Katja Kwastek
Interaktive Erinnerungsräume: LambdaMOOs und Lernen im CAVE als Erben des Simonides?
Der Cyberspace - im Sinne sowohl von weltweiter
Vernetzung als auch von räumlich simulierten Scheinwelten -
bietet nicht nur Künstlern ein neues Betätigungsfeld,
sondern eröffnet auch neue Perspektiven für die wissenschaftliche
Forschung und Lehre. Schon in der Antike war die Kunst der Memoria
eng mit der räumlichen Vorstellungskraft verbunden. Während
die antiken, mentalen Erinnerungsräume jedoch nur individuelle
Wissenskonstruktionen erlaubten, ermöglicht die digitale Technologie
die Schaffung von virtuellen Kommunikationsräumen. Diese können
nicht nur eine flexible Strukturierung von Wissen erleichtern, sondern
auch zu einer neuen Form des wissenschaftlichen Austauschs führen.
Gerade die Kunstgeschichte, die es primär mit visuell wahrnehmbaren
Gegenständen zu tun hat, muss sich fragen, inwieweit die Darstellung
und Diskussion ihres Forschungsgegenstandes im virtuellen Raum dem
Fach neue Perspektiven eröffnet.
<1> Neben der Berechenbarkeit von Informationen jeglicher Art
ermöglicht das digitale Medium vor allem deren alineare Strukturierung und
interaktive Nutzung. Dies führt zu neuen Formen der Darstellung und Vermittlung
von Wissen, die auch und gerade den Geisteswissenschaften neue Impulse geben
können. Schließlich ist die Strukturierung wissenschaftlicher Informationen
Abbild der im Fach angewandten Methoden und Grundstock neuer methodischer
Ansätze, so dass die Form der Wissensvermittlung und -strukturierung nicht
lediglich eine Frage von Layout oder Rhetorik, sondern einen wichtigen
Bestandteil der Selbstbestimmung eines Faches darstellt [1].
<2>
Vor diesem Hintergrund soll gefragt werden, welche Bedeutung der
Cyberspace für die Darstellung der Kunstgeschichte erlangen
kann. Der Begriff Cyberspace - der kybernetische Raum, eine literarische
Prägung der 80er Jahre - impliziert zweierlei. Während
der erste Teil des Wortes (Cyber) von der Kybernetik herstammt und
auf ein rückkopplungsfähiges, also interaktives Datensystem
verweist, impliziert der zweite Teil eine räumliche Komponente.
Diese kann sowohl den realen, weltweit vernetzten Datenraum als
auch eine räumlich simulierte Scheinwelt, auch 'Virtual Reality'
genannt, bezeichnen. Sowohl die räumliche Darstellung als auch
Vernetzung und Interaktivität sind nicht nur von technischem
oder künstlerischem Interesse, sondern beschäftigen auch
die Pädagogen. Dabei ist das Lernen oder Erinnern durch räumliche
Vorstellung eine sehr alte, das vernetzte, kooperative Lernen eine
relativ neue Errungenschaft. Beide gehen im Cyberspace eine Symbiose
ein, deren Nutzen für die Darstellung kunst- und kulturhistorischer
Inhalte im Folgenden diskutiert werden soll.
<3> Der berühmte griechische Dichter Simonides wurde während eines Festmahls im
Palast des Skopas herausgerufen, da ihn zwei Männer sprechen wollten. Genau in
dem Moment, in dem er vor der Tür war, stürzte das Dach des Festsaals ein und
begrub alle Gäste unter sich. Die Leichen waren bis zur Unkenntlichkeit
entstellt. Simonides aber, der auf so wundersame Weise dem sicheren Tod
entkommen war, konnte aufgrund seines hervorragenden räumlichen
Erinnerungsvermögens genau sagen, welcher Gast wo gesessen habe. Nur durch
seine Hilfe konnten die Opfer identifiziert und ihre Überreste den Angehörigen
übergeben werden [2].
<4> Diese ziemlich makabre und hier stark verkürzt wiedergegebene Legende trug
Simonides den Ruf des Urvaters der Erinnerungskunst zu, die in der Antike als
grundlegender Bestandteil der Rhetorik hohes Ansehen genoss. Schriftlich
überliefert ist die Kunst der Memoria (Mnemonik) erstmals durch einen unbekannten
römischen Autor des ersten Jahrhunderts vor Christus: Nach dem sogenannten Ad
Herennium (86-82 v. Chr.) umfasst das Gedächtnis als Schatzhaus der
Erfindungen und Hüter aller Teile der Rhetorik das natürliche, angeborene
Gedächtnis und das künstliche Gedächtnis, das durch Übung gestärkt werden
könne und dem eben jene Erinnerungskunst galt. Unterschieden wird hier wiederum
zwischen dem Gedächtnis für Dinge (memoria rerum) und dem Gedächtnis für
Wörter (memoria verborum). Die Grundregel zum Erinnern sowohl von Dingen bzw.
Sachverhalten als auch von Wörtern oder ganzen Texten besagt, man solle sich
reale oder fiktive Orte (loci) bzw. ein Ensemble derselben vorstellen, die nicht
zu bevölkert, klar gegliedert, ausreichend beleuchtet und von mittlerer Größe
sein sollten. Die loci mussten somit zwar nicht zwangsweise gebaute Räume sein,
die fortlaufenden Anspielungen auf gebaute Architektur beweisen aber, dass die
Gliederung und Strukturierung der loci im architektonischen Raum als
sinnfälligste Methode angesehen wurde. Für die zu erinnernden Dinge oder
Wörter soll man sich nun Bilder überlegen, Formen, Zeichen oder Abbilder, die
möglichst ungewöhnlich oder beeindruckend sein sollten, sogenannte "imagines
agentes".
Diese Bilder soll man nun im Geiste in den gewählten Lokalitäten anbringen,
natürlich in einer sinnvollen Reihenfolge, die dem zu memorierenden Sachverhalt
entspricht.
<5> Wie man sich die imagines agentes vorzustellen hat wird am Beispiel eines
Verteidigers vor Gericht erläutert, der sich folgende Anklage merken muss: Es
wird behauptet, der Beschuldigte habe einen Menschen vergiftet und als Motiv
für das Verbrechen die Gier nach der Erbschaft angegeben. Zudem habe er
erklärt, dass es für diese Tat viele Zeugen und Mitwisser gebe.
Diese Anklage solle man memorieren, indem man sich den Ermordeten krank im
Bett, den Angeklagten vor dem Bett vorstellt. Letzterer trage einen Becher in
der Hand, der an die Tatsache des Vergiftens erinnere, sowie eine Schreibtafel,
die auf die Erbschaft verweise. Um sich auch den Verweis auf die Zeugen zu
merken, soll man sich nun nicht etwa weitere Menschen am Bett vorstellen,
sondern der Angeklagte solle zudem noch einen Widderhoden halten, da dessen
lateinische Bezeichnung, testiculi, Klangähnlichkeit mit testes (Zeugen) habe.
<6> Die Merkbilder sollten also so ungewöhnlich sein, damit sie möglichst gut
im Gedächtnis bleiben, da der Mensch sich das Ungewöhnliche besser
merkt als
das Gewöhnliche [3]. Im Prinzip haben wir es also mit nichts anderem zu tun als mit
visuellen Eselsbrücken, denn auch diese zeichnen sich ja häufig durch die
besondere Absurdität der Verknüpfung aus.
<7>
Auch Cicero betont in seinem Buch über die Redekunst die Bedeutung
der visuellen Wahrnehmung für das Gedächtnis, denn "der
schärfste von all unseren Sinnen ist [aber] der Gesichtssinn.
Deshalb kann man etwas am leichtesten behalten, wenn das, was man
durch das Gehör oder durch Überlegung aufnimmt, auch noch
durch die Vermittlung der Augen ins Bewusstsein dringt". Schon
Quintilian hingegen ist eher skeptisch. Gerade hinsichtlich des
Wortgedächtnisses spricht er von einer "doppelten Belastung",
da man sich zu den Worten noch die Bilder merken müsse [4].
Er empfiehlt hier eher das visuelle Memorieren des - damals noch
auf Wachstafeln - geschriebenen und gut gegliederten Textes. Dennoch,
auch noch bei den mittelalterlichen Scholastikern ist die räumliche
Erinnerungskunst bekannt und beliebt. Sowohl Albertus Magnus als
auch Thomas von Aquin verteidigen die Erinnerung von Sachverhalten
durch Phantasiebilder, da die sinnhafte Erinnerung die beste und
einfachste sei.
<8>
Die Renaissance hingegen bedeutet allein schon insofern eine Wende
in der Geschichte der Gedächtniskunst, als mit der Erfindung
des Buchdrucks die Kapazität der externen Wissensspeicher zunimmt,
man also für das Abrufen von Informationen neben seinem privaten
Gedächtnisgebäude in verstärktem Maße das der
Bibliothek nutzen kann. Zunehmende Bedeutung erlangt daher die Frage
nach dem Informationsfluss von externen zu internen und damit auch
von kollektiven zu privaten Wissensspeichern, eine Frage, die in
Zeiten der technischen Medien - wie zu zeigen sein wird - noch virulenter
wird [5].
In der Renaissance ist eine Trendwende hin zu Mnemonik-Traktaten
zu verzeichnen, die nicht mehr Techniken der individuellen Wissensspeicherung
beschreiben, sondern bereits inhaltlich auf das zu Speichernde eingehen,
das heisst versuchen, eine Ordnung des inzwischen unüberschaubar
gewordenen Weltwissens zu kreieren. Bekannt ist beispielsweise das
Gedächtnistheater des Giulio Camillo, das als begehbares Modell
tatsächlich gebaut werden sollte. Ausgehend von den sieben
Planeten sollte es in sieben Rängen ansteigen, deren Stufen
die Weltordnung von der Schöpfung der Elemente bis hin zu den
Tätigkeiten des Menschen darstellen. In zahlreichen Bildern,
Symbolen und Texten, teils äußerlich sichtbar, teils in
Schubladen aufbewahrt, sollte hier das Weltwissen gesammelt und
zur Erinnerung aufbereitet werden [6].
<9> Als weitere Beispiele seien der Missionar Matteo Ricci, der die Mnemonik im
16. Jh. den Chinesen vermittelte und imagines agentes für die christliche
Religion als Kupferstiche veröffentlichte, oder Robert Fludd, der ein System
aus Tierkreiszeichen und ihnen zugeordneten Theatern als Memorialgebäude
vorschlug und diese in Skizzen veröffentlichte, erwähnt [7].
<10> Ohne die Geschichte der Erinnerungskunst, ihrer Gegner und Befürworter hier
weiter aufrollen zu wollen, ist festzuhalten, dass wir es mit zwei Modellen der
Erinnerungsräume zu tun haben: Regeln zur Gestaltung von Räumen, mit denen
beliebige Inhalte memoriert werden können - heutzutage würde man von
Content-Management-Systemen sprechen - und ausgearbeitete inhaltliche
Bezugssysteme, die den entsprechenden Content bereits mitliefern.
Vor diesem Hintergrund soll nun zwei Fragen nachgegangen werden:
Welche Bedeutung hat die Mnemonik für die Kunstgeschichte und
inwieweit kann man den Cyberspace als Erbe der Erinnerungsräume
werten und in einem weiteren Schritt nutzen?
<11>
Zunächst einmal kann man die traditionellen Bilder der Kunstgeschichte
unter dem Aspekt der Erinnerungsregeln analysieren, den Einfluss
der Mnemonik-Traktate auf Allegorien und ähnliches untersuchen,
wie es zum Beispiel für die Spanische Kapelle in Florenz und
die Tugenden und Laster von Giottos Scrovegni-Kapelle vorgeschlagen
wurde [8].
Darum soll es hier aber nicht gehen. Es soll hingegen gefragt werden,
ob die Strukturierung von Wissen nach Art der Erinnerungsräume
auch für die Kunstwissenschaft fruchtbar sein kann - stellt
diese doch insofern einen Sonderfall dar, als schon ihr Forschungsgegenstand
primär visuell ist. Es geht nicht um naturgegebene oder abstrakte
Sachverhalte, die mittels der imagines agentes illustriert werden
sollen, sondern um die imagines selbst, die als Medium verschiedenste
Sachverhalte widerspiegeln. Kann man also mit Bildern in Räumen
Wissen über Bilder (und Räume) strukturieren?
<12> Kaum einer wird sich eine visuelle Eselsbrücke ausdenken, um sich ein
existentes Bild zu merken. Dieser Teil der Erinnerungskunst erscheint für die
spezifisch kunsthistorischen Bedürfnisse also ungeeignet, um nicht zu sagen
absurd. Unsere imagines exstieren bereits. Doch wie steht es mit den loci, die
die Kontextualisierung der imagines erlauben, also die Schaffung von
Zusammenhängen innerhalb unserer Bildersammlung? Auch hier ist die
Kunstgeschichte in einer besonderen Situation: So wie die imagines agentes, mit
denen wir uns befassen, bereits materialisiert sind, sind dies auch die Orte, an
denen sie zu sehen sind: die Museen. Jedes Museum versucht, durch die Art der
Hängung Kontexte zu schaffen und ästhetische Schwerpunkte zu setzen. Die
Tatsache, dass wir über das Bild rechts vom Ausgang oder gegenüber
vom Dürer sprechen, zeigt, dass unsere räumliche Erinnerungstechnik auch
heute noch bestens funktioniert. Dennoch hinkt der Vergleich des Museums mit den
Erinnerungsorten der antiken Mnemonik-Traktate in zweierlei Hinsicht: Erstens
ist ein materialisierter Erinnerungsraum kein individueller mehr, die Struktur,
die memoriert werden soll, wird nicht individuell konstruiert, sondern bereits
vorgefunden. Und zweitens ist das Museum beschränkt auf materielle Objekte und
kann abstrakte Zusammenhänge und Kategorien, die in die Gedächtnisräume
problemlos integrierbar sind, nur schwer illustrieren.
Daher ist zu fragen, inwieweit das digitale Medium die Möglichkeit bietet,
sowohl eine flexible Kontextualisierung als auch individuelle Konstruktionen
kunsthistorischen Wissens in der Tradition der antiken Erinnerungsräume zu
gestalten.
Der Cyberspace als Erbe der antiken Erinnerungsräume?
<13>
Den realen Museen am nächsten sind virtuelle Rundgänge
durch existente Museen, wie sie beispielsweise auf der Website des
Louvre angeboten werden. Sie sind im Gegensatz zum realen Museum
nicht ortsgebunden, sind im übrigen aber auf die meist recht
zufälligen Bestände des realen Museums beschränkt
und geben auch die dort praktizierte Hängung wieder.
<14> Einen Schritt weiter gehen die virtuellen Rundgänge durch virtuelle Museen.
Diese bieten hinsichtlich der Kontextualisierung den eigentlichen und nur im
Netz realisierbaren Vorteil, dass sie Bilder zusammenbringen können, die in der
Realität nicht an einem Ort zu finden sind, also neue Kontexte schaffen. So
findet man zum Beispiel auf der CD "Florenz in der Renaissance" [9] Hauptwerke
der Renaissancekunst in einem virtuellen Atrium zusammengestellt.
Rechts steht Donatellos Bronze-David, für den Innenhof des Palazzo Medici gedacht und heute
im Bargello, unter den Arkaden im Hintergrund sieht man die Verkündigung
Leonardos, für eine Kirche in der Umgebung von Florenz geschaffen und heute in
den Uffizien, und links ein Säulenfragment, das auf Brunelleschis Bautätigkeit
verweist. Es zeigt sich deutlich die Problematik solcher Simulationen in der
Kunstgeschichte. Durch den - auch stilistisch - realistischen Eindruck des
Ensembles prägt sich das Gesamtbild zwar ein, es besteht aber die große
Gefahr, dass es als Abbildung einer realen Situation memoriert wird und damit
ein Kontextualisierung entsteht, die absolut ahistorisch und den Einzelwerken
nicht angemessen ist.
<15> Dem gegenübergestellt sei ein Werk des australischen Medienkünstlers
Jeffrey Shaw. In seiner interaktiven Installation "Virtual Museum"
[10] versucht er, das Wesen der bildkünstlerischen Gattungen
(Malerei, Bildhauerei, Film und digitale Medien) in einem computergenerierten
Raumensemble zu visualisieren. Er geht dabei metaphorisch vor, schafft imagines
agentes für kunsthistorische Gattungsbezeichnungen.
So sieht man in dem Raum, der die Malerei verkörpern soll, eine Reihe
gleich großer Bilderrahmen, in
denen der nicht endende Satz durchläuft: "Something that appears to be like
nothing can take the place of something that appears to be like nothing can take
the place of [...]" - ein subtiler Kommentar zum Problem der Mimesis.
Shaws Werk ist ein Beispiel dafür, wie ein Raumgefüge als Strukturmetapher
dienen kann, mit dessen Hilfe - in diesem Falle recht abstrakte, kategoriale -
Sachverhalte dargestellt werden können.
Eine Steigerung der Virtualität erfahren digitale Räume durch die stärkere
Einbeziehung des Betrachters, sei es durch interaktive oder durch immersive
Techniken.
<16> Hinsichtlich der Immersion, der Einbeziehung des Betrachters in den Bildraum,
kann man zwischen modellhaften und illusionistischen Installationen
unterscheiden. Shaws Virtual Museum ist ein Beispiel für erstere: Hier
sitzt der Betrachter auf einem Bürostuhl in einem Raum, der auf einem vor ihm
stehenden Bildschirm nochmals zu sehen ist - inklusive des Stuhles, der so zum
Stellvertreter des Betrachters im virtuellen Raum wird, zumal die Bewegung des
realen Sessels auch die Perspektive auf den virtuellen Raum verändert. Ähnlich
arbeitet das Memory Theater VR von Agnes Hegedüs, bei dem die Navigation
über die Bewegung eines Gegenstandes in einem dreidimensionalen Modell des
virtuellen Theaters geschieht [11].
<17> Technisch avancierter sind illusionistische virtuelle Räume, die mit dem
Head Mounted Display oder im CAVE betrachtet werden können [12]. Der CAVE wird für
die Visualisierung technischer Entwicklungen, zum Beispiel im Automobilbau, für die
Simulation aufwändiger Projekte (etwa der Stadtplanung), aber auch für
künstlerische Projekte genutzt. Institute wie das Electronic Visualization
Laboratory in Chicago und das Ars Electronica Future Lab im österreichischen
Linz fördern aber auch künstlerische Arbeiten für den CAVE. Für unser Thema
sind zwei Installationen besonders interessant, die man im Linzer Ars
Electronica Center erleben kann, das Multi Mega Book und Mitologies.
Das Multi Mega Book wird von seinen Produzenten (Franz Fishnaller und Yesi
Maharaj Singh von der italienischen Medienagentur FABRICATORS, in Zusammenarbeit
mit dem Electronic Visualization Laboratory in Chicago und dem Ars Electronica
Future Lab) als elektronische Buchskulptur beschrieben, als eine "magische
und stimulierende Reise durch einige der intensivsten Momente der menschlichen
Erfahrung mit Medien, Technologie, Wissenschaft, Architektur und Kultur" [13].
Es geht darum, die Welt in der Zeit des Buchdrucks dem Zeitalter der digitalen
Medien gegenüberzustellen, wobei das 15. Jahrhundert am Beispiel der idealen
Renaissancestadt illustriert wird.
<18> So kann man Brunelleschis Florentiner Domkuppel hinauffliegen, von dort durch eine
Wolke in Gestalt der Venus von Botticelli wieder nach unten springen und um die
Ecke nicht nur die Brancacci-Kapelle sehen - wobei die Zinsgroschen-Szene als
Staffage vor den Eingang postiert wurde -, sondern in direkter Nachbarschaft
sowohl den römischen Kapitolsplatz als auch S. Maria delle Grazie in Mailand
besichtigen. Dort erwartet einen ein besonderes Schauspiel, denn sobald man sich
dem Abendmahl Leonardos nähert, wird es zum Drahtgittermodell, von dem Judas
aufsteht und sich verabschiedet.
Während hier also existierende Räume simuliert, animiert
und kombiniert werden, werden bei dem zweiten genannten Projekt,
Mitologies, neue architektonische Räume geschaffen - allerdings
unter Einbeziehung mindestens ebenso vieler historischer Kulturschätze.
In einem Assoziationsfeld, dass zwischen dem Labyrinth des Minotaurus,
Dantes Göttlicher Komödie und der Offenbarung
des Johannes vagiert, soll in einer rhizomartigen, das heisst unendlich
verknüpften Struktur auf die Endzeitstimmung des Jahrtausendwechsels
angespielt werden. Dafür irrt man in astronomischen Zeit- und
Kultursprüngen zwischen Hades, der Mezquita in Córdoba, einer
virtuellen Rekonstruktion des Leonardo-Zentralbaus und tapetengleich
ins Gigantische vergrößerten Dürer-Holzschnitten
umher [14].
<19> Nicht ohne Berechtigung kann man einwenden, dass solcherart Inszenierungen
unseres kulturellen Erbes nicht von Kunsthistorikern, sondern von Künstlern
bzw. Medienagenturen geschaffen wurden und damit keinem wissenschaftlichen,
sondern künstlerischen Ansprüchen genügen müssen. Als Kunst können sie
überzeugen - oder eben nicht. Dennoch muss man konstatieren, dass derartige
Animationen durchaus einen Einfluss auf das gesellschaftliche Bild unseres
Faches haben und auch in Linz keineswegs als rein künstlerische Collagen ohne
informativen Impetus vorgestellt werden. Gerade im Bereich der digitalen Medien
wird deutlich, dass nicht nur der Kunsthistoriker die Hilfe von Informatikern
und Mediendesignern braucht, sondern dass auch letztere des
geisteswissenschaftlichen Korrektivs bedürfen, was die visualisierten Inhalte
angeht. Ein kritischer Diskurs kann somit zu auch wissenschaftlich vertretbaren
Illustrationen unseres Forschungsgegenstandes führen. Experimente wie die
gezeigten sind notwendig, um Möglichkeiten wie Gefahren der Darstellung unseres
Faches im digitalen Medium überhaupt erst aufzuzeigen.
<20> An einem weiteren Beispiel sei gezeigt, dass auch hier wieder abstraktere,
symbolische Raumkonzepte einen überzeugenderen Weg zur Visualisierung von
Kulturgeschichte zu weisen scheinen. Die Installation "Home of the Brain"
von Monika Fleischmann und Wolfgang Strauss wurde für ein Head Mounted Display
konzipiert. Die Künstler entwickelten ein VR-System, das vier für die
Entwicklung der Medientechnologie wichtige Kulturtheoretiker in ihren Ansätzen
repräsentiert. In einem virtuellen Raum, der dem Grundriss der Neuen
Nationalgalerie in Berlin folgt, kann man vier Häuser besuchen, die den KI-Forscher Marvin Minsky, seinen Antipoden Joseph Weizenbaum sowie die
Medienwissenschaftler Vilém Flusser und Paul Virilio vorstellen.
Die Häuser sind farblich differenziert,
Minskys 'Haus der Utopie' ist blau und verweist mit Symbolen wie Kugel und
Wasser auf die artifizielle Optimierung des menschlichen Geistes. Weizenbaums
Haus hingegen ist grün als Zeichen der Hoffnung, Virilios 'Haus der
Katastrophe' ein gelber Oktaeder, Flusser wird durch eine rote Pyramide
vorgestellt. Mit einem Joystick kann man sich zwischen den Häusern bewegen, sie
betreten und in ihnen wichtige Zitate der Personen hören [15].
<21>
Alle bisher erwähnten Installationen visualisieren auf die
verschiedensten Weisen kulturgeschichtliche Zusammenhänge im
virtuellen Raum und fungieren als konstruierte Erinnerungsräume,
als externe Wissensspeicher. Sie zeigen deutlich, dass die Unterscheidung
zwischen Bild und zu verbildlichendem Inhalt umso schwerer wird,
je realitätsnäher der virtuelle Raum ist und umso einleuchtender
erscheint, je abstrakter die Inhalte vermittelt werden [16].
Der Betrachter muss unterscheiden können zwischen möglichst
detailgetreuen virtuellen Rekonstruktionen der gebauten oder geplanten
Realität, wie sie Manfred Koob am Fachbereich
Architektur der TU Darmstadt erarbeitet, und inhaltlich motivierten
'Informationscollagen', die gerade andere als die realräumlich
vorhandenen Zusammenhänge in den Vordergrund stellen.
<22> Die genannten Projekte bieten - im Gegensatz zum Museum - die Möglichkeit,
jedwede materiellen oder theoretischen Zusammenhänge zu visualisieren. Der
entscheidende Nachteil gegenüber den antiken Mnemonik-Theorien aber bleibt: sie
sind bereits durchgestaltet und bieten keinen Raum für die individuelle
Konstruktion von Wissenszusammenhängen. Mit der Forderung nach Letzterem entspricht die antike Mnemonik einem wichtigen Grundsatz moderner
Pädagogik, dem konstruktivistischen Lernprinzip: Das was vom Lernenden selbst
in Zusammenhänge gebracht und mit bereits Gewusstem verknüpft werden kann,
prägt sich am besten ein. Und genau dieser Forderung lässt sich mithilfe der
digitalen Medien auch nachkommen, durch die zweite potentielle Stärke des
Cyberspace, die Interaktivität.
<23>
Obwohl auch die bisher gezeigten Werke eine Interaktion zulassen,
ist diese sehr beschränkt. Möglich sind lediglich Mensch-Maschine-Interaktionen
in Form der Auswahl des Weges und der Stationen in einem vorgegebenen
Programm [17].
Theoretisch ist der Cyberspace aber zu mehr fähig. Einerseits
ermöglicht es eine Erweiterung der Mensch-Maschine-Interaktion
im Sinne einer Lernfähigkeit des Systems, das sich mit den
Eingaben des Benutzers stetig weiterentwickelt. Andererseits erlaubt
es die maschinenvermittelte Mensch-Mensch-Interaktion, den Austausch
über die digitalen Inhalte und Strukturen, der zu einer kooperativen
Auseinandersetzung mit und Modifikation derselben führen kann.
Auch derartige Varianten des Cyberspace existieren bereits und werden
für Vermittlungszwecke genutzt, in den sogenannten MUDs und
MOOs [18].
Beide Begriffe bezeichnen virtuelle Gebäude mit zahlreichen
Räumen, die von ihren Besuchern selbst gestaltet und ausgestattet
werden können, und zwar in gegenseitiger Kommunikation.
<24>
Möglich sind hierbei öffentliche (von allen Benutzern
'hörbare') und nichtöffentliche Gespräche, Kommunikationssituationen
innerhalb bestimmter Räume etc. In den Räumen können
Objekte abgelegt werden, die von den Besuchern analysiert, beschrieben
und diskutiert werden können. Damit erfüllen die MUDs
und MOOs nicht nur die Forderungen der analogen Mnemonik-Techniken,
sondern sind ihnen sogar überlegen, denn sie erlauben nicht
nur individuellen, sondern auch kooperativen Konstruktivismus. Gerade
im amerikanischen Raum werden solche virtuellen Räume bereits
häufig zur Lehrzwecken verwandt. Dabei arbeiten die klassischen
MUDs und MOOs als einfache Telnet-Verbindungen und sind weit davon
entfernt, eine virtuelle Realität im Sinne möglichst genauer
Simulation anzustreben. Einige zeigen einen rudimentären Raumplan
zur Orientierung über die möglichen 'Aufenthaltsorte'
der Nutzer, aber im Prinzip ist ihr Aufbau ausschließlich textorientiert.
So wird selbst eine Graphik Andy Warhols im MediaMOO, einem Netzraum für
Medienwissenschaftler, mit Worten umschrieben.
<25> Die Textorientierung erscheint hinsichtlich der
Kommunikationsgeschwindigkeit und einfachen Installierbarkeit vorteilhaft, für
die spezifischen Bedürfnisse der Kunstgeschichte wünscht man sich jedoch eine
visuellere Form kollaborativer Wissensaneignung. Auch diese ist jedoch bereits
möglich, in Form von Software wie "The Palace" oder "Active
Worlds", die kostenlos aus dem Netz zu beziehen ist und eine Navigation im
visuell simulierten, virtuellen Raum erlaubt.
Das hier gezeigte Beispiel stammt aus einem mit Active worlds erzeugten virtuellen Campus, der die
Internetseite der Universität, eine dreidimensionale Lernumgebung und ein
textorientiertes Befehlsfeld vereint. In Ermangelung kunsthistorischer Beispiele
sollen die dort gezeigten Bilder physikalischer Modelle verdeutlichen, dass eine
Einbeziehung digitaler Reproduktionen in diese Umgebungen technisch ohne
Weiteres möglich ist.
<26> Bereits dieser kurze Blick auf die virtuellen Lernumgebungen macht deutlich,
wie eng sich diese an realen Räumen orientieren. Im didaktischen Bereich findet
man meist das universitäre Campus-Modell verwirklicht, mit Bibliotheken,
Labors, Übungsräumen, Cafés etc. Prinzipiell ist die Gestaltung der
virtuellen Lernumgebungen jedoch beliebig, im Gegensatz zu den oben gezeigten
immersiven Projekten haben wir es hier mit einer zunächst völlig
inhaltsungebundenen Bereitstellung von Kollaborationsmöglichkeiten zu tun, die
den Bedürfnissen der Nutzer entsprechend organisiert und strukturiert werden
können. Denkbar sind also genauso Epochenräume, Methodenlabors, Künstlernetze
etc. Man muss nur an bereits zweidimensional realisierte Strukturen wie
geographische Karten oder Timelines denken, um sich klarzumachen, welche
Potentiale hier liegen.
<27>
Die Timeline [19]
weist dabei den Weg zu dem wohl wichtigsten Aspekt, den der Cyberspace
sowohl dem realen Raum als auch den antiken Erinnerungsräumen
voraus hat: Es ist nicht auf drei Dimensionen beschränkt, sondern
ermöglicht auch die Einbeziehung der vierten Dimension, der
Darstellung zeitlicher Veränderung. Und auch auf vier Dimensionen
muss der Cyberspace nicht beschränkt sein. Wenn auch dem Normalbürger
die Vorstellung des elfdimensionalen Raums in der Physik nach wie
vor schwer fällt, ist die Vorstellung zahlreicher Dimensionen
im virtuellen Raum ungleich einfacher. Wissensstrukturen lassen
sich hier in zahlreichen Ebenen visualisieren und gerade ihre flexible,
interaktive und diskursive Strukturierbarkeit macht sie zu einem
idealen Medium der theoretisch und historisch arbeitenden Geisteswissenschaft.
<28> Eine Ausweitung der Darstellung unseres Faches über den zweidimensionalen,
bebilderten Text hinaus in den mehrdimensionalen Hyperraum würde das Postulat
vom Ende der einen, linear beschreibbaren Entwicklung der Kunstgeschichte
illustrieren und die Verzahnung und historische Bedingtheit der Forschungsfelder
strukturell und visuell zu verdeutlichen helfen.
<29> Dabei sollte man von Räumen weniger als von Abbildern realer Architektur sprechen
als vielmehr von Modellen, denn während Abstraktes veranschaulicht zu werden drängt,
drängt das visuelle Objekt nach einer theoretischen Kontextualisierung. Auch
diese ist im digitalen Raum - genauso wie im Hirn des Simonides - möglich.
Schon 1991 hat Marcos Novaks darauf hingewiesen, dass in Zeiten des Cyberspace
zur gebauten oder baubaren, an die Gesetze der Statik gebundenen Architektur
eine weitere Architekturform tritt, die er als "liquid architecture"
oder verräumlichte Musik bezeichnet: eine animierende, animierte, metaphorische,
Kategorien übergreifende und variable Architektur, in der "der nächste
Raum immer ist, wo ich ihn brauche und wie ich ihn brauche" [20]. <30> Im kulturhistorischen Bereich sind solche Umgebungen noch selten, bzw. noch
im Pilotstadium. Hinzuweisen ist auf Projekte wie movii
[21]
zur dreidimensionalen
Organisation von Lehrmodulen, oder an die Vision eines Museumsinformationssystems,
die die Gruppe filesharing auf der EVA 2000 in Berlin vorgestellt hat
[22]. In
ähnliche Richtung, wenn auch noch im zweidimensionalen Raum, gehen
Visualisierungsbemühungen von Internetplattformen wie netzspannung.org
[23] und
opuscommons, die eine deutsche Plattform für Medienkünstler und
-wissenschaftler,
das zweite ein indisches Projekt zur gemeinsamen künstlerischen Arbeit im Netz.
Beiden gemeinsam ist die Idee, Inhalte über eine Datenbank zu
verschlagworten und ihre konzeptuelle Verwandtschaft oder Unterschiede durch
räumliche Nähe oder Distanz, durch Verbindungslinien, gleiche Farben etc. zu
visualisieren. Opuscommons bietet dabei die zusätzliche Möglichkeit, auf der
Plattform gespeicherte Bilder herunterzuladen, zu verändern und mit
Kommentaren zu versehen.
<31> Nur intelligente Konzepte und die Zusammenarbeit mit entsprechenden
Fachleuten können dabei allerdings garantieren, dass die neuen kollaborativen
Perspektiven auf unsere kulturelle Gegenwart und Vergangenheit letztlich vom
externen Wissensspeicher in das interne Bewusstsein der Bevölkerung übergehen,
damit, wenn statt des Palasts des Skopas einmal das Netz zusammenbrechen sollte,
genügend Hirne vom Kaliber des Simonides vorhanden sind, die Kerngedanken, die
aus solcherart Wissenschaft hervorgehen, der Nachwelt zu überliefern [24].
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