließend sollen diese Einzelergebnisse
in Gruppenarbeit kommentiert, revidiert und zu einer gemeinsamen,
im Dialog erarbeiteten Lösung synthetisiert werden.
<17>
Das Verfahren verlangt von den Studierenden einerseits Hemmungen
zu überwinden, Unfertiges und Fragmentarisches zu teilen, und
fordert andererseits von allen Beteiligten einen nicht gering einzuschätzenden
Zeitaufwand, da es voraussetzt, sich fast täglich auf dem Laufenden
zu halten. Entsprechend ist ein solches Online-Seminar von Studenten
wie von Dozenten als sehr viel zeitaufwändiger als konventionelle
Lehrveranstaltungen beurteilt worden, gleichzeitig aber als sehr
viel produktiver und intensiver, nicht zuletzt weil es durch ständige
gegenseitige Kontrollierbarkeit die stille Teilhaberschaft an konventionellen
Gruppenreferaten nicht zulässt.
<18>
Die jüngsten Entwicklungen der Lehr- und Lerneinheiten der
Schule des Sehens deuten auf eine weitere Annäherung beider
Modelle hin. Auch die Nutzung der mit den Projektmitteln realisierbaren
Visualisierungsmöglichkeiten wird ständig verbessert,
so dass das selbst gesteckte Ziel der Schule des Sehens, den Beweis
anzutreten, dass das Internet in Zukunft zu einem maßgeblichen
Ort der Bildung und der Weiterbildung werden kann, langsam in greifbare
Nähe zu rücken scheint.
<19>
Aber obwohl einige Veranstaltungen bereits die Reife erlangt haben,
die es erlaubt, sie wenigstens partiell und probehalber in der Lehre
einzusetzen, eine Lehreinheit bereits mit gutem Erfolg evaluiert
worden ist, sollten auch bestimmte Restriktionen Erwähnung
finden, die sich die Schule des Sehens a priori gesetzt hat: Einerseits
die Heranziehung besonders etablierter, in kunstgeschichtlicher
Didaktik erfahrener Dozenten, die den sonst bei Pilotprojekten fast
unausweichlichen Anfangsvorwurf mangelnder fachlicher Qualität
gar nicht erst aufkommen lässt, dafür aber zu einer gewissermaßen
freiwilligen Beschränkung auf bewährte, traditionelle
Themen und Forschungsansätze des Faches führt. Andererseits
die in diesem Anfangsstadium sicher notwendige, allerdings kaum
hinterfragte Beibehaltung der klassischen hierarchischen Strukturen
der Wissensvermittlung von Lehrer zu Schüler, die wohl vor
allem der curricularen Einordbarkeit und der damit verbundenen Akzeptanz
der neuen Vermittlungsformen geschuldet ist, gleichzeitig aber bewirkt,
dass Interaktion nur innerhalb fest umrissener Grenzen erfolgen
kann.
<20>
Im Sinne einer Bilanzierung der bisherigen Ergebnisse und Erfahrungen
ist zu fragen, inwieweit der Einsatz neuer Medien zu einer digitalisierten
Kunstgeschichte führt, die die analogen Arbeitsweisen in effizientere
digitale überführen will, und unter welchen Voraussetzungen
von einer digitalen Kunstgeschichte gesprochen werden kann, die
durch Integration digitaler Medien in die Lage versetzt wird, sowohl
neue Themenfelder zu erschließen als auch neue Wege im kunstwissenschaftlichen
Erkenntnisprozess zu beschreiten. [5]
<21>
In bezug auf die Schule des Sehens ist festzuhalten, dass sie vor
allem als Experimentierfeld betrachtet werden muss. Man würde
weit über das Ziel hinaus schießen, erwartete man am Projektende
(Ende 2003) die mustergültige Lösung für netzbasiertes
Lernen in der Kunstgeschichte. Um Perspektiven oder gar Richtlinien
für die zukünftige kunstgeschichtliche Lehre formulieren
zu können, muss zunächst ein fundiertes und tragfähiges
Wissen darüber erworben werden, wie Computermedien und digitale
Bilder im Lernprozess wirken und wie diese zum Zweck des Lernens
und Lehrens genutzt werden und können. Dieser Prozess hat allerdings
gerade erst begonnen.
<22>
Zweifelsfrei fest steht jedoch, dass Medienkompetenz längst
zu einer der Schlüsselkompetenzen in den modernen Gesellschaften
geworden ist, in denen zukünftig Formen der Wissensarbeit dominieren
werden. Dies gilt in zweifacher Hinsicht: Studierenden wie Lehrenden
ist - auch im Sinne eines ökonomisch verwertbaren Outputs,
den das Konzept des Bildungsministeriums anstrebt - die Kompetenz
zu vermitteln, die vorhandene Infrastruktur - seien es Literatur-
und Bilddatenbanken, Mailing-Listen oder E-Learning-Angebote - effizient
für den eigenen Bedarf nutzen zu können. Über diese
mehr technischen Fähigkeiten hinaus berührt Medienkompetenz
aber auch die zentralen Anliegen unseres Faches: Die Analyse und
Interpretation kultureller und künstlerischer Produktion, die
auch in den vermeintlich alten Medien wie Buch- und Zeitungsproduktion,
Radio oder Fernsehen - längst von digitalen Produktionsabläufen
bestimmt wird. Angesichts der zunehmenden Dominanz - vor allem digital
erzeugter - visueller Medien wird der Kunstgeschichte als Rückgrat
einer sich formierenden "Bildwissenschaft" besondere Relevanz
zukommen, sofern sie das Überschreiten disziplinärer Grenzen
nicht nur ausnahmsweise toleriert, sondern aktiv fördert und
mitgestaltet. Die Wirkungsweise von Bildmedien, von alten und neuen,
wird zwangsläufig im Zentrum geisteswissenschaftlicher Forschung
stehen müssen.
<23>
Will die Kunstgeschichte ihren Status als zentrale geisteswissenschaftliche
Disziplin behalten, kann sie nicht darauf vertrauen, ihre bewährten
analogen Arbeitsweisen durch die Digitalisierung ihrer Arbeitsmittel
zu beschleunigen, sondern muss die durch ihre neuen Vermittlungsmedien
angeregten und manchmal auch erzwungenen Inhalte letztlich in den
Kanon ihrer Themen integrieren.
Nachdem in der Schule des Sehens mögliche Strukturen Web-basierter
Wissensvermittlung vor allem anhand klassischer Themen erprobt werden,
müssen und werden neue und neueste Genres wie Film, Fotografie,
Video und die verschiedenen Formen elektronischer, digitaler oder
virtueller Kunst zum Gegenstand der neuen Lehr- und Lernszenarien.
Nicht zuletzt, weil eine adäquate Vermittlung dieser Genres
unter den Bedingungen konventioneller Medien der Kunstgeschichte,
insbesondere der traditionellen Doppelprojektion von Diapositiven,
kaum gewährleistet werden kann.
<24>
Neue Formen und Aspekte der Visualisierung und Strukturierung von
Wissen sollen aber nicht nur als Vorbedingung des Umgangs mit neuen
Bildmedien betrachtet werden, sondern ermöglichen neben den
heute schon klassischen Bild-, Literatur-, Ikonographiedatenbanken
im Idealfall eine neuartige Sichtweise auf kunstwissenschaftliche
Forschungsgegenstände und definieren den Umgang mit unserem
kulturellen Erbe vollkommen neu, beispielsweise wenn nicht mehr
zugängliche Kunst- und Bauwerke durch Simulationssoftware dreidimensional
und multimedial wieder begehbar und erfahrbar gemacht werden.
<25>
Soll sich in den medialen Räumen einer Schule des Sehens eine
neue Bildungspraxis entwickeln, so muss sich die Kunstgeschichte
nicht nur auf ihre technischen Herausforderungen einlassen, sondern
auch auf ihre sozialen. In Analogie zur Organisationsstruktur des
Internet muss sich in den kommenden Jahren eine sich zunehmend selbst
organisierende wissenschaftliche Gemeinschaft der Kunstgeschichte
herausbilden, die Benutzerinteraktionen nicht nur als zusätzlichen
Bestandteil der Wissenserzeugung zulässt, sondern diese zu
einer Grundlage der Wissensorganisation und -verteilung macht. Während
die traditionelle kunstgeschichtliche Lehre dazu neigt, ihre Studenten
- überspitzt formuliert -, zu Einzelkämpfern auszubilden,
die sich schwer tun, unpublizierte Erkenntnisse preiszugeben, verlangt
die Kommunikationsstruktur der Foren und Chatrooms im World Wide
Web - das nicht nur als Lern- sondern auch als Partizipations- und
Sozialisationsraum zu begreifen ist - den aktiven Austausch von
Wissen. [6]
<26>
An neue Formen kunstgeschichtlicher Wissens- und Informationsorganisation
werden also hohe Anforderungen gestellt: Vernetzte Wissensangebote
sollen das selbst organisierte Lernen fördern, sollen den Schritt
belehrt werden zum Lernen ermöglichen, sollen Lehrende in Lernbegleiter
oder Moderatoren verwandeln oder sollen die Motivation zum kontextuellen
Lernen steigern - aus pädagogischer Sicht alles Forderungen
oder Erwartungen, die in ähnlicher Form lange vor den technischen
Möglichkeiten der neuen Medien diskutiert worden sind, die
sich zum Teil bis zurück zur beginnenden Verbreitung fotografischer
Reproduktion von Kunstwerken verfolgen lassen.
<27>
Während sich die vor 100 Jahren in die Lehre eingeführte
Lichtbildprojektion, anfangs schlicht als optisches Hilfsmittel
gedacht, mit der Zeit in den Prozess kunstwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung
eingeschlichen und nachhaltig auf Forschungsthemen und -methoden
gewirkt hat [7],
ist noch nicht ganz klar, ob die 'Postkutschenzeit wissenschaftlicher
Materialsammlung' bereits ein zweites Mal und mit ähnlichen
Auswirkungen zuende gegangen ist.
Gegenwärtig noch nicht mit Sicherheit sagen lässt sich
allerdings, ob der sich gerade vollziehende Medienwechsel am Ende
lediglich zu neuen Darreichungsformen traditioneller Inhalte führt
- alter Wein in neuen Schläuchen -, oder ob mit den neuen Medien
auch neue Gegenstände in das Zentrum des Faches treten, ob
sich anstelle der gewohnten Seminar- und Vorlesungssituationen wirklich
neue und andere Lehr- und Lernpraktiken mit neuen Intensitätsgraden
herausbilden werden, ob also die zweifellos vorhandenen Möglichkeiten
wirklich ausgeschöpft werden.
<28>
Ganz sicher sind aber zwei Dinge. Erstens: Die Entwicklung und Bereitstellung
neuer, kooperativer Lehr- und Lerneinheiten mit entsprechenden Ansätzen
zur Zertifizierung ist nicht wirtschaftlich, jedenfalls nicht sofort.
Sie erfordert zunächst vor allem ein gehöriges Maß
an bildungspolitischer, personeller und technologischer 'Aufrüstung'
seitens der an solchen Programmen beteiligten Institute. Die Aufbereitung
der Kursmaterialien, die Wartung der technischen Infrastruktur und
so weiter wird im Sinne einer Effizienz- und Flexibilitätssteigerung
universitärer Lehre erst dann rentabel, wenn es gelingt, geeignete
Distributionsmodelle zu etablieren und die Bindung an die produzierenden
Institute und Autoren tatsächlich zu überwinden. Zweitens:
Mögliche Transformationen der kunstgeschichtlichen Lehre deuten
sich gerade erst an. Überlegungen zur Verbesserung der Didaktik,
zur Emanzipation der Studierenden von den Lehrenden, die Gestaltung
des ortsunabhängigen Zugriffs auf das Lehr- und Anschauungsmaterial
des Faches, die Entwicklung von Standards für wissenschaftliche
Abbildungen und Texte, die Fragen des Urheberrechtes und des Copyrights
und so weiter werden uns daher noch viele Jahre beschäftigen. |