Holger Simon
Lernen im digitalen Themenraum. Exploratives Lernen im Internet aus kunsthistorischer Sicht
Die Vorteile der verbesserten Präsentation von Informationen durch Neue
Medien auch im Seminarkontext und die komfortable Beschaffung von Informationen
im Internet sind evident. Sie ergänzen und verbessern die herkömmlichen
Arbeits- und Lernstrukturen. Möchte man die Neuen Medien aber als didaktisches
Mittel einsetzen, so müssen die medienspezifischen Bedingungen der
Hypertextstruktur bei der Realisierung berücksichtigt werden. Für den
Rezipienten bedeutet dies, dass er im Internet zur Aktivität aufgefordert
werden muss, um sich im Wissensnetz zu bewegen. Während beim Buch die
Textualität durch die Seitenfolge vorgegeben ist, muss der Anwender sich in der
Hypertextstruktur seine Textualität selber konstruieren.
Dahinter steht das Konzept des explorativen Lernens, in dem der Lernende
Akteur ist, der seinen Lernweg selbst bestimmt und entscheidet, wann er welche
Fragen stellen und beantworten möchte. Der Inhalt und seine Präsentation sind
hierbei direkt voneinander abhängig. Daraus folgt zwingend eine
gleichberechtigte Zusammenarbeit von Mediendidaktik, Design, Informatik und
Fachwissenschaft. Nur eine solche ermöglicht die gemeinsame Realisierung eines
digitalen Themenraums im Netz, dessen Konzeption an einem Beispiel
veranschaulicht wird.
<1> Durch Film und Fernsehen, vor allem aber durch digitale Medien
wie das Internet rücken visuelle Repräsentationen auf allen sozialen,
politischen und ökonomischen Ebenen verstärkt in den Vordergrund und es
verwundert nicht, wenn sich spätestens seit Anfang der 90er Jahre mit W. J.
Thomas Mitchells These vom "pictorial turn"[1] die Aufmerksamkeit der
Kulturwissenschaften auch auf eine Kritik der visuellen Kultur richtet.
Der Kunstwissenschaft kommt hierbei eine zentrale Stellung innerhalb des
wissenschaftlichen Diskurses zu. Die Bildwissenschaft hat die These schon
längst aufgenommen und diskutiert unter den Begriffen "iconic turn"
und "pictorial turn" unterschiedliche Ansätze einer Theorie der
visuellen Kultur. Dieser theoretischen Diskussion von Kultur steht seit den 90er
Jahren eine Kultur- und Bildungspolitik gegenüber,
die mit verschiedensten Programmen - wie "Schulen ans Netz", "WAP"
oder neuerdings "Medien in der Bildung" - Millionen von Steuergeldern
verteilt und die damit die Hoffnung verbindet, Medienkompetenz in Wissenschaft
und Bildung zu wecken und e-learning zu fördern.
<2>
Profitierten zu Beginn vor allem die Ingenieur- und Naturwissenschaften
von diesen Geldern, haben spätestens seit dem jüngsten
bmb+f-Programm [2]
auch die Geisteswissenschaften den Computer entdeckt. So ist die
Kunstgeschichte gleich mit zwei großen Projekten, "Schule
des Sehens" und "prometheus
- Das verteilte digitale Bildarchiv für Forschung & Lehre",
vertreten.
Beide Ebenen, die Diskussion um eine Theorie der visuellen Kultur und die
didaktischen Fragen hinsichtlich der digitalen, vor allem visuellen Lehr- und
Lernmedien, sind direkt aufeinander bezogen. Auf der einen Ebene ist der
Kunsthistoriker Subjekt des theoretischen Diskurses über die Medien und auf
der anderen Ebene ist er Anwender derselben.
<3> Der Schwerpunkt meiner Ausführungen liegt ganz auf der zweiten Ebene. Ich
möchte der Frage nachgehen, wie der Wissenstransfer in den digitalen Medien,
vor allem dem Internet, überhaupt möglich ist, und wo die Unterschiede zu den
herkömmlichen, akzeptierten Medien, in diesem Fall zum Buch oder mündlichen
Vortrag, liegen. Ich werde hier - auf dem ersten Blick vielleicht etwas
untypisch für einen Kunsthistoriker - eine dezidiert mediendidaktische Position
einnehmen und die Möglichkeiten und Bedingungen des Lernens im Internet in den
Vordergrund stellen.
Meine These ist, dass die Neuen Medien aufgrund ihrer spezifischen Struktur
ein bestimmtes didaktisches - altes - Konzept, das explorative Lernen,
einfordern. Infolgedessen stellt sich nicht die Frage, ob e-learning überhaupt
sinnvoll ist, sondern welche Bereiche der Kunstgeschichte sich aufgrund der
medienspezifischen Struktur besonders gut - vielleicht sogar nur - über die
digitalen Medien vermitteln lassen. Zum Ende meiner Ausführungen werde ich ein
mögliches Beispiel, einen sogenannten 'Themenraum', in seiner Konzeption kurz
vorstellen.
<4> Um ein erstes Vorverständnis von den spezifischen Differenzen der Medien zu
bekommen, ist ein Blick auf den Zeitpunkt ihrer Einführung und ersten Anwendung
sehr aufschlussreich, weil sogenannte Medienbrüche immer auch
Medienmissverständnisse evozieren, anhand derer die Differenzen der 'neuen'
und 'alten' Medien deutlich werden.
Zu Beginn der populären Verbreitung von Radio und Fernsehen
zum Beispiel dachte man, dass die wichtigsten Inhalte für Rundfunk-
und Fernsehübertragungen vor allem Theater- und Opernaufführungen
seien [3].
Die historische Aufnahme von Goethes Faust mit Gründgens
und Quadflieg ist ein Relikt dieser Vermutung, die schon in den
folgenden Jahren nicht bestätigt wurde. Der Filmschnitt bietet
andere Möglichkeiten als die Kontinuität einer Theateraufführung.
Doch beides, das Fernsehen und das Theater, bestehen heute nebeneinander;
das Fernsehen konnte das Theater nicht ablösen, weil es ganz
anderen medienspezifischen Bedingungen folgt. Ganz im Unterschied
zur CD; sie konnte die Schallplatte in kurzer Zeit vollständig
ersetzen, weil sie die selben medienspezifischen Bedingungen besser
umsetzen kann als ihre Vorgängerin.
<5> Vor dem Hintergrund der Frage, welchen mediendidaktischen Nutzen die
Kunstgeschichte aus den digitalen Medien ziehen könnte, erscheint ein
selbstkritischer Blick ins Internet hilfreich, um anhand solcher
Medienmissverständnisse die Richtung der Medienanalyse bestimmen zu können.
Das Internet, so könnte man etwas verallgemeinert sagen, wird aus
kunsthistorischer Sicht vor allem als ‚Informations- bzw. Wissensbörse’
genutzt. Über verteilte Datenbanken findet man schnell das gesuchte Buch, immer
häufiger werden Aufsätze und sogar ganze Bücher im pdf- oder Dokumentenformat
zum Herunterladen angeboten. Die Internetanwender nutzen hier die komfortablen
Verbreitungsmöglichkeiten des Internets. Ziel ist dabei das herkömmliche
Medium Buch oder der ausgedruckte Text, den man am Schreibtisch und nicht am
Bildschirm liest.
<6> Will man nun das Internet als genuines Publikations-, das heisst als Lese- oder gar
Lernmedium nutzen, offenbaren sich die Besonderheiten des digitalen Mediums, und
das Internet wird eine wunderschöne Fundgrube für sogenannte
Medienmissverständnisse. Damit meine ich nicht nur die 36 Aufsatzseiten, die
ein Autor ins Internet stellt und den Leser zum meterlangen Scrollen zwingt.
Viel spannender sind zum Beispiel die Anmerkungen in einer solchen
wissenschaftlichen Internetpublikation, die der ambitionierte Internetuser als
Hyperlink entdeckt. Ein Klick auf eine Anmerkung genügt und der Bildschirmleser
findet sich plötzlich am Ende der HTML-Seite im Anmerkungsapparat wieder. Man
kann nur hoffen, dass es dort einen Link gibt, der an obige Stelle
zurückspringt, ansonsten beginnt ein lästiges Suchen mit dem Scrollbalken im
Text, weil die Zurück-Taste browserabhängig ist und nicht immer in der
gleichen Weise funktioniert. Nicht selten wird der Leser mit der traditionellen
Literaturabkürzung ’Müller 1996 (wie Anm. 2)’ oder nur ’Müller 1996’
konfrontiert, und er wird auf eine weitere Anmerkung oder auf das
Literaturverzeichnis verwiesen. Spätestens jetzt verirrt sich der Internetleser
vollständig im Linknetz.
<7> Was in dem einen Medium sinnvoll ist, kann in einem anderen Medium zur Farce
werden. Im herkömmlichen Buch benötigt der Leser nur eine kleine Augenbewegung, um
die Anmerkung am Seitenende zu lesen (oder der Finger ist ein sicheres
Lesezeichen), im Internet wird dies im obigen Beispiel eine aufwendige
Textsuche. Und die Verwendung von Zitatkürzeln, die im Buch der besseren
Übersicht im Anmerkungsapparat und der Verringerung der Druckseiten dienen,
erscheinen im Internet unnötig.
<8> Dieses sehr einfache Beispiel zeigt erstens, dass die selbe Gestaltung einer
Information in zwei unterschiedlichen Medien ganz unterschiedlich funktionieren
kann. Will man schon online publizieren, so könnte eine Art Quickinfo, die bei
Berührung der Fußnotenzahl oder des Zitatkürzels die vollständige Anmerkung
anzeigt, Abhilfe schaffen. Eine arbeitsökonomisch
sinnvolle Anpassung soll mittelfristig erfolgen. Dafür wird aber jeder Artikel
im pdf-Format angeboten, der im Ausdruck wieder den gewohnten Lesekomfort
ermöglicht.
<9> Zweitens sollte dieses Beispiel uns warnen, als didaktische Laien das
Internet sogar als Lehr- und Lernmedium nutzen zu wollen, ohne zuvor nach den
mediendidaktischen Bedingungen des Internets gefragt zu haben. Ein Medium, das
schon bei der einfachsten Textpräsentation Schwierigkeiten aufwirft, stellt
für dessen Nutzung als Lernmedium besondere Ansprüche an den Entwickler.
Namhafte Wissenschaftler aus den Medienwissenschaften und der Mediendidaktik,
wie Kerres, Mandl und Schulmeister, um nur eine Auswahl
der Protagonisten zu nennen [4], haben in den letzten Jahren das Internet
ausführlich analysiert, so dass ich mir hier erlauben kann, basierend auf deren
Forschungen nur auf die - vor allem für die Kunstgeschichte - wesentlichen
Kriterien des Mediums einzugehen.
<10> Grundsätzlich sind mindestens drei Anwendungsbereiche der Neuen Medien in
der Diskussion hinsichtlich Nutzen und Nachteil zu unterscheiden.
Neue Medien als Präsentationsmedium
Die Vorteile der digitalen Medien zur Präsentation multimedialer Information
sind evident [5]. Neben dem Ton und den bewegten Bildern bieten sie herausragende
Möglichkeiten zur Visualisierung von Räumen und dreidimensionalen Objekten.
Für die Kunstgeschichte ergeben sich hier neue und sehr gute Möglichkeiten, die
Forschungsgegenstände in der Lehre zu visualisieren. Wenn die Arbeit vor dem
Original oberstes Gebot ist, dem der Kunsthistoriker und die Kunsthistorikerin
durch viele Reisen und Exkursionen nachzukommen pflegen, dann fordert dieses
Gebot zur bestmöglichen Visualisierung im Seminarkontext geradezu auf.
Statische Diaprojektionen von Räumen können durch bewegte Bildanimationen in
CAD oder QuickTime sehr gut ergänzt und zerstörte Gebäude besser als in jeder
Zeichnung visualisiert werden. Die schlechte Overhead-Folie wird hoffentlich
bald ganz aus dem Seminarkontext verschwinden und die Beamerpräsentation jede
Diaprojektion ablösen [6].
<11> Internet als Informations- und Wissensbörse
Schon die heutige Vielfalt im Internet - gerade mal zehn Jahre nach seiner
Popularisierung - zeigt, dass die Möglichkeiten von Information und
Kommunikation schier unbegrenzt sind. Und dabei stehen wir noch am Anfang. Mit
leistungsstarken Suchmaschinen und gut betreuten Linklisten kann man das gesamte
Internet zielsicher durchsuchen; die Anzahl herausragender Datenbanken zu den
verschiedensten Wissenschaftsbereichen steigt exponentiell. Ganze Editionen
werden im Internet zur Verfügung gestellt. Doch analog zur Systematik einer
Bibliothek, in die jedes propädeutische Seminar an den Hochschulen einführt,
gibt es auch im Internet Regeln und Systematiken, die es zu beherrschen gilt, um
nicht in der Vielfalt von Informationen unterzugehen. Internetkompetenz gehört
heutzutage ebenso zur wissenschaftlichen Grundausbildung wie die Zitierregeln
des eigenen Fachs.
<12> Beide Anwendungsbereiche, die digitale Präsentation und die Informations-
und Wissensbörse, nutzen wichtige Vorzüge der Neuen Medien. Das Ziel ist mal
eine verbesserte Präsentation und mal eine komfortablere Beschaffung von
Information. Beide Bereiche ergänzen und verbessern heutige Arbeits- und
Lernstrukturen, ohne dass die herkömmlichen Lernmethoden verändert werden
müssten: Das Seminar wird von einer Beamer- statt Diapräsentation begleitet,
und am Schreibtisch liest man einen ausgedruckten Text aus dem Internet.
Will man die Neuen Medien aber als ein didaktisches Lernmedium nutzen,
müssen die herkömmlichen Lehr- und Lernmethoden grundsätzlich überdacht und
die Neuen Medien einer spezifischen Analyse unterzogen werden.
<13> Neue Medien als didaktisches Mittel
Aus mediendidaktischer Sicht ist der zentrale Unterschied der digitalen
Medien zu den herkömmlichen - wie dem Buch oder dem mündlichen Vortrag - der
Hypertext. Ein Buch ist linear aufgebaut, und es gibt dem Leser eine bestimmte
Leseabfolge vor, die er nur bedingt über die einzelnen Kapitel verändern kann.
Im Gegensatz dazu wird die Linearität in Hypertextsystemen nahezu vollständig
aufgelöst und der Anwender steht vor einem Netz an Informationen, die durch
Verknüpfungen, durch sogenannte Links, verschiedenartig miteinander verbunden
werden.
<14> Dieser Unterschied zieht eine Konsequenz sofort nach sich: Nicht jeder Inhalt
scheint für alle Medien in gleicher Weise geeignet zu sein [7]. Um eine längere
Argumentation in einer bestimmten Abfolge und über mehrere Seiten zu
erarbeiten, wird jeder auch zukünftig das Buch vorziehen. Im Internet muss man
die Argumente aufgliedern und netzartig verlinken. Dadurch wird aber eine
zwingende Linearität aufgegeben, die grundsätzlich erwünscht sein könnte.
Aus didaktischer Sicht verhalten sich das Buch und der Hypertext geradezu
gegensätzlich, und so haben diese formalen Mediendifferenzen entscheidende
Folgen für den Rezipienten: Während der Autor eines Buches dem Leser die
Textualität vorgibt, der er mehr oder weniger passiv folgen kann, ist der
Internetnutzer zur ständigen Aktivität verdammt. Er muss immer wieder neu
entscheiden, welchen Link er betätigt, welchen Weg er im Hypertext geht. Der
Internetnutzer erschafft sich seine Textualität also selbst, folglich können
die Autoren solcher Systeme nur Angebote liefern, aus denen sich der Anwender
sein Wissen konstruiert.
<15> Es sollte an dieser Stelle besonders betont werden, dass sich solche
Hypertextsysteme von den oben genannten Informations- und Wissensbörsen
grundsätzlich unterscheiden. Es sind Lernumgebungen, in denen nicht die
Beschaffung von Informationen zum Ausdruck auf Papier das oberstes Ziel ist,
sondern die Aufbereitung der vernetzten Struktur komplexer Inhalte für das
Internet. Solche Inhalte könnten schließlich nur im Internet studiert werden,
weil jeder lineare Textausdruck ihre vernetzte Struktur reduziert wiedergeben
würde.
<16> Solche hypermedialen Lernumgebungen erklären Spiro und Jehng mit der Theorie
der "kognitiven Flexibilität" [8], die sie anhand einer Metapher
verdeutlichen. Man stelle sich eine unbekannte Landschaft vor, die einem
Lernenden vermittelt werden soll. Während der Leser eines Buches aufgrund der
Linearität den Wegen des Autors durch die Landschaft monoperspektivisch und
monodirektional folgt, bleibt es in Hypertextsystemen dem Anwender überlassen,
welche Wege er geht. Er bewegt sich in einem multiperspektivischen und
multidirektionalen Raum.
Interessanterweise entspricht diese Multiperspektivität und
Multidirektionalität sehr viel mehr der spezifischen Struktur der Themen, die
die Geisteswissenschaften zum Gegenstand ihrer Forschungen erheben. Dort gibt es
selten nur eine Meinung, sondern historische, politische, ökonomische und
soziale Fragestellungen ermöglichen jeweils eine andere Sicht auf ein und das
selbe Phänomen. Gerade in dieser strukturellen Offenheit und Unschärfe der
Hypertextsysteme liegt meines Erachtens die große Chance für
kulturwissenschaftliche Themen im Internet.
<17> Aufgrund dieser spezifischen Bedingungen der Hypertextsysteme kommen die
Autoren Mayes, Kibby und Anderson vom Scottish Human-Computer Interaction Center
zu dem Schluss, dass die Hypertext-Systeme eher Lern- als Lehrsysteme seien.
Computersysteme, so die Autoren, "based on hypertext are rightly called
learning systems, rather than teaching systems […]. They provide an environment
in which exploratory or discovery learning may flourish" [9]. Die Struktur dieser Hypertextsysteme verweist also auf ein pädagogisches:
Konzept aus der kognitiven Psychologie [10], die schon in den 60er und 70er Jahren
das explorative und entdeckende Lernen einer instruierenden Pädagogik
vorgezogen hat [11]. Im Konzept des explorativen Lernens
ist der Lernende der Akteur, er bestimmt seinen Lernweg, er entscheidet, welche
Fragen er wann stellen und beantworten möchte.
<18> Damit ändert sich die Perspektive von einer mediengestützten Lehre hin zu
einer Mediendidaktik des Lernens. Für die Aufbereitung der Lehrinhalte bedeutet
dies, dass die Angebote in einer hypermedialen Lernumgebung so aufbereitet sein
müssen, dass sie einen Lernenden motivieren, ein Thema zu erforschen.
Anders gesagt, eine Lernumgebung kann sich nicht mehr auf eine Ansammlung von
festen Wissenselementen beschränken, die man sich herunterlädt, lernt und
anwendet, sondern in Hypertextsystemen werden die Inhalte in offenen
Themenräumen umgesetzt, die den Anwender direkt ansprechen und motivieren
müssen, immer wieder neue Wege innerhalb eines Themas zu betreten, indem er
Links betätigt.
<19> Die Spielindustrie hat das Phänomen des explorativen Lernens längst
entdeckt. Es ist nicht nur eines der Erfolgsgeheimnisse von Computerspielen wie ’Tomb Raider', sondern auch komplexe Simulationsspiele gewinnen von dort her
ihren didaktischen Wert [12]. <20> Es genügt aber nicht, dem Anwender die Angebote neuer Wege nur als Links in
der Lernumgebung zur Verfügung zu stellen; gelangweilt wird er nach kurzer Zeit
das Programm abbrechen. Gibt die Linearität des Buches die vom Autor
intendierte Leserichtung Seite um Seite vor, muss der Anwender hypermedialer
Lernumgebungen motiviert werden, zwischen verschiedenen Wegen zu entscheiden und
sich seine Textualität selber zu erzeugen. Diese Motivation gelingt aber nur in
einem sinnvoll auf den jeweiligen Gegenstand und die Inhalte hin abgestimmtes
Usability-Design. Theoretisch haben die Mediendidaktiker die Bedeutung des
Designs längst erkannt: Kerres spricht von einer "gestaltungsorientierten
Mediendidaktik" oder "Didaktischem Design" und Schulmeister
plädiert in Anlehnung an Clancey für ein "partizipatorisches
Design" [13]. Allein aus den hier zitierten Begriffen wird schon deutlich, dass
in diesem Kontext Design nicht als ein ‚Anhübschen’ fertiger Software
verstanden wird, sondern dass die Information, ihre Präsentation im Hypertext
und ihre Anwendung notwendig aufeinander bezogen sind. "Programmierung,
Design, Wissensgestaltung, Wissensinhalt und Fragen nach den Zielen des Wissens
können nicht getrennt von einander entwickelt werden. In der multimedialen
Präsentation von Wissen über Lern- und Wissensprogramme ist das ’Wie’
ebenso entscheidend für das ’Was’ wie auch umgekehrt; das ’Warum’
prägt die anderen beiden Faktoren, so wie es immer auch von ihnen bestimmt wird". [14].
<21> In den Wissenschaften scheint immer noch der Hässlichkeit und
Umständlichkeit Vorrang vor einem anwenderorientiertem Design gegeben zu
werden. Was hilft es uns aber, wenn wir in Zukunft phantastische Archive und
Themenräume haben, die nur von den Wissenschaftlern benutzt werden, die ihre
bestimmte Urkunde oder Quelle schon kennen. Ich plädiere hier für eine
wirklich interdisziplinäre Arbeit an der gemeinsamen Entwicklung eines
Knowlegde-Designs mit Medienpädagogen, Designern, Informatikern und
Fachkollegen. Auch in diesem Fall könnte man von der Spielindustrie lernen, und ein
bisschen mehr 'Edutainment' würde der Wissenschaftsdidaktik nicht schaden.
<22> Doch zurück zum explorativen Lernen. In der heutigen medienpädagogischen
Forschung wird mit dem Konzept des explorativen Lernens vor allem ein modernes
neurophysiologisches und erkenntnistheoretisches Modell von Wissen verbunden,
das unter einem konstruktivistischem Paradigma steht. Die Erkenntnisse der
modernen Hirnforschung haben längst gezeigt, dass unser Wissen nicht isoliert
wie in einem Wissensbehälter vorliegt und abgerufen wird, sondern vernetzt
codiert und ebenso wieder memoriert wird. Es gibt kein objektives und festes
Wissen, dem sich das Subjekt gegenüber nahezu passiv verhält, sondern das
Wissen wird ständig aktiv vom Subjekt konstruiert. Dieses konstruktivistische
Verständnis von Wissen hat unmittelbare Folgen für die Lehre und das Lernen [15].
Der Dozent kann keine festen und vom Kontext isolierten Lernzielkataloge
vorgeben, sondern dem Lernenden nur Inhalte anbieten, die seine eigene
Wissenskonstruktion anregen und fördern [16].
<23> Die heutige Lehre - vor allem an den Hochschulen - folgt zumeist immer noch
dem antiquierten Verständnis von festen Wissensinhalten. Das Konzept eines
explorativ Lernenden provoziert die Kathederlehre der heutigen
Hochschuldidaktik, und möglicherweise verbirgt sich dahinter die eigentliche
Motivation der meisten akademischen Fundamentalkritiker an digitalen
Lernsystemen. Ein Wandel, wie ihn Rolf Schulmeister in Bezug auf die Bedeutung
virtueller Lernumgebungen sehr angemessen zusammenfasst, ist hier längst
überfällig:
"Bezogen auf das virtuelle Lernen bedeutet diese Position, dass den
Lernenden mehr Raum zur aktiven Dokumentation und zum Austausch ihrer
Denkprozesse, mehr Raum für aktives Tun und für das Konstruieren von Wissen
und Programme als Werkzeuge für die kognitive Konstruktion von Wissen angeboten
werden sollten, in denen die vorgefertigten Lernmaterialien wie Lehrbücher und
Skripten eine neue Funktion erhalten. Sie erscheinen in Lernumgebungen, die
reichhaltigere Informationen bieten und vielfältige Sichten auf dieselben
Phänomene enthalten". [17]
<24> Eine ‚neue Funktion’ können Lehrbücher und Skripte aber nur bekommen,
wenn man die Möglichkeiten des Mediums zu nutzen versucht. Damit spricht sich
Schulmeister ausdrücklich gegen das Verständnis einer Lernumgebung aus, die
nur Texte zum Lesen oder Downloaden bereitstellt.
<25> Welche Schlüsse können wir aus der kurzen mediendidaktischen Analyse von
Hypertextsystemen und den Ausführungen zum explorativem Lernen für die
Anwendung der Neuen Medien in der Kunstgeschichte ziehen?
Verwenden wir die digitalen Medien zur schnelleren Kommunikation und
Verbreitung unserer Publikationen oder zur verbesserten Präsentation und
Visualisierung unserer Forschungsobjekte in der Lehre oder bei Vorträgen, dann
ist der Nutzen offensichtlich und der Mehrwert liegt auf der Hand.
Wollen wir die digitalen Medien, vor allem das Internet aber als Lernwerkzeug
gebrauchen, so weisen uns die Mediendidaktiker darauf hin, dass wir nicht
einfach die Präsenzlehre in das digitale Medium übertragen können, sondern
die spezifischen Medienkriterien bedenken müssen, die - optimal gesehen - einen
explorativ agierenden und seine eigene Textualität konstruierenden Lernenden
voraussetzen.
<26> Der Bonner Literatur- und Kulturwissenschaftler Norbert Gabriel hebt in
seinem sehr erhellenden Buch "Kulturwissenschaften und Neue Medien.
Wissensvermittlung im digitalen Zeitalter" drei Aspekte aus den aktuellen
mediendidaktischen Positionen besonders hervor [18], die als Kriterien für eine
konkrete Umsetzung hypermedialer Lernumgebungen innerhalb der
Kulturwissenschaften dienen können.
<27> Die Neuen Medien fördern erstens die "Individualisierung von
Lernprozessen" [19]. Der Lerner wird im Hypertext zum selbstgesteuerten Lernen
aufgefordert. Er bestimmt die eigenen Ziele, Inhalte, Medien und Lernwege. Eine
konzise Argumentationskette, die in einem Buch mehrere Seiten einnehmen würde,
ist im Hypertext nur sehr schwer visualisierbar.
Aus der Individualisierung der Lernprozesse folge zweitens, dass die
Usability, die Gestaltung und Nutzerführung auf den Anwender zugeschnitten sein
muss. Die Motivierung des Anwenders, neue Wege zu betreten, in dem er dem
nächsten Link folgt, ist ebenso wichtig wie die Erforschung der Inhalte.
"Interaktivität und Edutainment" [20] sind nach Gabriel besondere Stärken
der Neuen Medien.
Drittens hebt Gabriel die "unbegrenzte Information und
Kommunikation" [21] hervor, die einerseits einen größeren Austausch unter den
Fachwissenschaftlern fördern könnte und andererseits eine Dekanonisierung der
Inhalte zur Folge hat, weil grundsätzlich alles angeboten werden kann. Kerres
sieht hier ein faszinierendes Paradoxon: "Die Attraktivität des Internets
liegt in dem ständig wachsenden Universum verknüpfter Information. Das
Eintauchen in eine chaotische Vielfalt mit immer wieder überraschenden Funden
ist es, was fasziniert. Die Dienstleistung, die ein Bildungsanbieter im Internet
erbringt, besteht letztlich darin, dieses Chaos für einen Moment zu ordnen". [22]
<28> Die Zugangsmöglichkeiten zur Information hat das Internet schon heute enorm
erleichtert. Um in die Handschriftenabteilung der Dözesan- und Dombibliothek
Köln zu gelangen, muss man nicht mehr weit reisen, Öffnungszeiten beachten und
auf einen freundlichen Archivar hoffen, der einem auch wertvolle Handschriften
zeigt, sondern eine Recherche unter http://www.ceec.uni-koeln.de
genügt.
<29> Sucht man in der Kunstgeschichte nach Bereichen, die man vor dem Hintergrund
der drei Aspekte Gabriels ergänzend zur Präsenzlehre im Internet
mediendidaktisch aufbereiten könnte, so stößt man auf ein Problem: die
Kunstgeschichte besitzt keine dezidiert formulierte Fachdidaktik. Alle
einschlägigen Veröffentlichungen verstehen sich als Einführung in das Fach
oder das Studium der Kunstgeschichte und nicht in die Fachdidaktik [23]. In dem
Verbundprojekt prometheus
wurden von Kunsthistoriker/innen und
Mediendidaktiker/innen drei unterschiedliche Bereiche aus der bisherigen Praxis
extrahiert, die als Säulen einer möglichen Fachdidaktik zu einer grundlegenden
kunsthistorischen Ausbildung gehören. Für jeden dieser Bereiche haben sich an
den Instituten verschiedenste Seminartypen oder didaktische Lernmethoden
herausgebildet, die vor dem Hintergrund der Neuen Medien neu diskutiert werden
müssen.
<30> Nach dem Grundstudium setzen wir erstens voraus, dass die Studierenden die
Fachterminologie beherrschen, eine Lisene vom Pilaster unterscheiden können und
Grundlagenwissen in antiker, christlicher und politischer Ikonographie haben.
Diese Grundlagen werden vor allem in propädeutischen Übungen oder
Einführungsseminaren vermittelt. Vor dem Hintergrund des explorativen Lernens
könnten diese Aufgaben in einer hypermedialen Lernumgebung sogenannte
'Grundlagentrainer' übernehmen, die statt dem häufig stupiden Vokabelpauken
differenzierte multimediale Angebote von Lern-, bzw. Memorierungsstrategien
anbieten. Die Adressaten eines solchen Grundlagentrainers wären vor allem
Studierende im Grundstudium, die das Angebot selbständig oder nach Aufforderung
zum Beispiel zur Seminarnachbereitung konsultieren könnten.
<31> Von einem ausgebildeten Kunsthistoriker verlangt man zweitens Kenntnisse der
fachspezifischen Methoden und Sicherheit in ihrer Anwendung. Hier geht es nicht
um ein bloßes Auswendiglernen, sondern um ein grundlegendes Verständnis der
Methoden in Theorie und Anwendung. Sicherlich ist ein
"Methodenreader" [24], wie er vom Kunsthistorischen Institut der
Ludwig-Maximilians-Universität München im Internet bereitgestellt wurde, eine
wichtige Basis, um einen ersten Einblick in die theoretischen Grundlagen einer
Methode zu gewinnen. Letztlich ist er aber nur eine Sammlung grundlegender
Texte, deren Struktur sich am Buch und nicht am Medium Internet orientiert.
Besser würde er in einem Buch erscheinen - dass der Methodenreader kurz nach
diesem Vortrag aus dem Netz genommen und bei einem Verlag veröffentlicht wurde,
bedarf daher keines Kommentars mehr. Ein 'Methodencoach', der die
medienspezifischen Bedingungen des Internets berücksichtigt und auch in die
Anwendung der Methode einführt, müsste seine Inhalte im Internet ganz anders
aufgliedern und recht offen konzipiert werden. Sicherlich bedürfte er im hohen
Maße einer intensiven Betreuung durch einen Tutor, die durch die vielfältigen
Kommunikationsmöglichkeiten der Neuen Medien via E-Mail und Chats realisiert
werden könnte.
<32> Drittens sollte historisches Fachwissen und grundlegende Objektkenntnis einen
Kunsthistoriker auszeichnen. Die Objektkenntnis gewinnt man am besten vor Ort.
Doch unabhängig von eigenen Reisen und organisierten Exkursionen ist eine
intensive fachwissenschaftliche Lektüre in der Bibliothek notwendig. Bücher
und Aufsätze werden von den Referenten herangezogen, um das Thema von
verschiedensten Seiten zu beleuchten und die jeweiligen Argumente der Autoren
kritisch zu prüfen. Aus diesem Informationsnetz entwickelt der Referent eine
konzise Struktur für sein Referat oder Hausarbeit. Dieses Informationsnetz ist
einer offenen Hypertextstruktur im Internet sehr ähnlich, und ein 'digitaler
Themenraum' wäre eine ideale Ergänzung zum herkömmlichen Buchstudium. Im
Unterschied zum Buch könnten hier die medialen Möglichkeiten wie Film, Ton
oder 3D-Animationen ausgeschöpft werden, ohne deren Visualisierung viele
Kunstwerke eigentlich gar nicht vermittelt werden können.
<33> In einem solchen Themenraum erarbeitet sich der Studierende oder Forscher ein
Thema von verschiedensten Seiten. Er bestimmt in dieser Themenlandschaft seine
Textualität selbst und konstruiert ein eigenes Verständnis des Themas.
Eingedenk der soeben erläuterten Kriterien von Gabriel müssten in einem
Themenraum das Design und die Inhalte stark aufeinander abgestimmt und eine
Balance zwischen Edutainment und eindeutiger Information gefunden werden. Ein
solcher Themenraum sollte nicht wie ein Buch abgeschlossen sein, sondern unter
Ausnutzung der modernen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten könnten
ihn viele Fachkollegen online aktualisieren und weiterentwickeln.
<34> Die Einbindung unterschiedlichster Medien und die grundsätzliche inhaltliche
und strukturelle Offenheit eines solchen Themenraums zeigt die besonderen
Stärken der Neuen Medien, die kein Buch erfüllen kann, die aber für eine
Objektwissenschaft wie die Kunstgeschichte besonders wichtig sind.
In dem Verbundprojekt prometheus arbeiten Fachwissenschaftler/innen mit
Mediendesignern/innen und Medienpädagogen/innen an der Realisierung solcher
Lernelemente. Während der Grundlagentrainer und Methodencoach innerhalb der
verbleibenden Projektlaufzeit lediglich in seiner konzeptionellen Struktur und
Visualisierung umgesetzt werden kann und in einem Nachfolgeprojekt
fertiggestellt werden muss, bietet der Themenraum schon sehr viel mehr
Möglichkeiten. Alle Lernelemente können aber im geschützten Bereich von
prometheus, den grundsätzlich jede/r Wissenschaftler/in nach Anmeldung betreten
kann, in ihrer jeweils aktuellsten Version getestet werden.
<35> Bevor abschließend der erste Realisierungsversuch eines solchen Themenraums
in seiner Konzeption kurz vorgestellt werden soll, darf ein strukturelles
Phänomen nicht unerwähnt bleiben, das die Kunstgeschichte als akademisches
Fach betrifft. Die Kunstgeschichte ist in ihrer bisherigen Erscheinung eine
klassische Autorenwissenschaft: der Autor bürgt für den Inhalt, dessen formale
Gestaltung, soweit sie den Inhalt tangieren (lineare Argumentation, Gliederung),
dem Verlag im Manuskript schon vorgegeben werden. Ganz anders verhält es sich
bei einem hypertextbasierten Themenraum, der auf zwei Ebenen der bisherigen
akademischen Arbeitsweise widerstreitet.
<36> Die Entwicklung einer Hypertextpräsentation im Internet verlangt erstens
verschiedenste Kompetenzen, die nicht mehr von einer Person erwartet werden
können. Dies erfordert dann aber eine große gegenseitige Akzeptanz unter den
Fachleuten, den Designern, Mediendidaktikern, Informatikern und
Fachwissenschaftlern, über ihre eigenen Fachgrenzen hinaus eine gemeinsame
Arbeitsbasis zu finden, um einen Themenraum erstellen zu können. Wahrscheinlich
werden die meisten guten Ideen schon an dieser Hürde scheitern.
Zweitens erfordert die Idee eines offenen Themenraums im Internet die
Bereitschaft, eigene Ideen anderen grundsätzlich zur Verfügung zu stellen.
Natürlich existiert auch im Internet das Gebot jedes Zitat zu kennzeichnen,
doch die freie Verfügbarkeit eigener Ideen wird so manchen Wissenschaftler
abschrecken und von der Mitarbeit an solchen Projekten Abstand nehmen lassen.
<37> Das wichtigste Vermittlungsmedium der Geisteswissenschaften war bisher das
Buch. Nicht jeder hatte es, zum Teil gelang es nur in die Hände der
Fachkollegen oder es war in Bibliotheken erhältlich. Und längst nicht jeder
konnte seine Ideen in einem Buch veröffentlichen. Diese Bastion untergräbt das
Internet ohne Rücksicht auf Widerspruch. Selbstkritisch schreibt daher der
Literatur- und Kulturwissenschaftler Norbert Gabriel, dass insbesondere "in
den Literaturwissenschaften und deren Institutionen weiterhin die romantischen
Vorstellungen von Kreativität und Originalität [kursieren]. Die
Buch-Technologie und die Haltungen, die sie unterstützt, sind die
Institutionen, die am meisten dafür verantwortlich sind, dass sich solche
Vorstellungen von Individualität und Einzigartigkeit des Autors und dessen
gegenseitigem Eigentum so lange gehalten haben […]". [25] Dies wird man auf alle
Geisteswissenschaften übertragen dürfen.
Das Internet steht dem Buch als Informationsquelle längst zur Seite. Darin
sollte man meines Erachtens weniger einen Verlust bemängeln, sondern vielmehr
den Gewinn einer kollegialen Wissenschaftskultur erkennen.
<38> Im Rahmen des Verbundprojektes prometheus
wird unter der Federführung der
Medienpädagogin Bettina Pfleging, der Designerin Tina Kindel und des
Archäologen Stefan Brenne in Zusammenarbeit mit weiteren Fachwissenschaftlern
ein Themenraum am Beispiel des Freskofundes in Altenstadt im Allgäu entwickelt.
Das Ziel ist die Entwicklung einer explorativen Lernumgebung, die keinen linear
fest strukturierten Inhalt vorgibt, sondern lediglich ein Netz an Informationen,
eine 'Wissenslandschaft' anbietet, welche der Anwender aktiv durchschreiten
muss, um sich sein Wissen von Altenstadt zu konstruieren.
<39> Da solche Themenräume bisher noch nicht realisiert wurden, haben die
Mitarbeiter/innen Neuland betreten müssen. Eine vorläufige Version kann man
zur Zeit unter http://prometheus.des.hs-anhalt.de
oder im geschützten Bereich unter http://www.prometheus-bildarchiv.de
testen. Aufgrund der sehr begrenzten Personalkapazität des Projektes
können anhand dieser Beta-Version lediglich das Prinzip des Themenraums und
seine Konzeption anschaulich vorgestellt werden. Dem Blick in die Werkstatt darf
gerne eine kritische und positive Rückmeldungen folgen.
<40> Da der Themenraum bereits zum Test zur Verfügung steht, beschränkt sich die
folgende Beschreibung auf einzelnen Bereiche und Grundfunktionen.
Der Bildschirm des Themenraums ist vertikal in zwei Teile geteilt. Auf der linken
Seite befindet sich der 'Überblicksbereich' mit Navigation und rechts der
'Detailbereich' zur Anzeige der Bilder, Filme und Texte. Der rechte Bereich soll
nochmals horizontal geteilt und unten durch einen 'Notizbereich' für eigene
Kommentare ergänzt werden. Alle Bereich sind in ihrer Größe dynamisch
anzupassen.
<41> Der Themenraum beginnt mit einem kleinen Intro, das kurz auf einzelne Problem- und
Themenfelder hinweisen und zur selbständigen Arbeit mit dem Themenraum
motivieren soll. Im Überblicksbereich am linken Rand befinden sich die 'Medien
und Informationscontainer', während innerhalb des Arbeitsbereiches die
einzelnen 'Kapitel/Themen' frei flottieren. Aktiviert man durch einen Klick eines
dieser Kapitel, dann kann man über den Medien- und Informationscontainer die
einzelnen Inhalte, Medien, Fragen und Probleme auf der rechten Seite aufrufen.
Dieses Design ermöglicht die Navigation vernetzter Inhalte, die nicht
hierarchisch gegliedert sein müssen, sondern deren Reihenfolge durch den
Anwender festgelegt wird. Grundsätzlich kann man so von jeder Information zu
einer anderen gelangen, auch wenn sie sich in einem anderen Kapitel befindet.
<42> Der Themenraum ist so konzipiert, dass die Inhalte sehr leicht ausgetauscht
und erweitert werden können. Der Prototyp eines Editors zur selbständigen
Erweiterung des Themenraums soll bis zum Projektende die konzeptionelle
Realisierung abrunden. Am Beispiel Altenstadt kann jeder Nutzer eine solche
Wissenslandschaft recht leicht betreten und testen. Es bleibt zu hoffen, mit
einem solchen Beispiel eine Diskussion auszulösen, die zwar sehr selbstkritisch
das Neue Medium betrachtet, aber den Blick vor allem auf die grundsätzlich
neuen Möglichkeiten der Präsentation kulturhistorischer Inhalten im Hypertext
richtet.
<43> Dieser Themenraum ist ein Beispiel und ein erster Versuch, die konzeptionellen
Möglichkeiten einer hypermedialen Lernumgebung aufzuzeigen. In einem ersten
Schritt wird er im Seminarkontext zur gemeinsamen Erarbeitung eines Themas
Anwendung finden. Doch schon in diesem Stadium wird deutlich werden, was ein
offener Themenraum im Internet leisten könnte. Unterschiedliche Kapitel
könnten von Autoren eingefügt, Medien und Texte ergänzt werden. Natürlich
kann man nach dem ersten Dezennium Internetgeschichte nicht alle Wünsche sofort
realisiert sehen. Und es wäre heute vermessen, einen leicht handhabbaren,
offenen Themenraum, an dem Wissenschaftler interdisziplinär arbeiten, anders
als eine Vision zu bezeichnen - meines Erachtens aber eine realistische Vision.
Sind die meisten Überblickswerke und Oeuvrekataloge schon kurz nach ihrem
Erscheinen aufgrund neuerer Erkenntnisse wieder veraltet, würde ein Themenraum
die Forschungsgeschichte als solche widerspiegeln.
<44> Wer hierin ein Plädoyer gegen das Buch erkennen will, wird enttäuscht sein.
Denn eines kann solch ein Themenraum nicht: ein bestimmtes Problem in einer
konzisen Argumentation darlegen. Dafür ist eine lineare Struktur notwendig, die
der Autor bestimmt. Da 20 Seiten Argumentation einfach zu mühsam sind, um am
Monitor gelesen zu werden, erweist sich ein (Online-)Aufsatz als das beste
Medium einer solchen Argumentation. Aber schauen wir kritisch in die eigenen
Publikationen, so müssen wir konstatieren, dass die meisten Seiten jeder
kunsthistorischen Literatur der sprachlichen Verknüpfung des Materials dienen,
das aus dem Blickwinkel des Mediums einem Themenraum mehr entsprechen würde als
einem Buch. Nahezu jede These und konzise Argumentation eines 500 Seiten langen
Buches ließe sich auf wenigen Seiten zusammenfassen. Das Buch wird nicht
verschwinden, aber durch die Neuen Medien wahrscheinlich auf seine eigentliche
Funktion verwiesen werden. Dafür könnten Konzepte wie das des Themenraums die
Aufgabe von Wissenslandschaften übernehmen. Infolgedessen könnte Douglas
Engelbart recht behalten, wenn er vermutet: "the digital revolution is far
more significant than the invention of printing". [26]
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