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Lea Ritter-Santini
Essayistin, Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft
an der Universität Münster, Mitglied der Deutschen Akademie
seit 1979. Ihre Arbeiten gelten in Italien als maßgebliche
Stimme in der Vermittlung deutscher Kultur. Zu ihren wichtigsten
Schriften zählen: Mit den Augen geschrieben (München 1991),
Da Vienna a Napoli in carrozza. Il viaggio di Lessing in Italia.
(Ausstellungskatalog Neapel 1991), (dt. Ed.: Eine Reise der Aufklärung
– Lessings italienische Reise, 1993); Ganymed. Ein Mythos
des Aufstiegs in der deutschen Moderne (München 2002). |
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"...mit ihnen wurde die Welt venezianisch".
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Steffi Roettgen im Gespräch
mit Lea Ritter-Santini |
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<1> Frau Ritter-Santini, können
Sie sich vorstellen, dass sich eine neue Perspektive ergibt, wenn
man Venedig einmal nicht als Insel sui generis, sondern als Drehscheibe
in diesem europäischen Karussell aus Politik, Diplomatie, Kultur
und Amüsement versteht? Reichtum und Macht sind nicht
von der Politik zu trennen; sie bestimmen Maß und Bedeutung
der Kultur und die Richtung ihres Austausches. In dem geographisch
und historisch besonderen Raum der venezianischen Lagune könnte
die politisch europäische Perspektive als neu erscheinen, sie
gehört jedoch vielmehr zum Charakter der Stadt und ihrer Geschichte.
Ein Gemälde wird mir helfen, dies deutlicher zu zeigen. Seit
der Spätrenaissance berieten Adlige und Kaufleute, Politiker
und Seekapitäne über Regierungsgeschäfte, vergaben
und erhielten Aufträge, betrieben den Handel und erwarteten
Botschaften und Nachrichten vom Kriege in der Sala di riunione des
Collegio im Dogenpalast. Zwischen 1575 und 1577, fünf Jahre
nach der Schlacht bei Lepanto, dem Triumph über die 'unbesiegbare'
türkische Flotte malte Paolo Veronese auf der Decke des Collegio
seine 'Venezia dominatrice' zwischen Gerechtigkeit und Frieden und
auf acht Feldern acht Allegorien bürgerlicher Tugenden: Moderazione
und Mansuetudine, Fedeltá und Vigilanza also Mäßigung,
Sanftmut, Treue, Wachsamkeit. Die bekannteste unter ihnen ist jedoch
die Industria (oder die Dialektik), die blonde, üppige Venezianerin,
die zwischen ihren Fingern eine Spinnwebe, das alte Symbol des Ingeniums,
des Verstandes hält und die Symmetrie der Fäden gegen
den Himmel betrachtet. Industria bedeutet Fleiß, ein mit Absicht
geführtes Tun; ihr Gegenbegriff ist Ignavia, das untätige,
faule Nichteingreifen. Im Zeichen des erfinderischen Geistes und
der logischen Argumentation sollten die Mächtigen wie die einfachen
Bürger jenen Tugenden folgen. Es wundert kaum, dass auf keinem
Feld die Allegorie der Stadt als Beschützerin der Künste
dargestellt ist: Sie gehört zur Industria, die mit der Kunst
der Überredung, mit ihrem subtilen Netz umgarnen kann. Mit
den Mitteln der Rhetorik kann sie verführen, weil sie ihre
Ars, ihr Handwerk kennt. Es gibt eine Kontinuität der Bilder
und der Symbole, die das politische Vergessen überleben, die
Handlungsmuster und psychologische Macht der Tradition vermitteln.
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Für das Thema des Kolloquiums sind zwei historische Konstellationen
von zentraler Bedeutung, da sich aus ihnen die Achse Dresden-Venedig-Rom
ergibt. Die eine beruht auf der Wahl des Paduaner Bischofs Carlo Rezzonico,
der einer neu geadelten und sehr reichen Familie der Serenissima entstammte,
zum Papst im Jahr 1758. Die andere war die kostspielige und langdauernde
Begeisterung des sächsischen Kurfürsten und polnischen Königs
August III. für Venedig, das er mehrfach besucht hatte und das
seinen Kunst- und Luxusgeschmack geprägt hat. Aus einer persönlichen
Leidenschaft wurde hier ein kulturelles Programm, wie man nicht nur
an den Bilderkäufen für Dresden ablesen kann, sondern vor
allem an der infolge dieser Begegnung einsetzenden Pflege der Musik
und Malerei am Dresdner Hof. Der Kurfürst schickte sogar deutsche
Musiker zur Ausbildung und schließlich auch seinen Hofmaler
nach Venedig. Wie ist diese einem modischen Trend folgende
Begeisterung der deutschen Fürsten des 18. Jahrhunderts für
Venedig zu beurteilen? Ging es hier nur um Luxus, Kunst und Vergnügen,
bestenfalls um Repräsentation, oder muss man ihr auch eine
poetische Komponente zusprechen, wie sie später so prägend
für das Venedigerlebnis der 'oltramontani' wurde?
Ich würde weniger von einer poetischen Komponente in dem Venedigerlebnis
fremder Reisender sprechen als von dem Plan, den es zu realisieren
galt, die pädagogische Provinz einer Erziehung zum 'Uomo di
mondo' zu erobern. Selbstverständlich gehörten die Kunst,
die Form und die Eleganz des Vergnügens, sowie die Einblicke
in die Geschäfte der Diplomatie und der Politik dazu; sie bedeuten
mehr als Repräsentation, wenn das Erlernen des Lebens menschliche
Dimensionen haben soll. Die guten Sitten wie die erotische Freiheit
mussten erprobt werden und dies konnte in der glücklichen Verbindung
von imaginierter und erlebter Wirklichkeit, in dem freien Raum einer
lockeren Überwachung geschehen. Gelernt wurde sicher eine im
Norden noch als ungenügend empfundene Ästhetisierung des
Lebens, eine noch nicht als solche gedachte aber schon erwünschte
Integration des Eigenen mit dem Fremden. Malerei und Musik als nicht
sprachgebundene, also übernationale Künste bleiben die
beliebten Mittel, um die Zugehörigkeit zu einer idealen Gemeinschaft
in der Realität wie in der Erinnerung zu schaffen.
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<3> Die reiche Reiseliteratur des 18.
Jahrhunderts zu Venedig ist, wenn ich richtig informiert bin, in den
letzten Jahren auch seitens der vergleichenden Literaturwissenschaft,
verstärkt gesammelt, gesichtet und ausgewertet worden. Kristallisieren
sich hierbei topische Muster für die Wahrnehmung der Stadt und
ihres Lebens heraus? Eine Zeitlang hat die Literaturwissenschaft
Venedig gern als das magnetische Feld von Reiseberichten und Tagebucheintragungen
bemessen. Die neueren Studien, vor allem Bernhard Dieterles Buch
haben die Aufmerksamkeit auf den literarischen Venedig-Mythos gerichtet.
Dieterles 'akustischer Einsatz' ist sicher originell: in seiner
'Versunkene Stadt' (1995) erklingt der 'famose Gesang' der Gondolieri
als Leitmotiv der Interpretation. Tassos Strophen aus der 'Gerusalemme
liberata', die in ihrer Mischung nach Nacht, Ferne, Wasser und Müßiggang
eines Mythologen, dem auch Goethe huldigte, beschwören den
Zauber der Stadt literarisch herauf. Diese musikalische Komponente
kennzeichnet das Erlebnis der späteren Venedig-Bürger
wie Richard Wagner, Gabriele d’Annunzio, Thomas Mann. Die
Versuchung, die ästhetische Suggestion der Stadt in einigen,
für die bildende Kunst und Literatur gemeinsamen Formen der
Fiktion zu bündeln, hat nicht immer zu überzeugenden Aussagen
geführt. Unterschiedlich bleibt die Art der Analyse: dem XVIII.
Jahrhundert sind eher gelehrte Studien gewidmet worden, während
im Schatten von Wagner, Marcel Proust, Rilke und Hugo von Hofmannsthal
eine 'Carte du Tendre' der modernen Sensibilität gezeichnet
wird. Zu erwähnen wären aber auch die von italienischen
Forschern (L. Lorenzini und A. Andreoli) geleisteten Interpretationen
der Venedig-Literatur, die etwa in den Kommentaren zu d’Annunzios
Romanen zu lesen sind.
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<4> Gibt es Anzeichen dafür, dass
zwischen den Veduten venezianischer Maler, die die Reisenden mit nach
Hause nahmen, und ihrer schriftlich protokollierten Wahrnehmung ein
Zusammenhang bestehen könnte? Verkörpern die Bilder eine
Strategie der Wahrnehmung der Stadt, die auf diese Weise auch später
immer wieder abrufbar war wie das zum Beispiel für die Rom-Veduten
von Piranesi gilt? Diese Parallelisierung könnte für
die Topographie der Orte gelten und einige Übereinstimmungen
zwischen den mit nach Hause gebrachten Veduten der venezianischen
Maler und den Aufzeichnungen der Reisenden zeigen. Die Morphologie
des Schreibens unterliegt jedoch anderen Gesetzen, wenn man von
den bloßen visuellen Erinnerungsstützen absieht: die
Piazzetta oder die Riva degli Schiavoni können leer oder von
'Saltimbanchi' und Seeleuten bevölkert sein. Die literarische
Lust; sie festzuhalten wird sie – je nach 'maniera' der Epoche
und der Stunde, in der sie nachgezeichnet werden – verändern.
Sie erzählen vom schreibenden Ich mehr als von den Wahrnehmungen
der fremden Realität.
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<5> Seinem formalen Status nach war
Venedig eine Republik und wurde von den Europäern als Stadt der
Freiheit erlebt. Welche Auswirkungen hatte dies auf die Zugänglichkeit
zu brisanter und aufmüpfiger Literatur, die zum Beispiel im Kirchenstaat
nicht zur Verfügung stand. Merkt man am Literaturbetrieb Venedigs
im 18. Jahrhundert etwas von diesen Freiheiten? Schon Pietro
Aretino verließ Rom, wo er wegen seiner übermütigen
Schriften verfolgt wurde und wählte Venedig als Zufluchtsort,
um seine scharfe Feder so einzusetzen, dass sie frei treffen und
verwunden konnte. In Venedig sind einige der anzüglich provozierendsten
Komödien der italienischen Literatur entstanden, die 'Cortigiana',
'La Talanta', aber auch der 'Dialogo delle corti' (1538), alle von
der Luft und den Sitten des venezianischen Lebens inspiriert. In
Venedig wurden auch seine lasziven Ragionamenti geschrieben, die
Korruption und sexuelle Libertinage widerspiegeln. Das XVIII. Jahrhundert
bewahrte das Gedächtnis dieser sinnlichen und literarischen
Freiheit, die über ein – viel zu oft unterschätztes
– Mittel verfügt : den venezianischen Dialekt mit dem
semantischen Reichtum seiner Worte und Metaphern. Carl Ludwig Fernow,
der erste Dialektforscher am Hofe zu Weimar bescheinigt dem venezianischen
Dialekt (1802) "sanft, gefällig und einschmeichelnd zu
sein.“ "So macht diese Mundart gewissermaßen einen
Gegensatz mit dem Römischen, welche auch in einem weiblichen
Munde durch ihren vollen runden Klang imponiert; während das
Venezianische selbst im Munde eines Mannes etwas Tändelndes,
Kindisches an sich hat.“ Unter den Werken der venezianischen
Dichter – in Dialekt geschrieben – nennt er auch die
'Raccolta universale delle Opere di Giorgio Baffo Veneto' (1789).
"Diese Gedichte sind eben so witzig und gewandt in der Behandlung,
als schmutzig von Inhalt". Sie gehören in ihrem kindisch
pornographischen 'Tändeln' zu jener venezianischen Freiheit,
die der Stato della Chiesa nur verwerfen konnte.
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<6> Die Aufklärung hatte in Venedig
selbst keinen Hort, dafür aber im benachbarten Padua, das zur
Terraferma gehörte und eine andere Verwaltung hatte, das aber
zur Republik Venedig gehörte. Hier wie auch in anderen Städten
des Hinterlandes, zum Beispiel Bassano und Verona, entfalten sich
neue Ideen zu Politik Wissenschaft und Kultur, die den französischen
Aufklärern kaum nachstehen und die eine breite europäische
Resonanz fanden. Erwähnt seien Scipione Maffei, der Padre Lodoli,
der Astronom Giuseppe Tealdo, der Kosmopolit Francesco Algarotti.
Meinen Sie aus Ihrer Kenntnis der aufklärerischen Netzwerke,
dass Deutschland an diesem internationalen Verbund gelehrter und illuminierter
Geister partizipierte und wie? Die aristokratischen Familien,
die in Venedig das soziale und politische - also auch das kulturelle
– Leben bestimmten, waren in alten, oligarchischen Herrschaftsformen
erstarrt. Die unruhigeren, neugierigeren, leidlich geduldeten Köpfe
zogen es vor, in Vicenza, Verona oder in der Universitätsstadt
Padua zu leben und zu forschen. Man soll aber nicht vergessen, dass
gerade Venedig ein besonders fruchtbarer Boden für die Rezeption
neuer Gedanken und neuerer ästhetischer Formen war. Anfang
des XVIII. Jahrhunderts erwachten große Unternehmungen wie
die 'Società letteraria Albrizzana' neu und in der zweiten
Hälfte blühte das Verlagswesen. Ausgezeichnete Drucker
besorgten wunderbare Editionen von alten und neuen Werken; bekannt
waren nicht nur die Remondini in Bassano oder die Volpi und Comino
in Padua, sondern auch die Verleger Pasquali, Bettinelli, Occhi
und Zatta in Venedig. M. de Lalande scheinen die Coleti in Venedig
“les plus savans libraires de l’ Europe“, wie
er in seiner 'Voyage en Italie' schreibt. Man soll auch die Zahl
der Journale, Zeitschriften und Gazetten nicht unterschätzen,
die von venezianischen Aufklärern gegründet und herausgegeben
wurden. 1710 wird in Venedig 'Il Giornale dei letterati d’Italia'
von Apostolo Zeno gegründet, an dem Maffei und Vallisnieri
mitarbeiteten. 1725 beginnt die 'Biblioteca Universale' oder 'Gran
Giornale d’Europa' über Werke der Wissenschaft und der
Gelehrsamkeit zu berichten. Venedig, die Stadt der Verleger und
Buchhändler wurde das aktive Zentrum des Journalismus und bildete
den Resonanzboden für die Ideen der Aufklärung. 1760 /
1761 war Gaspare Gozzi, dann Pietro Chiari - Nachahmer und Antagonist
von Carlo Goldoni - Herausgeber der 'Gazzetta Veneta'. 1763 gründete
Medoro Ambrogio Rossi die 'Biblioteca moderna', die Berichte über
neue Bücher und literarische Nachrichten veröffentlichte.
In der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts ahmt man in Venedig
die englischen Magazine nach – ein erster Schritt auf dem
Wege zu einem rein literarischen Journal. Bemerkenswert für
autonome Urteile war 'il Magazzino Italiano'. Die wichtigste venezianische
Zeitschrift jener Jahre war jedoch 'L’Europa Letteraria' (1768-73)
von Domenico Caminer, dann 'il Giornale Enciclopedico' und 'il Giornale
letterario d’Europa'. Besondere Bedeutung bekam jedoch 'il
Giornale di letterature straniere', das – immer in Venedig
– von Melchiorre Cesarotti und der Gräfin Fanny Morelli
gegründet wurde. Man ist geneigt, mit Vorliebe im einzelnen
Gelehrten oder Literaten wie Scipione Maffei oder Francesco Algarotti
den Glanz der 'cultura veneta' zu sehen und blendet leicht das dichte
Netz aus, das es ihnen erlaubte, ihr Werk bekannt zu machen und
sie als glaubwürdige Vertreter ihrer Epoche erscheinen zu lassen.
In Deutschland wusste man dies sehr genau: man braucht nur die Korrespondenzen
- etwa in Wielands 'Merkur' - zu lesen oder das Register des 'Magazin
der italienischen Literatur und Künste', von C. I. Jagemann
in Weimar herausgegeben, um alle Namen mit den Übersetzungen
ihrer Werke zu finden, die besprochen wurden: vom Atlas des Herrn
Zatta zu Venedig, von den Briefen Alberto Fortis bis zu einem Bericht
über Filippo Farsetti.
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<7> In Ihrem Standardwerk über
Lessings Italienreise von 1775 haben Sie wie ein minutiöser Chronist
jede einzelne der Stationen beleuchtet, die Lessing gemacht hat und
ein Bild der Situation und der Menschen gegeben, die er in intellektueller
und künstlerischer Hinsicht dort vorfand beziehungsweise was
ihn an den Städten interessierte, die er besuchte. Wie würden
Sie das für das sehr kurze venezianische Intermezzo resümieren?
Lessing erlebte am 22. Mai 1775 in Venedig eines der glanzvollsten
Feste der Epoche: den Besuch des Kaisers Joseph II. von Österreich
und seiner Brüder, des Großherzogs Leopold von Toscana
und der Herzöge von Parma und Modena. Der Prinz von Braunschweig,
den Lessing auf dessen italienischer Reise begleitete, bezahlte
dreizehn Zechinen, um ein Boot zu mieten und den Bucintoro, das
Schiff des Dogen aus der Nähe zu sehen. Er gab aber auch zehn
Zechinen aus für einen Mantel und die Bauta, die Maske, unverzichtbare
Requisiten, ins Theater zu gehen und in Venedig incognito zu leben.
Lessing war aber auch der erste Reisende, der um die Melancholie
und die Ambivalenz der Stadt wusste: "Einer von meinen ersten
Gängen hier in Venedig ist nach San Cristoforo gewesen, schrieb
er zehn Tage später an seine geliebte Eva “um zu sehen,
wo unser Freund ruht und seinem Andenken und seinem Grabe eine aufrichtige
Träne zu schenken. Der nehmliche Mann, in dessen Armen er gestorben,
hat mich herausgebracht, von welchem ich auch die Versicherung erhalten,
dass es mit seinem Tod sehr natürlich zugegangen. Ich weiss,
dass Sie einmal nicht ohne Argwohn waren, und desfalls ruhig zu
sein wünschten. Das können Sie nun.“
Der Tod in Venedig wartete nicht auf Gustav von Aschenbach, nicht
auf Thomas Manns 'Argwohn' gegen die Venezianer; dass der Tod in
Venedig Engelbert König, den Freund, Besitzer von Webstühlen
in Hamburg und in Wien, Ehemann von Eva, die ihm vor der Reise anvertraut
wurde, getroffen hatte, war Grund einer Trauer, die sich mit seiner
Hypochondrie mischte. Winckelmann, den man gerne und immer wieder
mit Lessing vergleichen wollte, war nur einige Jahre früher
in Triest gestorben. Später wird Herder die zweideutige Atmosphäre
der Stadt anmerken, ihre Verbindung von Korruption und Gefahr. Lessing,
der “mit seinem Kopf reiste“, wusste um die Tätigkeit
der venezianischen Journale und Zeitschriften, seine Miss Sara Sampson
war in Venedig von Elisabetta Caminer übersetzt und veröffentlicht
worden, “eine Tochter“ schreibt er “des H. Domenico
Caminer, welcher das Journal 'Europa letteraria' herausgibt.“
Dass er in Venedig nur eine – nicht einmal berühmte –
Komödie Goldonis ('Il Raggiratore') kaufte, beweist, dass er
das venezianische Theater und Goldoni sehr gut kannte. Er hatte
sich doch schon in der 'Hamburgischen Dramaturgie' an Goldonis Werk
gemessen: "Was Goldoni für das italienische Theater tat,
der es in einem Jahr mit dreizehn neuen Stücken bereicherte,
das muss ich für das deutsche zu tun, folglich unterlassen.“
Auch wenn Goldonis 'Commedie nuove' sechzehn und nicht dreizehn
zählten, dürfte Lessing in Venedig neben allem, was "zu
besehen“ war, das Musiktheater und die prachtvollen Aufführungen
jener Wochen nicht versäumt haben.
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<8> Welche Stellung nimmt Ihrer Ansicht
nach Venedig im Konzert der italienischen Attraktionen des 18. Jahrhunderts
ein? Vielleicht können Sie dies – unter Berücksichtigung
der Reise von Lessing – in Form einer Ranking List beantworten.
Selbst auf die Gefahr hin, dass man damit wieder nur die Klischees
bedient, sagt ein solcher Vergleich vielleicht etwas darüber
aus, welche Zuordnungen kanonisch waren. Venedig bleibt die
erste große Attraktion – schon aus geographischen Gründen.
Im XVIII. Jahrhundert war sie von Wien aus leichter als jede andere
italienische Stadt zu erreichen, etwa Bologna mit ihrem Istituto
delle Scienze oder Florenz mit dem Wunder der 'Tribuna' in den Uffizi,
kanonische Etappen jeden Kavaliers – wie später jeder
Bildungsreise. Mir scheint aber, dass jener Wunsch, dem Goethe in
seiner italienischen Reise nachgibt, so schnell wie möglich
Rom zu erreichen, eine spätere sentimentale Färbung in
der Topographie der deutschen Italienreisen bewirkt hat. Wenn nicht
ausdrücklich fromme Pilger, waren nordische Reisende Protestanten
festen Glaubens: das bunte Treiben der römischen Soutanen und
roten Umhänge von Monsignori und Kardinälen dürften
ihnen, wenn nicht frivol, so doch fremd erschienen sein. Vergleicht
man die weltlich gewandte Lagunenstadt mit Rom als Gegenbild, riskiert
man eine verkürzte Perspektive der italienischen Kunst- und
Lebenserfahrung fremder Reisender. Sicher, nach der Wahl von Clemens
XIII., Rezzonico waren die Beziehungen zwischen Rom und Venedig
bevorzugt. Die Stadt jedoch, die im XVIII. Jahrhundert als besonders
sehenswert und als Höhepunkt der Reise galt, war nicht Rom,
sondern Neapel. Man vergisst zu leicht, dass nur Neapel –
neben Turin, Hauptstadt des Königreichs Sardinien – besondere
diplomatische Beziehungen zu den anderen europäischen Staaten
unterhielt, weil sie Hauptstadt eines Reiches war, des 'Regno delle
due Sicilie'. Neapel bedeutete nicht nur die Entdeckung der antiken
Welt, sondern die unmittelbare Erfahrung der Ausgrabungen von Pompeji
und Herculaneum, aus deren Boden die kostbarsten Kunstgegenstände
ans Licht kamen und vor allem das Ende der Reise für diejenigen
– und das waren die meisten, die sich nicht nach Sizilien
einschifften - mit dem Erlebnis des Erhabenen: die Ersteigung des
Vesuvs und vielleicht - die Beobachtung einer Eruption aus der Nähe,
wie sie Philipp Hackert mit großer naturalistischer Kraft
gemalt hatte.
William Hamilton hatte seine erste Abhandlung über den Vesuvausbruch
schon 1768 an die Royal Society nach London geschickt bevor er seine
berühmte Sammlung antiker Vasen von dem Baron d’Hancarville
nachzeichnen ließ. Er besaß in der Nähe von Portici
die kleine Villa Angelica, in der er wohnte, um die Phänomene
des Ausbruchs besser erforschen zu können und Freunde und Gäste
bei der Besteigung zu begleiten. Selbst Kant, fern von Neapel nahm
in der späteren Fassung (1790) seiner 'Beobachtungen über
das Gefühl des Schönen und Erhabenen der Natur' in der
Aufzählung der Naturphänomene, die die Gemüter bewegten,
neben "den Orkanen und hohen Wasserfällen“ auch
“die Vulcane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt “
auf.
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<9> Ist es nicht eigenartig, dass sich
mit Venedig die Assoziation einer Stadt des 18. Jahrhunderts verbindet,
obwohl dieses Jahrhundert weder ihr Erscheinungsbild noch ihre Kultur
wesentlich geprägt hat. Liegt das an Canaletto, an Casanova,
an der Musik oder am Theater? Venedig selbst prägte die
Kultur und das Bild des XVIII. Jahrhunderts durch eine Wirklichkeit,
die zu oft nur als Mode oder Sitte betrachtet wird, ohne ihre anthropologische
Tiefe zu erkennen. In welcher anderen Stadt ging oder durfte man
das ganze Jahr über maskiert – außer in ein Spielkasino
– überall hingehen? Hinter der Maske vermischten sich
Aristokratie und Bourgeoisie, Stände, Personen, Geschlechter,
versteckt sich die Neugier des 'Novo mondo' wie Pietro Longhi ihn
darstellte. Venedig wird die Stadt der Fiktion, der Illusion. Hugo
von Hofmannsthals Romanfragment 'Andreas oder die Vereinigten' erzählt
auf faszinierende Weise die Veränderung im Leben eines jungen
Wiener Adligen, der am Ende der Herrschaft Maria Theresias im September
1778 von Kärnten nach Venedig reist. Er entdeckt die Realität
der Erscheinung und die Veränderbarkeit des Seins. Die schmerzliche
Spaltung des modernen Bewusstseins in dem Spiel des Unerkanntbleibens
hinter der Maske wird in Venedig zuerst in der Zeit von Tiepolo
und von Guardi, von Casanova und Vivaldi sichtbar; sie wählt
eine ästhetische, existentielle Strategie, um über Brüche
und Risse, Leiden und Gefahren des Ichs hinwegzutäuschen. Hofmannsthals
Andreas wohnt gegenüber dem Teatro San Samuele und sein Gastgeber
malt Theaterkulissen.
Die andere Wirklichkeit Venedigs ist das Theater, die Bühne,
die das Leben aufführt. Die Lagunenstadt in der sich ein Schatten
von Byzanz und ein Reflex des Orients widerspiegeln, ist in Europa
der erste Ort, in dem man sich – nach dem Wald des Mittelalters
– verirren darf. Ohne jemals in der Stadt gewesen zu sein
erzählt Friedrich Schiller in seinem 'Geisterseher' wie dies
geschehen kann, ohne sich ganz zu verlieren.
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<10> Abschließend möchte
ich Sie fragen, welchen Rang der literarische Beitrag Venedigs im
18. Jahrhundert innerhalb des Spektrums der italienischen und der
europäischen Literatur besitzt. Wie wichtig waren Goldoni und
Gozzi für die europäischen Literaten ihrer Zeit und kann
man etwas darüber sagen, ob die von ihnen vertretene Tonart -
etwa gegenüber dem Römer Pietro Metastasio - etwas 'typisch
Venezianisches' hat? Goethe entlieh 1828 aus der Großherzoglichen
Bibliothek in Weimar für drei Wochen 'Delle Commedie di Carlo
Goldoni', Venezia 1761, und 'Theatralische Werke Carlo Gozzis',
Bern 1777-1778, die er schon 1820 fast ein Jahr lang bei sich behalten
hatte. Herder hingegen besaß von Carlo Gozzi die italienische
Edition, Venezia 1753, und die 'Rime piacevoli di Gaspare Gozzi',
Lucca 1751, während in seiner Bibliothek nur eine sehr späte
Goldoni - Ausgabe zu finden war. Diese bibliographischen Notizen
sollen nur auf die selbstverständliche Präsenz der venezianischen
Autoren in zwei wichtigen deutschen Bibliotheken hinweisen. Pietro
Metastasios 'Poesie' (Torino 1757) wurden von Goethe nur einmal,
zur Jahreswende 1799 / 1800 ausgeliehen. Metastasio dürfte
zu den Pflichtlektüren seines Schwagers Vulpius gehört
haben, der die italienischen Libretti für das Weimarer Theater
adaptierte. Sollte man es nur als Zufall werten, dass Carlo Goldoni
und Pietro Metastasio in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts
nicht mehr in Italien 'lebten' und dass, um in Europa gelesen und
aufgeführt zu werden, Wien und Paris bessere Voraussetzungen
boten als etwa Venedig oder gar Rom, wo Buchhandel und Verlagswesen
ganz fehlten?
Während Marco Boschinis 'Carta del navigar pittoresco' (1660),
der große venezianische Führer der Malerei nur der Kunstgeschichte
und die Gedichte Pietro Burattis (1775-1812) in venezianischem Dialekt
nur wenigen bekannt sind, bleiben Metastasios und Goldonis Werke
im Kanon der italienischen Literatur. Unverwechselbar venezianisch
sind die Sprache, die Farbe, die Figuren, die Masken in Goldonis
Theater. Die echte venezianische Stadtsatire, 'el Schieson', lernt
man in der Prosa Gozzis kennen. Goldoni, Carlo und Gasparo Gozzi
waren die einzigen Schriftsteller, die aus dem Nährboden des
venezianischen Dialekts die Höhe der Nationalliteratur erreichten
und ihre Stadt in einen Ort verwandelten, in dem sich der Kosmos
widerspiegelte. Sie sahen die Welt als Bürger Venedigs und
mit ihnen wurde die Welt venezianisch. Die europäische Literatur
entdeckte sie mit ihnen, ahmte sie nach und spielt sie noch heute.
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Gesprächspartner |
Prof. Dr. Lea Ritter-Santini
Westfälische Wilhelms Universität Münster
Institut für Komparatistik
Domplatz 20-22
48143 Münster |
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Prof. Dr. Steffi Roettgen
LMU München
Department Kunstwissenschaften
Georgenstraße 7
80799 München steffi.roettgen@t-online.de |
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Anmerkung
der Redaktion:
Empfohlene Zitierweise:
Steffi Roettgen im Gespräch mit Lea Ritter-Santini, in: zeitenblicke
2 (2003), Nr. 3 [10.12.2003], URL: <http://www.zeitenblicke.historicum.net/2003/03/interview.html>
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