Hubertus Kohle
Interview mit Lutz Heusinger
Professor für Informatik in der Kunstgeschichte und Leiter des Bildarchiv Foto Marburg
<1> Nachdem die Neuen Medien in der Kunstgeschichte lange Zeit ein Schattendasein
geführt haben, scheint sich das seit einigen Jahren zu ändern. Womit hängt
das wohl zusammen?
Wenn Sie unter ‚Neuen Medien’ kunstgeschichtliche Materialsammlungen,
Publikationen und Dienste in digitaler Form verstehen, liegt die Antwort auf der
Hand: Es brauchte einfach Zeit, die Technik und die Inhalte soweit zu entwickeln
und zu verbreiten, dass sich ihre Nutzung wenigstens in Teilbereichen auch
lohnt.
<2> Sie haben in Marburg sehr früh mit elektronisch basierter Dokumentation von
Kunstwerk-Reproduktionen angefangen. Welches war die Ausgangsüberlegung dabei?
Das Bildarchiv Foto Marburg betreut eine der großen, wenn nicht die größte
Sammlung fotografischer Aufnahmen (Negative) der abendländischen Kunst,
darunter einige hunderttausend, die physisch nicht mehr existierende oder
einschneidend veränderte Kunst- und Bauwerke wiedergeben. Diese Aufnahmen
gehören zum unersetzlichen europäischen Kulturgut. Sie müssen so effektiv wie
möglich vermittelt werden, damit nicht große Teile unseres kulturellen Erbes
in Vergessenheit geraten. Deshalb war es unsere Pflicht, als digitale
Arbeitsverfahren allmählich neue Vermittlungsperspektiven eröffneten,
diese unverzüglich auszuloten.
Heute stehen Interessierten auf dem Internet-Server
des Bildarchivs 1,5 Millionen der wertvollsten alten kunstgeschichtlichen
Fotografien zur Verfügung. Jeder glückliche Inhaber eines
Internet-Anschlusses kann sie überall auf der Welt ungehindert
und kostenlos in bestmöglicher Qualität konsultieren.
Eine kontinuierlich wachsende Datenbank erleichtert das Suchen.
Derzeit kopieren sich täglich durchschnittlich 650 Interessierte
2.400 Fotografien in höchster Auflösung. Von einer derartigen
Nutzung unserer Bestände hätten wir früher nicht
zu träumen gewagt.
<3> Die Marburger Bilddatenbank basiert bekanntlich auf Ihrem Regelwerk für die
Erfassung kunstgeschichtlicher Sachverhalte MIDAS und dem Datenbankprogramm HIDA
der Firma startext. Neben MIDAS und HIDA haben sich in der Zwischenzeit andere,
weniger komplexe, aber auch leichter zu bedienende Systeme etabliert. Was muss
getan werden, damit MIDAS und HIDA hier Boden gut machen?
Das Regelwerk MIDAS zur Erfassung kunstgeschichtlicher Objekte und
Sachverhalte ist in der aktuellen 4. Auflage ohne Einbußen an Differenzierung
vereinfacht worden. Das Datenbankprogramm HIDA erscheint demnächst - neu
programmiert - in einer aktuellen Standards entsprechenden neuen Version (HIDA 4
CS). Die Firma ZETCOM erweitert ihr leichter zu bedienendes Programm MuseumPlus
auf der Grundlage eines entsprechenden Vertrags mit der Stiftung Preußischer
Kulturbesitz zur Zeit gerade so, dass es in Zukunft auch Dokumente aufnehmen
kann, die nach den Regeln von MIDAS angelegt worden sind und werden. Die 80.000
Objektbeschreibungen der Museen der europäischen Kunst der Stiftung können
also demnächst in zwei verschiedenen Systemen gehalten werden. Dies verbessert
die Verbreitungsmöglichkeiten des Regelwerks MIDAS als Erfassungsstandard noch
einmal erheblich.
Das eigentliche Problem liegt aber weder im Regelwerk noch im
Computerprogramm, sondern in der so massiv vorangetriebenen Verwirtschaftlichung
der Museen. Sie lässt selbst den größten Häusern kaum mehr eine Chance für
die wissenschaftliche Bestandsbearbeitung und gefährdet die Erhaltung des
Kulturguts für kommende Generationen unmittelbar.
<4> Halten Sie geläufige Dokumentationsmuster für Bildende Kunst auch
angesichts der zeitgenössischen Kunst für ausreichend, die ja häufig
flüchtig, kontextbezogen, mehrteilig etc. ist?
Nein. Komplexe, ephemere Produktionen (Happenings, Performances,
Installationen usw.) erfordern andere Verfahren der Dokumentation und
Erschließung als traditionelle, dauerhafte Kunstwerke, Verfahren, wie sie in
zunehmender Perfektion in anderen gesellschaftlichen Bereichen, vor kurzem
beispielsweise bei den Regatten um den America's Cup eingesetzt worden sind oder
im italienischen Fußball-Fernsehen (leider nicht im deutschen) werden. Die
grafisch unterstützte Verdeutlichung oder auch Rekonstruktion von Abläufen in
Verbindung mit bewegten Bildern fasziniert mich und gibt viel zu studieren und
zu erkennen. Die dokumentarisch befriedigende Erschließung des Bild- und
Tonmaterials gehört heute zur Routine guter Fernsehanstalten. Technische und
wissenschaftliche Probleme gibt es also nicht, wohl aber wirtschaftliche und
rechtliche. Dafür ein einziges Beispiel:
Zu den wichtigsten Exponaten der documenta 11 gehörten 74 Stunden Film- und
Fernsehmaterial, das kaum einer der 600.000 Ausstellungsbesucher auch nur zu
einem Fünftel gesehen haben dürfte. Dieses Material hätte für wenig Geld auf
DVDs übertragen und in Ergänzung zu den gedruckten Katalogen der Ausstellung
verkauft werden können. Zu dieser zukunftsweisenden Dokumentation ist es jedoch
nicht gekommen, weil niemand rechtzeitig die erforderlichen Genehmigungen hätte
einholen können. Ein sehr wesentlicher Teil der documenta 11 ist damit für die
Überlieferung verloren und der wissenschaftlichen Bearbeitung ebenso entzogen
wie verbrannte Bilder.
<5> An welchen Stellen besteht Ihrer Meinung nach in der Frage EDV und
Kunstgeschichte zur Zeit besonders dringender Handlungsbedarf?
Im Publikationswesen. Unser gegenwärtiges Publikationssystem funktioniert
bekannter- und zugegebenermaßen seit langem nicht mehr. Ohne
Druckkostenzuschüsse geht so gut wie nichts. Die erscheinenden Bücher können
längst nicht mehr bezahlt und - wegen der schieren Menge - auch längst nicht
mehr gelesen werden. Das System funktioniert also weder wirtschaftlich noch
wissenschaftlich. Deshalb müssen umgehend neue Formen elektronischen
Publizierens in unterschiedlichen Formaten (Newsletter, Zeitschrift, Datenbank,
Diskussionsliste usw.) systematisch erprobt und so ausgebaut werden, dass sie
eine tragfähige Grundlage für ein neues und besseres wissenschaftliches
Honorierungssystem bilden können. Selbstverständlich ist dies eine
Notwendigkeit nicht nur in der Kunstgeschichte, sondern in allen
Buchwissenschaften. Den Universitäten und wissenschaftlichen Gesellschaften
kommt in diesem Prozess eine Schlüsselrolle zu, denn sie können und müssen -
wie in den USA zu studieren - das Publikationswesen und das Honorierungssystem
beeinflussen.
<6> Was wird aus der Kunstgeschichte unter elektronischen Bedingungen? Wird es
eine andere Wissenschaft sein, oder wird sie alte Fragen einfach nur mit
höherer quantitativer Dichte und schneller erledigen?
Computergestützte Arbeitsverfahren und digitale Informationsmittel der
Kunstgeschichte üben keinen nennenswerten Einfluss auf die Disziplin aus. Als
kunstgeschichtliche Bibliotheken und Museen vor 30 Jahren Computer zu nutzen
begannen, hatten sie eine bezaubernde Illusion: Sie glaubten, ein neues
Produktionsmittel könne die Produktionsverhältnisse verändern. Sie hofften,
via Terminals an zentrale Rechner angeschlossene Bibliotheken und Museen würden
zu einer neuen Form interinstitutioneller Zusammenarbeit finden und ein
Zeitalter kostenlosen Datenaustauschs eröffnen. Das Research Library
Information Network der USA mit seiner wirtschaftlich effektiven, verteilten
Katalogisierung ist der Beweis dafür, dass diese Erwartung nicht grundsätzlich
falsch war. In der Kunstgeschichte hat sie sich jedoch - von wenigen Ausnahmen
abgesehen - nicht verwirklicht, so dass die Infrastruktur des Faches
unverändert geblieben ist und auf längere Sicht bleiben wird. Eine fachinterne
Technikfolgenabschätzung ist deshalb nicht von Belang.
<7>
Anders verhält es sich mit der Bedeutung der neuen Medien im üblichen
Wortsinn, des Fernsehens, des Films und der digitalen Bilder aus der
Wissenschaft und Wirtschaft, deren Bearbeitung die Kunstgeschichte, ohne den
Vorgang auch nur zu thematisieren, der Medienwissenschaft überlassen hat. Wir
konzentrieren uns auf die alten Bildgattungen, die Malerei, die Graphik, die
Skulptur, als hätten diese nicht längst ihre ursprüngliche gesellschaftliche
Funktion an die neuen Medien verloren. Wem es um mehr als die ästhetische
Funktion von Bildern geht, der müsste der fortschreitenden Archäologisierung
unseres Faches entgegenwirken und eine Kunstgeschichte betreiben, die wirklich
alle Bilder einbezieht. Die documenta 11 war in dieser Hinsicht eine
vorbildliche und wichtige Ausstellung. Klammert die Kunstgeschichte die heute
relevanten Bilder weiterhin aus, wird sie im 21. Jahrhundert verdientermaßen zu
einem Randgebiet der Kulturwirtschaft und Tourismusindustrie werden.
<8> Konservative Kunsthistoriker erwarten von der Digitalisierung häufig eine
Verflachung traditioneller Forschungs- und Lehrinhalte. Progressive dagegen eine
völlige Neudefinition dessen, was erforscht und gelehrt werden kann. Wie sehen
Sie das?
Beides ist falsch. Traditionelle Forschungs- und Lehrinhalte werden heute
durch die brachiale Verwirtschaftlichung der Kulturwissenschaften gefährdet und
sind am ehesten zu sichern, wenn rationeller und effizienter als bisher, das
heißt mit digitalen Verfahren und Medien gearbeitet wird. Nutzen wir unsere
Computer und digitalen Bildbearbeitungsplätze nur, um unsere alten Diatheken zu
digitalisieren und fortschrittlichstenfalls Videokunst zu betrachten, ändert
dies unsere Forschung und Lehre nicht im geringsten. Eine Neuorientierung
erwarte ich vielmehr allein aus einer Rückbesinnung. Gerade in diesen Tagen
sollten wir uns daran erinnern, wie Aby Warbung, wenngleich scheiternd, 1914 den
Ausbruch des 1. Weltkriegs für sich zu meistern versucht hat: durch textliche
und bildliche Dokumentation und kulturwissenschaftliche Analyse des Geschehens.
Folgen wir seinem Beispiel, werden die digitalen Bilder und Texte des 2.
Golfkriegs zu unserem primären wissenschaftlichen Gegenstand, den wir freilich
mit Computern effektiver als ohne sie bearbeiten können.
<9> Was sollten Studierende in diesem Feld besonders tun, wenn sie sich beruflich
qualifizieren wollen?
Sich nicht auf die Seite der geisteswissenschaftlichen Geisteshünen
schlagen, die sich mit ihrem technischen Unvermögen brüsten, sondern Neugier,
Kompetenz und Spaß auch im Feld digitaler Technik und Angebote entwickeln. Wer
regelmäßig mit einem Handy, einem DVD- oder DAT-Recorder, einem Computer, dem
Internet und Datenbanken umgeht, sich für Gott und die Welt interessiert und
alles einmal ausprobiert, kann in der Universität, im Museum oder in der
Denkmalpflege einfach mehr beitragen als einer, der dies alles nicht tut.
Technische Grundkenntnisse sollten heutzutage ebenso selbstverständlich
erworben werden wie das Seepferdchen oder der Führerschein.
Im übrigen sieht es so aus, als gewännen Studierende mit dem Erwerb der
genannten technischen Kenntnissen nebenbei auch an (heute mitunter schmerzlich
vermisster) sozialer Intelligenz, vielleicht, weil man im digitalen Feld ohne
kollegiale Hilfe nicht weit kommt und deshalb selbst zu helfen lernt.
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