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Michael Brunner |
Der römische
Einfluss auf die Entwicklung des 'gusto classico' in der venezianischen
Malerei des späten 18. Jahrhunderts
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Im Jahr 1807 erhielt der in Rom tätige Maler Felice Giani den
Auftrag, sechs Innenräume des Palazzo Reale in Venedig auszumalen.
Es handelte sich dabei um das Appartement des Vizekönigs. Giani
wurde vermutlich engagiert, weil man ihn als einen progressiven Vertreter
eines internationalen Stils betrachtete. Noch zwei bis drei Jahrzehnte
zuvor wäre in Venedig weder sein postbarockes Stilrepertoire
akzeptiert worden, noch hätte man einen so prestigeträchtigen
öffentlichen beziehungsweise halböffentlichen Auftrag an
einen römischen Maler vergeben. Und doch wurden die grundlegenden
Voraussetzungen für eine solche Entwicklung in genau jenen Jahren
geschaffen. Damals wurde das Diktat der 'venezianità' in Frage
gestellt. Gerade in Fragen des Kolorits hatte die 'venezianità'
bis dahin ein Tabu für die lokalen Maler dargestellt. |
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Darüber hinaus setzte in Venedig allmählich eine Diskussion
darüber ein, ob denn das Ringen um nur einen einzigen gültigen
Leitstil sinnvoll sei. Diese Diskussion scheint erstmalig von dem
venezianischen Maler Pier Antonio Novelli bereits in den 1770er Jahren
aufgeworfen worden zu sein. Novelli vertrat die Ansicht, dass der
Maler je nach Sujet und Bildcharakter zwischen unterschiedlichen Stilmöglichkeiten
und 'gusti' variieren sollte. Novelli konzipierte einen Traktat, in
dem er rund zwanzig verschiedene Stile herausarbeitete. Der Maler
war einer der ersten, der das Prinzip der freien Stilwahl explizit
propagierte. Möglicherweise verarbeitete sein Konzept auch Anregungen
von Antonio Canova, mit dem Novelli in Rom Konversation geführt
hatte, wie wir aus Canovas Tagebuch entnehmen. Novellis Traktat ging
nie in Druck, dennoch trug seine rege Lehrtätigkeit in den verschiedenen
akademischen Kreisen ihre Früchte. Das Ausmaß von Novellis
Einfluss ist allerdings schwer abzuschätzen, da seine eigene
Kunstproduktion hinter den auf dem Papier formulierten Ansprüchen
hinterherhinkte und daher nur eine eingeschränkte Vorbildwirkung
entfalten konnte. Es waren vor allem die anderen Maler, die Novellis
Ideen umsetzten, unter ihnen dessen Sohn Francesco. Bereits in den
1790er Jahren beobachten wir in der venezianischen Kunstlandschaft
einen bemerkenswerten Stilpluralismus. |
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Es war nach meiner Ansicht zuvor Pier Antonio Novelli, der das 'colorire
romano' in die venezianische Malerei eingeführt hat. Ich behaupte
dies nicht nur, weil Novelli nachweislich die Schriften von Mengs
studierte. Eine allererste Spur des 'colorire romano' entdecken wir
in Novellis allegorischem Gemälde, das der Maler der Accademia
in Venedig stiftete. (Abb.) Es entstand aus Anlass von Novellis Aufnahme
in die Akademie 1768. Novelli malte es 1771, und im Jahre 1776 führte
er Ergänzungen am rechten Bildrand aus. Welche Botschaft steckt
nun in diesem Bild? Es stellt zunächst einmal die Allegorien
des 'Colore' (mit der Palette), des 'Disegno' (mit dem Griffel) und
der 'Invenzione' dar. Die Invenzione ist exakt nach den Angaben in
Cesare Ripas' 'Iconologia' dargestellt: eine weibliche Gestalt in
weißer Kleidung, mit geflügeltem Haupt, in ihren Händen
das 'simulacro della natura'. |
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Abb. |
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Darüber hinaus entdecken wir versteckte, aber signifikante Attribute:
Es sind Bücher. Die Beschriftung der Buchrücken verrät,
um welche Autoren es sich handelt: Es sind die Schriften von Vasari
und Lanzi. Novelli scheint sich in diesem Bild zu den Idealen der
florentinisch-römischen Schule bekennen zu wollen. Diese Vermutung
unterstreichen zwei Schlüsselmotive im Bild: Zum einen sind die
Augen des 'Colore' auffällig verschattet. Dem 'Colore' ist keine
Erleuchtung vergönnt. Er wartet vergeblich auf die Eingebung.
Stattdessen fällt das Licht auf das Haupt des 'Disegno'. Und
in unmissverständlicher Weise neigt sich ihm, dem 'Disegno',
die 'Invenzione' zu. Novelli stellt hiermit klar: Bei ihm nimmt die
Zeichnung einen höheren Rang ein als die Farbigkeit. Ihm Hinblick
auf die Jahrhunderte währende Rivalität zwischen dem venezianischen
Kolorismus und der römischen Kunst der Linie nimmt der junge
Novelli in diesem Bild eine recht mutige Position ein. Und in der
Tat deckt sich die Malweise mit dem rhetorischen Bildaussage. Die
Linienführung ist mit einer Präzision ausgeführt, die
an die Malerei des Cinquecento erinnert. Man beachte beispielsweise,
mit welcher Sorgfalt die Füße und Zehen gezeichnet sind.
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Kehren wir nun zurück zum 'colorire romano': Gerade in dem gedeckten
und mit verschiedenen Brauntönen vermengten Grün des Gewandes
erkennen wir hier einen frühen Versuch, nach den Grundsätzen
von Rafael Mengs zu malen. Die gesamte farbliche Erscheinung des Bildes
unterstreicht unsere Beobachtung. Die in Venedig so beliebten stofflichen
Effekte durch Lichtreflexe werden bewusst vermieden. Die Palette der
Buntfarben ist sehr reduziert. Es treten zudem keine gesättigten
Farbpartien auf. |
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Wenige Jahre später hatte Novelli die Gelegenheit, das 'colorire
romano' an seinem Entstehungsort zu studieren. Von 1779 bis 1781 arbeitete
Novelli gemeinsam mit seinem Sohn Francesco in Rom. Es sollte sein
einziger Romaufenthalt bleiben. So sehr sich Novelli in späterer
Zeit um eine Rückkehr nach Rom bemühte, sie blieb ihm vergönnt.
Ebenso erfolglos verlief Novellis insistierendes Buhlen um einen Auftrag
in Florenz. Aus Novellis Korrespondenz wird deutlich, dass ihn das
Arbeiten in den Zentren Rom und Florenz mehr reizte als in seiner
venezianischen Heimat. Der Anlass der Romreise 1779 war der prestigeträchtige
Auftrag, einen Raum der Villa Borghese auszumalen. Während dieser
Zeit malte Novelli auch andere Leinwandbilder, die er aus Rom nach
Venedig schickte. Das wichtigste dieser Werke ist sein monumentales
Abendmahl für den Konvent San Lazzaro degli Armeni. In venezianischem
Privatbesitz existiert ein unpublizierter Bozzetto in Öl. Bislang
war noch kein einziger Bozzetto Novellis in Öl bekannt, so dass
man den Eindruck gewinnen konnte, Novelli habe seine Bozzetti stets
als farbige Aquarelle ausgeführt. Diese These ist mit diesem
noch unpublizierten Neufund von der Hand zu weisen. Die Signatur informiert
explizit, dass Novelli diesen Bozzetto erst in Rom entwarf. Es war
also kein venezianischer Entwurf, der dann schließlich in Rom
zur Ausführung kam. Als der Maler nach Rom reiste, war ihm die
Ausführung des Abendmahls möglicherweise noch nicht endgültig
zugesichert. Am Ende entstand eines der interessantesten Leinwandbilder
im Oeuvre Novellis, das ja bekanntlich im allgemeinen nur eine mediokre
Qualität aufweist. |
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Zweifellos war Novelli als Zeichner talentierter denn als Maler. Der
'Disegno' spielt auch in diesem Werk eine entscheidende Rolle. Das
Abendmahl mit lebensgroßen Figuren ist vielleicht das 'klassischste'
aller Werke Novellis. Nicht nur das Format, auch die Figuren entwickeln
eine monumentale Präsenz, wie wir sie sonst in keinem anderen
Werk Novellis finden. Der Maler bemüht sich um einen antikischen,
fast reliefartigen Charakter. Dieser Eindruck entsteht nicht zuletzt
dadurch, dass die Gestalten in der streng frontalen und relativ nahsichtigen
Bildperspektive horizontal aneinander gereiht sind. Der Blickpunkt
des Betrachters ist so gewählt, das er sich etwa auf gleicher
Ebene mit den sitzenden Apostel befindet. Die Darstellung ist daher
auf die reale Situation im Refektorium des Konvents zugeschnitten.
Die Komposition ist betont achsensymmetrisch. Das ruhende Zentrum
des Bildes ist die Christusgestalt. Zu den seitlichen Bildrändern
hin werden die Figuren immer lebhafter. Das Bild verrät auch
in seiner Farbigkeit eine Schulung des Malers an der Kunst des Cinquecento.
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Nach seiner Rückkehr aus Rom beschränkte sich Novelli jedoch
in seiner Farbpalette nicht auf das 'colorire romano', sondern reagierte
variabel im Hinblick auf Ort und Besteller. Für monumentale Deckenfresken
hielt er weiterhin das venezianische Kolorit für geeigneter,
wie beispielsweise seine 1784 erfolgte Ausmalung des von Giannantonio
Selva errichteten Palazzo Pisani in Padua dokumentiert. Hier werfen
wir einen Blick in die Sala Grande. Vor allem die unteren Wolkenformationen
wirken sehr venezianisch. Für die Fassade hingegen entwarf er
eine Dekoration "nel gusto delle cose di Ercolano“, wie
Novelli in seinen Briefen erläuterte. Im Zentrum der Dekoration
standen frei in der Luft schwebende Tänzerinnen und Musikantinnen.
Es haben sich davon nur sehr fragmentarische Reste der Malereien an
der rückwärtigen Gartenfassade erhalten. Die Malereien bildeten
eines der seltenen Beispiele der 'Pittura Ercolana' als Außendekoration.
Seit der Mitte der achtziger Jahre erfreute sich der internationale
'gusto ercolano' auch im Veneto zunehmender Beliebtheit in der Innenausstattung
der Häuser und Paläste. Dabei ist bei verschiedenen Künstlern
die Tendenz zu beobachten, Raumausstattungen mit einer geradezu archäologischen
Präzision den Funden aus Ercolano und Pompei nachzubilden. Einige
Maler wie Novelli studierten und exzerpierten daher die Publikationen
der Funde aus dem Golf von Napoli. Authentizität war gefragt.
Der Künstler dieser Zeit entwickelte sich zunehmend zu einem
historischen Gelehrten und so manches Mal sogar zu einem archäologischen
Wissenschaftler – ich verweise hier auch auf die wichtigen Restaurierungen
von Giuseppe Angeli in San Rocco und von Novelli im Palazzo Ducale,
die letztlich aus einer geistesverwandten Einstellung resultieren.
Es war eine Neuheit, dass Künstler begannen, alle denkbaren Bild-
und Schriftquellen wie zum Beispiel Kostümbücher zu konsultieren.
Von der Hand Novellis existieren unpublizierte Fragmente von Musterbüchern
im Seminario Patriarcale, die solche Dokumentationen enthalten, und
zwar sogar mit Quellenangaben. |
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Wie wir bereits feststellten, ist der 'gusto ercolano' nur einer von
zahlreichen 'gusti'. Der Terminus 'gusto' hatte sich nun als eine
zentrale Kategorie der bildenden Kunst etabliert. Wenn wir einen Blick
auf andere Künste werfen, stellen wir fest, dass dies in der
Musik schon deutlich früher zu beobachten ist. Dem Stilwandel
der venezianischen Malerei geht eine Pionierleistung in der Architektur
voraus. Tommaso Temanza hat mit dem erstaunlich kompromisslosen klassischen
Bau von Santa Maria Maddalena in Padova ab 1760 neue Maßstäbe
gesetzt. Es überrascht daher nicht, dass er engste Verbindungen
zu dem Rom-orientierten Maler Pier Antonio Novelli und zu Francesco
Milizia unterhielt. Temanzas Briefe an Milizia aus den Jahren 1760-63
sind von der Begrifflichkeit der Aufklärung geprägt und
bilden ein frühes Manifest klassischer Kunsttheorie. Ein Teil
der originalen Korrespondenz zwischen Temanza und Milizia befindet
sich heute in Venedig und wird im Seminario Patriarcale verwahrt.
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Es ist hier nicht der Ort, alle 'gusti' der 1780er und1790er Jahre
in Venedig aufzulisten. Daher wollen wir uns auf den Hinweis beschränken,
dass eine analoge Entwicklung in der Malerei natürlich auch auf
dem Gebiet der Grafik zu beobachten ist. Interessanterweise ist die
Entwicklung zwar analog, aber nicht wirklich parallel. Nehmen wir
einmal das Beispiel der Wiederentdeckung Rembrandts. Sie ist ein Phänomen,
das nur in der Grafik, nicht aber in der Malerei zu beobachten ist.
Hier spielte Venedig eine historisch bedeutsame Rolle, und zwar in
der Person von Francesco Novelli, der auf Anregung seines Vaters Pier
Antonio um 1790 begann, intensiv die Radierkunst Rembrandts zu studieren.
Er kopierte nicht nur dessen Arbeiten (wie wir links sehen), sondern
schuf auch neue Werke in dessen Stil. Es geschah sogar, dass Francesco
venezianische Vorlagen seines Vaters in die malerische Manier Rembrandts
übersetzte. |
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Ziehen wir ein Fazit: Ab etwa 1780 beobachten wir eine zunehmende
Rezeption römischer Einflüsse in der venezianischen Malerei.
Folgerichtig notieren wir in dieser Zeit (und zwar im Jahre 1785)
auch eine erstmalige Präsenz aktueller römischer Malerei
an öffentlichen Orten in Venedig, nämlich ein Altarbild
von Domenico Corvi in der Chiesa del Redentore. Darüber hinaus
kann man aus den Korrespondenzen der Künstler und Agenten ersehen,
dass man in Venedig nun die aktuelle römische Kunstproduktion
mit größerer Aufmerksamkeit verfolgte als zuvor. Ich möchte
dies an einem kleinen Beispiel demonstrieren: Als Giuseppe Cades 1780
sein für eine Genueser Altarkirche bestimmtes Altarbild in Rom
ausstellte, musste er Kritik einstecken. Das Thema war die Heilige
Familie. Dem Maler wurde jedoch vorgeworfen, dass seine Josephsfigur
eher einem antiken Feldherrn glich. Diesen Vorfall nahm man auch in
Venedig zur Kenntnis. Dort behandelte man mit Sensibilität die
Frage, wie weit sich die Innovationen mit dem Dekorum vereinbaren
ließen. Diese Sensibilität offenbarte sich beispielsweise
1786 in der öffentlichen Diskussion um ein Altarbild für
die Kirche San Tomà, das in der antiken Wachsmaltechnik ausgeführt
und schon nach wenigen Jahren ersetzt wurde. |
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Das 'colorire romano' verliert nach 1800 relativ schnell an Bedeutung.
Die Epoche der politischen Umwälzungen bewirkte offensichtlich
auch eine Kurzlebigkeit und verwirrende Heterogenität im Kunstbetrieb.
Charles Dickens charakterisierte das Zeitalter der Revolution in seinem
Roman 'A Tale of Two Cities' mit folgenden Worten: "Es war die
beste, es war die schlechteste aller Zeiten. Es war das Zeitalter
der Weisheit, es war das der Torheit, es war die Epoche des Glaubens,
es war die des Unglaubens...“ |
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Giannantonio Armani – Kunstsammler und Agent für die Florentiner
Uffizien und im übrigen ein enger Freund des Malers Novelli –
hat die Entwicklung im damaligen Kunstbetrieb mit folgenden Worten
beklagt: "Gli schiribizzi della moda della pittura moderna hanno
guastato ad un tratto tutte le scuole d’Italia“. Es hätte
ihn wohl tief bestürzt, hätte er erfahren, dass heutige
Kunsthistoriker die Epoche um 1800 gerne als die "Geburt der
Moderne“ apostrophieren. |
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Autor |
Dr. Michael Brunner
Kulturreferent der Stadt Überlingen
Steinhausgasse 1
88662 Überlingen
m.brunner@ueberlingen.de
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Empfohlene
Zitierweise:
Michael Brunner: Der römische Einfluss auf die Entwicklung
des 'gusto classico' in der venezianischen Malerei des späten
18. Jahrhunderts, in: zeitenblicke 2 (2003), Nr. 3 [10.12.2003],
URL: <http://www.zeitenblicke.historicum.net/2003/03/brunner.html>
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