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Rüdiger Hachtmann
Die Revolution von 1848 – Kulte um die Toten und die Lebenden
Abstract
In dem Beitrag wird der Genesis des Totenkults von 1848/49 und ebenso des Kults um lebende Revolutionsheroen sowie den Formen, den Wandlungen und der Funktion der darauf basierenden Erinnerungskulturen nachgegangen. Gezeigt wird unter anderem erstens, dass der revolutionäre Totenkult in Deutschland nicht geeignet war, zu einem Nationalmythos zu werden, der die verschiedenen sozialen Gruppen und politischen Strömungen einte. Die öffentliche Erinnerung an die gefallenen Revolutionäre spaltete die Nation vielmehr nachhaltig, in Deutschland, nicht dagegen in anderen europäischen Ländern wie Ungarn oder Italien. Die pathetisch-feierliche Erinnerung an die unterschiedlichen Toten der Revolution von 1848/49 und die jenen unterschobene politische Sendung gab den Parteien jedenfalls in Deutschland überhaupt erst Kontur. Die entstehende Linke wie die Rechte verstanden sich als Testamentsvollstrecker des vermeintlichen politischen Willens der im Kampf gefallenen Revolutionäre bzw. ihrer Kontrahenten, der im Kampf "für König und Vaterland“ getöteten Soldaten. Der Totenkult wurde – erstens – für beide Seiten zum politischen Code; für die Linke markiert er zugleich den Beginn einer Art revolutionärer Familientradition. Der Totenkult, gleich welcher Couleur, implizierte Inklusion – und ebenso Exklusion: War der Totenkult zum politischen Code geworden, wurde ihm als zusätzliches Element das politische und soziale Gegenüber als Feindbild implementiert. Kollektive Ausgrenzung erlaubte, die jeweiligen, zumeist komplexen historisch-politischen Konfliktkonstellationen auszublenden bzw. auf griffige und personalisierte Grundmuster zu reduzieren. Zweitens: Obgleich zur 'Parteisache’ geworden, war der von einer mal kleineren, mal größeren Minderheit zelebrierte Totenkult um die am 18. März 1848 in Berlin gefallenen Barrikadenkämpfer in der gesamtnationalen Erinnerung latent immer präsent. Drittens: Die Totenkulte sowie die politische Funktionalisierung von Begräbnissen sollten nicht den Blick dafür verstellen, dass ihnen schon relativ bald ein gleichfalls quasi-religiös aufgeladener Kult um herausragende lebende Revolutionäre wie Friedrich Hecker und andere an die Seite trat. Auch dieser überlebte das Revolutionsjahr 1848 um Jahrzehnte, im Grunde – ruft man sich die zahlreichen Hecker-Devotionalien des Jahres 1998 in Erinnerung – bis heute.
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Am 18. März 1898 wurde der Reichstag zum Schauplatz einer fünfstündigen Debatte, die sich rasch von ihrem ursprünglichen Gegenstand, einer Gesetzesvorlage zu einer Reform der Militärgerichtsbarkeit im Wilhelminischen Kaiserreich entfernte. August Bebel hatte diese Diskussion bewusst provoziert, indem er zunächst relativ kurz an die Berliner, als Vorkämpfer der 'bürgerlichen Revolution' erinnerte, die auf den Tag fünfzig Jahre zuvor auf den Barrikaden gestanden hatten, um den 'Märzfreiheiten' zum Durchbruch zu verhelfen. Abgeordnete aller Parteien widmeten sich daraufhin eingehend und kontrovers den Berliner Ereignissen fünfzig Jahre zuvor. Bebel bestimmte auch den weiteren Verlauf und den Tenor dieser Diskussion durch mehrere längere Redebeiträge. Nachdem der konservative Abgeordnete Bernhard v. Puttkamer-Plauth für die rechten Fraktionen des Reichstages die Märzrevolution herabzuwürdigen versucht hatte, bestieg der SPD-Vorsitzende ein zweites Mal das Rednerpult, in der Hand eine Liste mit (wie er den Abgeordneten, die gebannt die Debatte verfolgten erklärte) "den Namen der 185 Leichen, deren Blut mit dem vieler Hunderte Verwundeter das Straßenpflaster Berlins röthete", weil sie "von der Soldateska niedergemetzelt wurden". [1] Es sei, so erklärte Bebel, "eine Infamie sondergleichen, die Männer, die damals ihr Leben in die Schanze schlugen und für ihre Ideale kämpften, in solcher Weise [als "Gesindel"] zu beschimpfen. (Großer Lärm rechts! Lebhaftes Bravo links!)" Hätten die Barrikadenkämpfer vom 18. März 1848 einen dauerhaften Sieg errungen, wäre "das verrottete Staatssystem wie das verrottete Militärsystem" der Hohenzollern und des "Junkerthums" beseitigt und "das Deutsche Reich in ganz anderer Macht und Herrlichkeit als heute (1898) schon damals gegründet worden." Für Puttkamer-Plauth waren diese von bewusster Emotion getragenen Äußerungen Bebels, die "Leidenschaftlichkeit, mit welcher er die Revolution verteidigt", ein Beweis dafür, "daß man wohl jeden Gedanken daran wird aufgeben müssen, daß die sozialdemokratische Partei eine stille und ruhige Reformpartei geworden ist." Besonders ärgerte den konservativen Abgeordneten, dass Bebel "auch die Märzgefallenen verherrlicht, die infolge von "Aufreizung und Verführung [...] gegen die Obrigkeit von Gottes Gnaden Revolution gemacht haben. [...] Aber wenn er hier die Märzgefallenen verherrlicht, so wird er es uns nicht verdenken können, daß wir auch der braven Soldaten hier gedenken (lebhaftes Bravo rechts), welche damals dem Rufe ihres Königs gefolgt sind und gegen die Revolution [...] gefochten haben."
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Die Nachhaltigkeit des Totenkults um die Märzrevolution von 1848 lässt sich anschaulicher als durch eine Lektüre dieser Reichstagsdebatte, die die Gemüter der Abgeordneten aller Fraktionen auf das heftigste erregte, kaum zeigen. Ebenso deutlich wird der symbolische Gehalt der um die am 18. März getöteten Barrikadenkämpfer gerankten Mythen: Für die Konservativen wie die Sozialdemokraten verkörperten die Märzgefallenen das Prinzip der Revolution – für die Konservativen 'die Revolution' schlechthin, für Bebel und seine Fraktion 'nur' die 'bürgerliche Revolution'. Im folgenden wird der Genesis des Totenkultus und den Formen, Wandlungen sowie Funktionen der darauf basierenden Erinnerungskulturen nachgegangen. Erstens wird das Urereignis geschildert, das den von den Reichstagsabgeordneten fünfzig Jahre später heftig debattierten Totenkult begründete: die Bestattungsfeierlichkeiten der gefallenen Berliner Barrikadenkämpfer am 22. März 1848, zweitens die Mutation dieses Totenkults von der gemeinsamen, standesübergreifenden Erinnerungskultur zum Code der Linken. Ihnen folgen drittens Bemerkungen zur Nachhaltigkeit der politisch-parteilichen Erinnerungskultur um die am 18. März 1848 getöteten Barrikadenkämpfer sowie viertens eine Skizze des Totenkults um die während des Berliner Revolutionsmärz getöteten preußischen Soldaten. Beschlossen werden die folgenden Ausführungen mit einigen Hinweisen zum Kult um lebende Revolutionsheroen.
Die Geburt des revolutionären Totenkults
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In den Vormittagsstunden des 22. März 1848 versammelten sich "unübersehbare Menschenmassen" zu einem Staatsbegräbnis, das indes keinem prominenten Individuum galt, sondern einem anonymen Kollektiv.
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Es hatte sich keineswegs nur 'revolutionäres Volk' eingefunden. Auch die traditionellen Obrigkeiten präsentieren sich während der Trauerfeierlichkeiten an prominenter Stelle. Sie wollten signalisieren, dass sie sich der Neuen Zeit nicht verschließen wollten, die mit den Februar- und Märzrevolutionen angebrochen zu sein schien. "Man sah die Schützengilde in ihren reichen Uniformen aufmarschiren, die Stadtverordneten und den Magistrat im Festornat mit der goldenen Kette", die Bezirksvorsteher, "die übrigen Herrn Communalbeamten" sowie die meisten Hochschullehrer, "sämtlich in Amtstracht". "Die Zöglinge des Gewerbe-Instituts, die evangelische und katholische Geistlichkeit, auch alle Beamte der verschiedenen Dikasterien [Richterkollegien] hatten sich der Feier angeschlossen." [2] Ebenso wenig fehlten die Ältesten der Korporation der Berliner Kaufmannschaft. Kurz und gut: Sämtliche städtischen Honoratioren waren anwesend, um den (wie sie auch von Vertretern des Berliner Magistrats bezeichnet wurden:) 'gefallenen Brüdern' die letzte Ehre zu erweisen. Darüber hinaus waren offiziöse Deputationen aus allen größeren preußischen Städten angereist.
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Zahlenmäßig fielen die städtischen Honoratioren und sonstige bürgerliche Prominenz allerdings kaum ins Gewicht. Es dominierte die 'Masse' – die im öffentlich-bürgerlichen Diskurs zu diesem Zeitpunkt noch nicht (eindeutig) negativ konnotiert war. [3] Die Schätzungen darüber, wie viele Menschen insgesamt unmittelbar dem Trauerzug folgten, gingen bis "fast hunderttausend". Einschließlich der Zuschauer, die sich das einmalige Schauspiel nicht entgehen lassen wollten, säumten "wohl zweimalhundert Tausend" Menschen Zug.
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Während der Nacht hatten hunderte Arbeiter unter Fackelschein vor der Neuen Kirche am Gendarmenmarkt einen gigantischen, mit zahllosen Blumen aus den königlichen Gärten geschmückten Katafalk errichtet und die Säulenfassade des Doms, des Schauspielhauses sowie des gegenüberliegenden französischen Domes mit langen herabwehenden Trauerfloren behängt. Von allen Stadttoren und Kirchen, vom Schloss und ebenso von zahlreichen Häusern wehten gleichfalls riesige schwarze Fahnen. Nachdem ein evangelischer, ein katholischer und ein jüdischer Geistlicher in der Neuen Kirche kurze Segensworte gesprochen hatten, die Menge den Choral 'Jesus meine Zuversicht' angestimmt hatte, setzte sich der Trauerzug, ein "wogendes Meer von Menschen", feierlich in Bewegung.
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Vor allem drei Aspekte sind an diesem Trauerzug bemerkenswert:
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(1.) "Den Särgen voraus" – so wurden in zahlreichen zeitgenössischen Berichten hervorgehoben – "gingen Jungfrauen mit schwarzen Kleidern, auf Atlaskissen trugen sie Lorbeerkränze", nach einer anderen Version "weiße Kränze". Derartige, relativ streng ritualisierte Auftritte waren auch späterhin eine von insgesamt wenigen Gelegenheiten, die Frauen während der Revolution den Schritt in die Öffentlichkeit erlaubten. Zugleich wurde ihnen eine spezifische Rolle zugewiesen – als Dekor, als Ornament, das die Unschuld, die Reinheit und den Sieg der gerechten Sache sinnbildlich zum Ausdruck bringen sollte.
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(2.) "Zwischen den Särgen wehen die Fahnen fremder, wie wir soeben befreiter Völker, die grün-rot-weiße der Italiener und die rot-weiße Polens." Der Völkerfrühling war am 22. März noch nicht in einen "Alptraum der Nationalismen" (Dieter Langewiesche) umgeschlagen. Die Märzgefallenen waren kein Symbol für eine wie auch immer geartete nationale Einheit, die sich in der Abgrenzung gegenüber anderen Nationen konstituierte. Sie verkörperten in der Perspektive der Zeitgenossen vor allem das europaweit gültige, ständisch nicht mehr gebrochene 'Recht' und die 'Freiheit' im weitesten Sinne sowie – gleichsam herübergeholt aus Frankreich – die 'Brüderlichkeit'. Die Betonung der politischen, vielleicht auch schon einer latent sozialen Egalität, ist wichtig: Sie erklärt die rasche Mutation des Kultes um die Märzgefallenen von der vordergründig alle Bevölkerungsgruppen und politischen Strömungen umfassenden, scheinbar gemeinsamen Sache hin zum politischen Bezugspunkt lediglich der Demokraten und der Sozialisten. Parallel zum Kult um die gefallenen Berliner Barrikadenkämpfer mutierte auch die Solidarität mit den "soeben befreiten Völkern", vor allem den Italienern, und den Polen, schon bald zur demokratischen und sozialistischen Parteiangelegenheit – europaweit.
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(3.) Auch der Monarch musste den Märzgefallenen seine Reverenz erweisen: Friedrich Wilhelm IV. wiederholte am 22. März eine Prozedur, die schon am 19. März allgemeines Aufsehen erregt hatte: Er erwies den Märzgefallenen die letzte Ehre. Als die Spitze des Trauerzuges "das zweite Portal erreichte, trat der König, umgeben von Ministern und Adjutanten, heraus auf den Balkon; zwei Trauerfahnen wurden von dort herabgesenkt, und die dreifarbige in der Mitte beider gleichfalls grüßend geneigt. Der König begrüßte die Todten, indem er den Helm abnahm, und blieb entblößten Hauptes, bis die Särge vorüber waren. - Dieselben wurden in Abteilungen getragen; bei jeder Abtheilung erschien der König wieder, und brachte denselben Gruß dar." [4]
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Es war also nicht nur ein 'Staatsbegräbnis von unten', sondern auch eine auf den Kopf gestellte Parade: Nicht vorbeimarschierende Soldaten salutierten. Vielmehr nahm umgekehrt der König jedes Mal, wenn Särge vorbei getragen wurden, den Helm ab – all dies auf einem Balkon, von dem aus der Monarch üblicherweise die Huldigung der Truppen oder seiner Berliner Untertanen entgegennahm. Dass der König verärgert war, den Barrikadenkämpfern und damit dem ihm verhassten 'Prinzip der Revolution' seine Reverenz erweisen zu müssen, ist verständlich. Er hat sich für diese Demütigung später, im November 1848 in Berlin sowie im Mai, Juni und Juli 1849 in der Pfalz und in Baden bitter gerächt.
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Der Streit um die Inhalte, die Stoßrichtung des Kults um die Märzgefallenen begann bereits am 22. März, über den Gräbern: [5] Die Hauptrede hielt der evangelische Geistliche Adolf Sydow. Er war innerhalb der mehrheitlich extrem konservativen Berliner Geistlichkeit Repräsentant einer liberalen Minderheitsströmung; als Abgeordneter der Preußischen Nationalversammlung saß er seit Mai 1848 jedoch auf den Bänken der rechten Fraktion. [6] Ihm war daran gelegen, Monarch und Volk "in treuem vaterländischem Gemeinsinn" miteinander zu versöhnen. Die preußische Armeeführung und die Soldaten hätten am 18. März im Grunde nur "im Gedanken der Pflicht gestritten". Sydow ging es aber nicht nur um "Versöhnung". Zugleich nutzte er seine Rolle als zentraler Redner, im Namen der Märzgefallenen die Ausgrenzung all derjenigen zu fordern, die aus angeblich "eigensüchtigen Zwecken unwürdigen Partei-Leidenschaften frönen". "Kräftiger Widerstand" sei denjenigen entgegenzusetzen, die auf eine radikale politische Veränderung der Gesellschaft zielten, die "dem schleichenden und schürenden Geiste, der das Wohl aller Klassen der Gesellschaft und des besonnenen Ordnens auf das Spiel setzt". Statt auf 'Revolution' zu setzen, müsse an die staatliche Reformbewegung von 1807 bis 1815 angeknüpft werden. Zugleich suchte Sydow die Märzgefallenen für seinen zentralen Wunsch nach nationaler Einigung Deutschlands zu instrumentalisieren, unter Führung des Preußenkönigs, dem man auch in dieser Hinsicht "großes Vertrauen" schenken müsse. [7]
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Im Anschluss an Sydow sprach der spätere Vorsitzende des Ende März gegründeten radikalen und mehrere tausend Mitglieder starken Demokratischen Klubs, Georg Jung. [8] Das Verlangen nach deutscher Einheit trat bei ihm in den in den Hintergrund. Im Unterschied zu Sydow erschien bei ihm Friedrich Wilhelm IV. weder als guter 'Volkskönig' noch als Unperson; er wurde überhaupt nicht erwähnt. Jung wollte Versöhnung nicht um jeden Preis. Er machte deutlich, dass der Kampf am 18. März um politische Freiheit und Gleichheit geführt worden war. Für ihn hatten die Barrikadenkämpfer lediglich das Tor zu einer neuen demokratischen Epoche geöffnet.
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"Die Rose der Freiheit und Verbrüderung" sei erst "am Keimen [...]. - Noch sind euch die wichtigsten Rechte, wie das allgemeine Wahlrecht, Sicherheit der Person vor der Gewalt der Polizei, freie Vereinigung, freie Versammlung nicht gewährt, noch sind Leute eure gesetzlichen Vertreter, die nicht euer Wille, sondern ihr Privilegium, der zufällige Umstand ihrer Geburt [...] dazu machten." Dann folgt auch bei ihm die Beschwörung der toten Barrikadenkämpfer, allerdings in ganz anderer Weise als bei Sydow: "wir, so sprechen die Todten, haben mit unserm Blute euern Bürger- und Freiheitsbrief besiegelt." "Wir konnten euch nur das Anrecht auf diese hohen Güter vermachen und den Weg dazu anbahnen." Und, unmissverständlich: "Vertraut nicht zu sehr, es kommen Stunden der Ruhe, der Ermattung, und der Feind schleicht sich wieder unter euch und die Knechtschaft oder der Kampf beginnt von Neuem."
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Während der Appell Sydows zu Versöhnung angesichts des weiteren Verlaufs der Revolution auf kein nachhaltiges politisches Echo stieß, legte Jung mit seiner Rede den Grundstein für die mythische Überhöhung der Märzrevolution und die Heroisierung der gefallenen Barrikadenkämpfer. Für ihn und alle späteren Träger des Totenkults personifizierten die toten Revolutionäre den Bruch mit dem verhassten alten System.
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Manfred Hettling hat mit Blick auf die geschilderten Ereignisse die These formuliert, erst der Totenkult habe die Revolution und die neue, im Entstehen begriffene politische Ordnung legitimiert. Dieser Eindruck konnte in der Tat entstehen. Wichtig ist freilich der Zeitpunkt der Generierung des Totenkults: Ein abstrakter, elaboriert programmatischer Umgang mit den Ereignissen des Februar und März war in weiten Regionen Europas und Deutschlands in den letzten Märzwochen 1848 oder vorher noch gar nicht möglich gewesen. Für die meisten Zeitgenossen, auch viele Demokraten und Liberale, kamen die Revolutionen zu Beginn des Jahres 1848 wie ein Blitz aus heiterem Himmel – auch wenn das Donnergrollen schon lange vorher zu hören gewesen war. Politische Vereine oder gar Parteien waren in vielen Staaten während des Vormärz verboten. Namentlich in der Hohenzollern- und der Habsburgermonarchie waren die Grundströmungen der Liberalen, Demokraten und Sozialisten nicht einmal ansatzweise von einander getrennt. [9] Dezidierte politische Positionen mussten sich im Revolutionsfrühjahr überhaupt erst einmal ausbilden. Insofern war es logisch, dass die Verherrlichung der Märzgefallenen und die feierliche Inszenierung ihres Begräbnisses das frisch erstandene "Selbstbewusstsein einer Gesellschaft" zum Ausdruck brachten, die nicht mehr "primär auf eine dynastische Legitimität aufbaute". [10] Die unbestimmte Hoffnung, dass eine Neue Zeit begonnen habe, fand im Totenkult einen eindrücklichen, zugleich jedoch (das ist wichtig) vorläufigen Ausdruck.
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Programme und präzisere politische Strategien und Taktiken konnte der Totenkult nicht ersetzen. Der revolutionäre Totenkult verschwand allerdings nicht, nachdem die verschiedenen politischen Parteien entstanden waren und Konturen gewonnen hatten. Er trat neben die politischen Programme und diente einer emotionalen Selbstvergewisserung. In dieser Funktion wurde er ein zentraler Bestandteil der politischen Identität der Linken, der gerade in Zeiten der Verunsicherung Stabilität verhieß. Es ist kein Zufall, dass er bereits im Revolutionsjahr häufig dann aktualisiert wurde, wenn elaboriertere Konzepte auf Seiten der Linken durch einschneidende Ereignisse und Entwicklungen erschüttert wurden. Zudem war er ein vorzügliches Instrument, die eigene Anhängerschaft öffentlichkeitswirksam zu mobilisieren und emotional zusammenzuschweißen.
Die Mutation des Kults um die Berliner Barrikadenkämpfer zum politischen Code [11]
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Wie sehr bereits im Frühsommer 1848 das feierliche Gedenken der getöteten Barrikadenkämpfer zum Signum für die Zugehörigkeit zur demokratischen Partei geworden war, zeigte eine gleichfalls riesige Demonstration zu den Gräbern der Märzgefallenen auf dem Friedrichshain, die am 4. Juni 1848 stattfand. Offiziell ging es darum, die Märzgefallenen zu ehren und an ihr – wie die Linke glaubte – nicht eingelöstes Vermächtnis zu erinnern. Konkreter Anlass der Demonstration war ein Antrag der Berliner Abgeordneten Julius Berends, die Preußische Nationalversammlung "wolle in Anerkennung der Revolution zu Protokoll erklären, daß die Kämpfer des 18. und 19. März sich wohl ums Vaterland verdient gemacht haben." [12] Die Berliner Märzrevolution, so begründete Berends seinen Antrag, sei "vielfach und von verschiedener Seite geschmäht und herabgesetzt", die "sittliche Erhebung des Volkes zu einer Straßen-Emeute" degradiert worden. Debattiert werden sollte dieser Antrag im preußischen Parlament am 8. Juni.
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Die Zahl der Teilnehmer an der Demonstration vom 4. Juni war höchst eindrucksvoll. Sie sei noch "größer als bei der Todtenfeier im März" gewesen, berichteten Zeitgenossen. Nach Angaben der liberalen und demokratischen Presse waren zwischen 100.000 und 250.000 Menschen auf den Beinen, also ein Viertel bis gut die Hälfte der Berliner Bevölkerung. Die große Beteiligung konnte freilich nicht kaschieren, dass die Demonstration vor allem eine Heerschau der Demokraten Berlins und des Brandenburgischem Umlands war, denen sich kleinere Teile der in der preußischen Hauptstadt minoritären Liberalen anschlossen. Es fehlten gegenüber dem 22. März der Magistrat der Stadt, die Hochschullehrer, die Mitglieder der Korporation der Kaufmannschaft, die Geistlichkeit und schließlich die konservativ geprägte Minderheit der Berliner Bürgerwehr. "Kein Geheimrath war zu erblicken", formulierte die demokratische Presse ironisch. Obrigkeit und bürgerliche Honoratioren hätten, hieß es in der linksliberalen National-Zeitung vom 9. Juni 1848, von ihrer anfänglichen, scheinheiligen Verehrung der Märzgefallenen Abstand genommen. Sie seien ins Lager der Gegner der Märzrevolution gewechselt, nicht jedoch das einfache Volk. Unter dem "Pöbel von Berlin" habe "die neue Zeit der Volksfreiheit tiefe Wurzeln geschlagen".
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Auch diese Riesendemonstration war ein imposantes und farbenprächtiges Schauspiel: Der Korrespondent der Vossischen Zeitung zählte "gegen zweihundert" Fahnen von Klubs und sonstigen Organisationen. "Alle Gewerke und Arbeitergemeinschaften" waren beteiligt. Den Mitgliedern der zahlreichen Vereine sowie den Angehörigen der Märzgefallenen, ferner etwa vier- bis fünftausend Landwehrmännern und ungefähr ebenso vielen Bürgerwehrmännern folgten unter anderem Deputationen einer Reihe größerer preußischer Städte bzw. auswärtiger demokratischer Klubs. Zahlreich beteiligten sich auch die auf öffentliche Kosten beschäftigten Erdarbeiter sowie die Erwerbslosen, letztere zwar mit "hungerbleichen Gesichtern", aber zugleich mit "fröhlichen, grünen Eichenzweigen an den Hüten". Der vierte Stand, die in Berlin sehr starken Unterschichten (etwa 85% der gesamten Einwohnerschaft), dominierte noch stärker als am 22. März.
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Einen, wie die männlichen Teilnehmer empfanden, erhebenden Anblick boten wiederum die mit der revolutionären Bewegung sympathisierenden Frauen. Einige von ihnen hatten dem Demokratischen Klub eine große, rote Fahne gestickt und diesem kurz zuvor feierlich überreicht. Sie wurde nun an der Spitze des Zuges getragen. Die Berichterstatter der demokratischen und linksliberalen Presse erlebten "ein erhabenes, unvergleichliches Schauspiel, ein wahres Todtenfest, wie es denjenigen geziemt, welche für die Freiheit gefallen" seien, im Grunde "mehr ein Fest des Lebens als des Todes".
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Die Route, die der unüberschaubare Demonstrationszug nahm, entsprach genau der vom 22. März. Erst etwa drei Stunden, nachdem die Spitze des Demonstrationszuges den Friedrichshain erreicht hatte, kamen schließlich auch die letzten an den Gräbern der Märzgefallenen an. "Auf dem ganzen Wege bildete das Volk zu beiden Seiten dicht gedrängte Spaliere, oder füllte die Häuser, deren Fenster bis in die obersten Giebel mit Köpfen erfüllt waren." Auf dem Friedrichshain lauschten "unabsehbare Schaaren unter Fahnen und Bannern" dann den Reden der Repräsentanten der verschiedenen demokratischen Vereine sowie der linken Fraktionen der Preußischen Nationalversammlung, [13] in denen diese wortreich die "Verläumdung der Todten" und den "Schmutz der Gemeinheit" beklagten, mit dem die "leuchtendste Tat unseres Jahrhunderts" besudelt würde. [14]
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Hier interessiert nicht, dass der Demonstration vom 4. Juni 1848 vordergründig der Erfolg versagt blieb, weil eine knappe Mehrheit der preußischen Parlamentarier am 9. Juni einer förmlichen Anerkennung der Revolution nicht zustimmen mochte. Aufschlussreich ist diese Demonstration im hier interessierenden Kontext, weil sie eindrucksvoll zeigte, wie sehr keine drei Monate nach der Märzrevolution diese Revolution und der Mythos um ihre Opfer nicht mehr, wie es am 22. März zunächst schien, Sache des ganzen Volkes war, sondern eine 'Parteiangelegenheit'.
Ungestillte Freiheitssehnsucht
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Hans Magnus Enzensberger hat einmal beiläufig festgestellt, dass zwar "jede revolutionäre Öffnung einer Gesellschaft sich wieder schließt, aber sie hinterlässt eine Erinnerung, die sich mit der restaurativen Verfestigung nicht mehr abfinden kann: eine bleibende Narbe im Bewusstsein, die nie wieder spurlos verheilt." [15] Die unter der Narbe verborgene, ungestillte Freiheitssehnsucht erklärt, warum die Erinnerung an die Berliner Märzgefallenen – in Preußen-Deutschland das Symbol der Revolution – so nachhaltig blieb, warum (kurz gesagt:) die Narbe so lange juckte.
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Der Trauerzug zum Friedrichshain am 4. Juni 1848 bildete nämlich bloß den Auftakt für zahllose Gedenkfeiern und -demonstrationen in den folgenden Jahrzehnten, meist anlässlich der Jahrestage des 18. März. Wichtig ist, dass sich zunächst ein im Wortsinne volkstümlicher Kult um die Märzgefallenen entwickelte, der von keiner Partei inszeniert oder sonst wie gelenkt war. Obrigkeit und Polizeibehörden bemühten sich in der 'Ära der Reaktion' zwar, jegliche Ehrung der Märzgefallenen zu ersticken. Aber Erinnerungen und politische Sehnsüchte ließen sich nicht auslöschen. Je drückender die Repression in der Ära der Reaktion, desto leuchtender erschienen die Märzgefallenen als "Garanten für eine bessere Zukunft". [16]
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Trotz massiver Präsenz von Konstablern und Militäreinheiten zogen in den Jahren 1849 bis 1852 am 18. März, "als kaum das Tageslicht dämmerte, unabsehbare Züge von Menschen nach dem Friedrichshain hinaus, und es wuchsen die Massen trotz der schneidend kalten und unfreundlichen Witterung mit jeder Stunde. Die Wallfahrenden gehörten meist dem Arbeiter- und Handwerkerstande und den jüngeren Generationen der Bevölkerung an." Sie verwandelten mit zahllosen Kränzen und Blumen den Friedhof in einen "lieblichen Garten". Gegen Abend kam es in den ersten Jahren nach der Märzrevolution ebenso regelmäßig zu stundenlangen Scharmützeln zwischen 'Volkshaufen' und den knapp zweitausend Berliner Konstablern, die sich bis in die späte Nacht hinzogen. [17] Wie sehr der Kult um die Toten des 18. März 1848 eine antimonarchistische, republikanische Stoßrichtung annahm, dokumentieren Zettel, die die Polizei zum Beispiel 1852 auf dem Friedrichshain fand. Dort heißt es etwa: "Zur Ehre für die im Kampfe für die Freiheit und [das] Recht gefallenen Helden, welche für Wahrheit und Recht ritterlich gefochten [haben] und für uns brüderlich gestorben sind." Auf anderen Zetteln wurde Friedrich Wilhelm IV. als 'König Hundsfott' oder schlicht als 'Schweinehund' beschimpft. [18]
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Seit 1853 wurde es angesichts umfänglicher obrigkeitlicher Maßnahmen (siehe [12]) am 18. März ruhiger. Dies war freilich – so die Berliner Polizei lakonisch – "Resultat weniger einer beruhigten Zeit, als [vielmehr] der konsequenten und festen Ausübung der polizeilichen Maaßregeln". Seit 1862, nachdem die Begräbnisstätten Besuchern wieder zugänglich waren und sich das politische Klima allgemein 'entspannt' hatte, registrierte die Polizei dann erneut an den Jahrestagen der Märzrevolution erhöhten Publikumsverkehr. [19] Die Wallfahrten zum Friedrichshain wurden auch zu diesem Zeitpunkt noch von keiner Partei oder Ähnlichem gelenkt; sie waren eine Bewegung 'von unten'.
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Erst Ende der 60er-Jahre nahm sich die Sozialdemokratie des volkstümlich-plebejischen Totenkultes an. Sie vereinnahmte ihn erfolgreich als eigene politische Tradition. Höhepunkte waren das 25- und das 50jährige Jubiläum der Märzrevolution. Am 18. März 1873 sollen allein am Nachmittag mehr als 10.000 Menschen an den Gräbern der Märzgefallenen versammelt gewesen sein. Sie gedachten freilich auch des Aufstandes der Pariser Kommune, deren Beginn sich an diesem Tage zum zweiten Male jährte. Am Abend dieses Tages kam es zu blutigen Auseinandersetzungen, die einen Toten und viele verwundete Kundgebungsteilnehmer forderten. [20] Friedlicher ging es 25 Jahre später zu: Am 18. März 1898 strömten seit dem frühen Morgen mehr als 15.000 Menschen zum Friedrichshain. An den von der Sozialdemokratie organisierten abendlichen Gedenkfeiern dieses Tages in einer Reihe großer Säle nahmen noch mehr Menschen teil. Seitdem wurde die Begräbnisstätte der Märzgefallenen bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges jährlich von zehntausend und mehr der Sozialdemokratie nahe stehenden Menschen aufgesucht. [21]
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Nach 1918 spaltete sich die an die 'Barrikadenhelden' vom März 1848 anknüpfende Erinnerungskultur (weiter) auf: Friedrich Ebert knüpfte an die von den Linksliberalen entwickelten Formen der Erinnerungskultur an und ignorierte in seiner Festansprache in der Paulskirche im Jubiläumsjahr 1923 den '18. März 1848' als die 'eigentliche' sozialdemokratische Tradition. Mit liberalem Sprachduktus würdigte er das "edelste Wollen" der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung, insbesondere ihre Verfassungsarbeit als "Leitgedanken" der "Arbeit von Weimar". [22] Im Unterschied zu Ebert erinnerte die sozialdemokratische Presse weiterhin an die Märzrevolution. Im 'Vorwärts' vom 18. März 1923 hieß es allerdings unverbindlich und wolkig, die "Vorkämpfer der Freiheit" seien 75 Jahre zuvor für "eine Meinung gestorben" und ihrer "selbstgewählten Sache bis in den Tod treu geblieben". Die KPD wiederum verfiel in ihrem Bemühen, den traditionell (links-)sozialdemokratischen Totenkult um die Märzgefallenen fortzusetzen, ins politische Klischee: "Proletarier waren es, die [am 18. März 1848] die Schlacht schlugen – während die große Bourgeoisie, in deren Interesse sie geschlagen wurde, zitternd zusah und bereits den Verrat vorbereitete" ('Rote Fahne' vom 18. März 1923).
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Das Dritte Reich besaß mit den Karrieristen, die nach der letzten Reichstagswahl vom März 1933 in die NSDAP eingetreten waren, seine eigenen 'Märzgefallenen'. Ansonsten wurden die Toten der Berliner Märzrevolution von 1848 zu erinnerungspolitischen Unpersonen. Für einen aggressiv-nationalistischen Traditionsbezug taugten sie nicht; dazu war ihr demokratischer 'Überhang' zu stark. Bemerkenswert hingegen ist, dass Hitler sich auf einen anderen Aspekt von '1848', auf die Einheitsbestrebungen der Paulskirche, durchaus positiv bezog. Er stilisierte den 'Anschluss' Österreichs am 12./13. März 1938 zum glorreichen Abschluss des "Werkes, für das vor 90 Jahren unsere Vorfahren kämpften". [23]
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Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes, namentlich im Jubiläumsjahr 1948 trat noch deutlicher zutage, was sich bereits während der Weimarer Republik abgezeichnet hatte: Die Erinnerungskultur doppelte sich in den ost- und westdeutschen Historiographien und in den staatsoffiziellen Ritualen. Geographisch zufällig, bot sich dem SED-Regime mit dem Friedrichshain und den in Stadtmitte gelegenen Schauplätzen des Berliner Barrikadenkampfes das Terrain für Feiern zum Gedenken der Märzgefallenen, während die offizielle Bundesrepublik in der Frankfurter Paulskirche ihre Kultstätte besaß, in der sich die liberale 48er-Tradition feiern ließ.
Die Obrigkeit und ihr Umgang mit den Berliner Märzgefallenen
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Neben der bundesdeutschen Tradition 'von oben' bildete sich seit Anfang der 80er-Jahre allerdings auch eine westberliner Erinnerungskultur 'von unten' heraus. Seitdem wallfahrten und wallfahren am 18. März alljährlich Hunderte, im Jahre 1998 sogar Tausende, zu den Gräbern der Märzgefallenen im Friedrichshain. Die großen Parteien sahen diese Begründung basisdemokratischer Revolutionstraditionen freilich mit Unbehagen; nicht zuletzt der anhaltende Widerstand des CDU/SPD-Senats unter Eberhard Diepgen gegen die Umbenennung des Platzes vor dem Brandenburger Tor in 'Platz des 18. März' brachte dies unmissverständlich zum Ausdruck. [24]
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Welche Barrieren eine demokratische Erinnerungskultur an die Berliner Revolution weiterhin zu überwinden hat, zeigt der Blick auf das aktuelle Straßenverzeichnis Berlins: vier Wilhelm-, drei Manteuffel-, zwei Wrangel- sowie nicht zu vergessen: vier Bismarckstraßen, zwei Bismarckplätze und eine Bismarckallee, ferner weitere, nach prominenten Gegenrevolutionären benannte Straßen springen dem Berlin-Touristen beim ersten flüchtigen Blick auf den Stadtplan entgegen. Demokraten des Revolutionsjahres wurden demgegenüber nur ausnahmsweise geehrt. Mit ähnlicher Vehemenz und noch größerem Erfolg sperrt sich die Obrigkeit seit mehr als 150 Jahren gegen Pläne zur Errichtung eines Denkmals für die am 18. März 1848 getöteten Barrikadenkämpfer.
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Entwürfe zur Errichtung eines großen, zentralen Denkmals lagen schon früh vor. Bereits am 21. März 1848, also einen Tag vor den geschilderten Bestattungsfeierlichkeiten, beschloss die Berliner Stadtverordnetenversammlung, die Märzgefallenen in dieser Weise zu ehren. Anfänglich wollte man "von seiten der Commune für die in den letzten Tagen Gebliebenen" sogar zwei "Monumente" schaffen, eines auf dem Friedrichshain, ein anderes in der Stadt (zwischen dem Palais des Prinzen von Preußen und der Humboldt-Universität, also grob da, wo heute ein bronzener Friedrich II. auf dem Mittelstreifen Unter den Linden reitet). [25] Für ein künftiges Denkmal wurden noch im Frühjahr 1848 mehrere Pläne eingereicht. Obgleich demokratische Vereine das ganze Revolutionsjahr über den Magistrat regelmäßig mahnten, dessen Errichtung nicht zu verzögern [26], und Ende Februar 1849 das neu gewählte preußische, demokratisch geprägte Abgeordnetenhaus mit deutlicher Mehrheit die umgehende Errichtung eines Denkmals für die Märzgefallenen forderte, gelang es Magistrat und Ministerien erfolgreich, alle konkreten Schritte zur Errichtung des Denkmals so lange zu verzögern, bis die Pläne mit der Auflösung des preußischen Abgeordnetenhauses Ende April 1849 ad acta gelegt werden konnten.
<35>
Aber selbst die schlichte Begräbnisstätte für die Märzgefallenen auf dem Friedrichshain blieb der Obrigkeit ein Ärgernis. Anfang 1850 sollte der Begräbnisplatz auf dem Friedrichshain dem geplanten Ostbahnhof zum Opfer fallen. Die sterblichen Überreste der Märzgefallenen, erklärte der Magistrat, müssten leider auf die verschiedenen Bezirksfriedhöfe umgebettet werden. Dass dieser Absicht in erster Linie politische Motive zugrunde lagen, zeigte sich, als die städtischen Behörden auch nach der Aufgabe der Pläne zur Errichtung des Ostbahnhofes auf dem Friedrichshain an ihrer Absicht festhielten, "die im Friedrichshain liegenden Leichen der in der März-Revolution von 1848 Gebliebenen nach den betreffenden Parochial-Kirchenhöfen zu translociren". Als sich nach Bekanntwerden dieser Absichten ein Sturm der Empörung erhob und - von drei Ausnahmen abgesehen - niemand unter den Angehörigen der Märzgefallenen bereit fand, die auf dem Friedrichshain ruhenden Gebeine umzubetten, sah sich der Magistrat Ende 1858 gezwungen nachzugeben. [27]
<36>
Wenn sich das Ärgernis durch einen vordergründig verwaltungstechnischen Akt schon nicht aus der Welt schaffen ließ, so sollte es doch nach Möglichkeit den Augen der Öffentlichkeit vorenthalten werden und auf diese Weise seinen symbolischen Wert verlieren. Bereits Mitte 1852 wurden bis auf einen sämtliche nach der "Gruftstätte führende Wege auf Anordnung der Behörden planirt und zu Baumpflanzungen umgeschaffen, so daß nunmehr vom Friedrichshain kein Zugang zu dem Beerdigungsplatze mehr" existierte. Der letzte Weg zum Begräbnisplatz der Märzgefallenen wurde im Frühjahr des folgenden Jahres "umgepflügt und mit Kartoffeln bestellt", der Platz selbst mit einem Bretterzaun umgeben. Ende der 50er-Jahre wurde der inzwischen verfallene Zaun durch eine stabile Bretterwand ersetzt und zusätzlich dichtes und dorniges Gestrüpp gepflanzt. Mit Beginn der Neuen Ära seit Ende der 50er-Jahre wurde "der Zutritt zu den Grabstätten dem Publikum wieder gestattet". [28] Gleichwohl verfielen die Gräber in der Folgezeit weiter. Sie, so erklärte ein linksliberaler Stadtverordneter 1889, passten "besser für eine Hundehütte als für einen Friedhof von dieser Bedeutung, kurz, der allgemeine Zustand ist ein ganz abscheulicher." 1897 beschloss die Berliner Stadtverordnetenversammlung, die Gräber auf dem Friedrichshain in einen Zustand zu versetzen, der dem normaler Friedhöfe entsprach, und ein Eingangsportal mit einem schmiedeeisernen Tor zu errichten. Der mit weit gehenden exekutiven Befugnissen ausgestattete Berliner Polizeipräsident lehnte die Ausführung selbst dieses recht bescheidenen Beschlusses ab. Seine Begründung konnte deutlicher nicht sein: Mit dem Portal würde "ein dauerndes Erinnerungszeichen der Berliner Revolution" geschaffen; eine derartige "politische Demonstration zur Verherrlichung der Revolution" dürfe schon "aus allgemeinen ordnungspolizeilichen Gründen nicht gestattet werden". Ein langwieriger Rechtsstreit war die Folge. Das Resultat des langen Weges durch die preußisch-deutschen Gerichtsinstanzen: In dem abschließenden Prozess bekam der Polizeipräsident schließlich Recht.
<37>
Erst nach der Revolution 1918/19 widerfuhr den Märzgefallenen von offizieller Seite eine bescheidene Anerkennung: Im November 1925 wurde das lange geplante Eingangsportal zur Grabstätte der Märzgefallenen im Friedrichshain eingeweiht, dem man allerdings nur mit Wohlwollen einen denkmalsähnlichen Charakter zugestehen kann. Mehr als ein Vierteljahrhundert später, zu Zeiten der DDR, wurde dieses Portal durch zwei eherne, überlebensgroße Figuren ergänzt, die an die Toten der zweiten deutschen Revolution von 1918/19 erinnern. Ein Denkmal für die Märzgefallenen steht weiterhin aus.
Der gegenrevolutionäre Totenkult
<38>
Angesichts der politischen Verhältnisse in Preußen und Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überrascht es wenig, dass die Gegner der Revolution, die zivilen Konservativen und die konservative Militärpartei schon frühzeitig ihren 'Gefallenen' Denkmäler setzten, die teilweise ziemlich bombastisch ausfielen: Am 18. Oktober 1854, dem Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht, wurde im Berliner Invalidenpark ein 'National-Krieger-Denkmal' zum Gedenken sämtlicher während der Revolution 1848/49 gefallenen preußischen Soldaten eingeweiht. [29] Dieses Denkmal ist eines von insgesamt drei Säulen, die im 19. Jahrhundert in Berlin zur Erinnerung an gefallene Soldaten errichtet wurden: neben der so genannten Invalidensäule von 1854 die Friedenssäule für die Befreiungskriege (1843) und die Siegessäule für die 'Einigungskriege' unter Bismarck (1873). Die drei Säulen bilden in gewisser Weise ein Ensemble. Ähnlicher Aufbau und vergleichbare Anordnung der drei Monumente sollten ausdrücken, dass der politische Gegner im Innern dem äußeren Feind gleichzustellen sei. Wenn auf der Spitze der Siegessäulen von 1843 und 1873 Victoriafiguren stehen, die Invalidensäule dagegen von einem preußischen Adler gekrönt wird, dann weist dies auf die besondere Dimension der Revolution 1848 hin: Das Militär sah sich als Garanten des alten Preußen, als entscheidende Stütze der Hohenzollernmonarchie; nur ihm, so wird nicht ganz zu Unrecht signalisiert, habe es gelingen können, den Angriff des innenpolitischen Gegners erfolgreich zurückzuweisen. In diesem Sinne heißt es auch auf der Inschrift: "Die Armee rettete durch ihre Treue das Vaterland." Die militärischen Tugenden 'Gehorsam', 'Dienstpflicht', 'Treue', 'Vaterlandsliebe' und 'Tapferkeit' wurden ethisch überhöht und – das war der zweite Schritt – auch der Zivilbevölkerung des 'Vaterlandes' als positives Verhaltensmuster anempfohlen.
<39>
Dies war zunächst nicht unbedingt abzusehen gewesen. Trauerfeierlichkeiten, Erinnerungen und schließlich der Totenkult um die am 18. März gefallenen Soldaten waren ganz ähnlichen Wandlungen unterworfen wie dies für den revolutionären Totenkult galt – nur unter umgekehrten politischen Vorzeichen. Bestattung und Trauerfeierlichkeiten der am 18. März gefallenen Soldaten, nach offiziellen Angaben lediglich zwanzig Militärs, [30] zwei Tage nach der Beerdigung der gefallenen Barrikadenkämpfer, am 24. März 1848, und hier vor allem die Rede des Garnisonpredigers Ziehe, standen unter einem ganz ähnlichen Motto wie die Rede Sydows am 22. März. Zwar hob Ziehe in seiner Predigt über den Gräbern der getöteten Soldaten die militärischen Tugenden "Gehorsam", "Treue und Dienstpflicht" gegenüber dem "König und Herrn" als positive Tugenden heraus. Im Vordergrund seiner Predigt stand jedoch ebenfalls die "Versöhnung": Die Soldaten seien "im Kampf gegen ihre Brüder, Söhne desselben Vaterlandes", gefallen. "Alle Grabhügel, die wir in diesen Tagen aufgehäuft haben", sollten zu "Altären" werden, "über denen wir uns die Hände reichen, als Brüder, als Kinder eines Vaterlandes". Die Revolution wiederum bagatellisierte er, ähnlich wie zuvor Sydow, zum "verhängnißvollen Kampf"; offen mochte er sie (noch) nicht verdammen. [31]
<40>
Wie sehr 'Versöhnung' das Handlung leitende Motto dieser Tage blieb, zeigte sich nicht zuletzt an der Zusammensetzung des Trauerzugs für die gefallenen Militärs. Er wies auffallende Ähnlichkeiten mit dem Trauerzug zwei Tage zuvor auf: Neben den in Berlin anwesenden hohen Offizieren sowie den auf dem Invalidenfriedhof versammelten Militärinvaliden – beides Gruppen, die am 22. März gefehlt hatten – folgten Würdenträger und Personen, die schon die gefallenen Revolutionäre zu Grabe getragen hatten, den Leichen der Soldaten: die Schützengilde, die Studentenschaft, zahlreiche Gymnasiasten, die neu gegründete Bürgerwehr, Abteilungen der Maschinenbau-Arbeiter (erneut unter der Führung von Borsig) und, selbst redend, "viele Frauen". Der Trauerzug für die während der Kämpfe getöteten Soldaten war freilich erheblich kleiner, alles in allem acht- bis zehntausend Menschen. [32]
<41>
Dass Repräsentanten der konservativen Militärpartei die gefallenen Soldaten rhetorisch in eine fiktive Volksgemeinschaft einbetteten, in die auch die aufständischen Berliner einbezogen wurden, und die Kontrahenten auf den Barrikaden zu 'Brüdern' und 'Söhne desselben Vaterlandes' erhöhten, hielt freilich nicht lange an. Schon bald wurden die am 18. März 1848 gefallenen Soldaten ebenso wie die während der Unterdrückung der sächsischen, pfälzischen und badischen Aufstände ums Leben gekommenen Militärs gleichsam zu symbolischen Garanten eines schließlich erfolgreichen Widerstandes gegen die Revolution überhöht. Die "treu dem Könige und dem Vaterlande" ergebenen, getöteten Kameraden mutierten zur Folie, über die sich die "scheußlichen und gewissenlosen" demokratischen "Verräther am Könige" nur um so besser ausgrenzen ließen. [33]
<42>
Für die republikanisch-demokratische, später die sozialistische Bewegung und ebenso für den organisierten Konservativismus wurde der Kult um die jeweils 'eigenen' Toten schon bald zu einem wichtigen Bestandteil des politischen Repertoires, mit dem sich die eigene Anhängerschaft mobilisieren und zusammenschweißen ließ. Die liberale Mitte dagegen saß buchstäblich zwischen den Stühlen: Die Liberalen konnten und wollten keine Toten mobilisieren und darüber emotionale Identitäten schaffen, auch späterhin nicht. Bezeichnend ist die distanzierte Haltung der Liberalen, auch und gerade der Linksliberalen, gegenüber dem Kult um die gefallenen Barrikadenkämpfer. 1873 etwa lehnte die Fortschrittspartei eine Beteiligung an den Feiern anlässlich des 18. März mit der Begründung ab, dass sie "nicht die Hände dazu bieten kann, das Prinzip der Revolution auf ihre Fahne zu schreiben". [34] Deutlicher ließ sich kaum umschreiben, wie sehr der Kult um die Märzgefallenen zum politischen Code für 'die Revolution' geworden war. Indem sie sich einer Beteiligung an den Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag der Berliner Märzrevolution verweigerten, machten die Liberalen deutlich, in welchem Maße '1848' und hier wiederum der '18. März' für sie zum Prinzip der (deutschen) 'Revolution' schlechthin geworden war – und jenes dem liberalen Prinzip der 'Realpolitik' diametral entgegenstand.
<43>
Allerdings entwickelten die Liberalen ihrerseits schließlich doch eine eigentümlich abgewandelte Art des Totenkults (dem von 1923 bis 1933 und seit 1948 zunehmend auch die Sozialdemokratie huldigte): [35] Sie ehrten nicht Menschen, die während der Revolutionskämpfe ums Leben gekommen waren, sondern rekurrierten auf ein Gebäude, auf die Paulskirche. Der Ort, in dem die Deutsche Nationalversammlung getagt hatte, wurde zum Alternativ-Mythos aufgebaut. Zwar war die Paulskirche ein Resultat der Revolution; ohne die Ereignisse in Paris am 24. bis 26. Februar, in Wien am 13./14. März und in Berlin am 18./19. März 1848 ist dieses Nationalparlament nicht zu denken. Aber das verdrängten viele Liberale. In ihren Augen symbolisierte das erste Deutsche Nationalparlament nicht 'die Revolution', sondern deren Zähmung. Für sie war die Paulskirche das Symbol für liberale 'Realpolitik' sowie, als erster – erfolgloser – Versuch einer staatlichen Einigung, ein Meilenstein auf dem Weg zur deutschen Einheit. [36] Dass die Politik der Paulskirche und die frühliberalen Träume von deutscher Einheit ähnlich illusionären Konzepten entsprangen und genauso kläglich scheiterten wie die Aufstandsversuche eines Friedrich Hecker, dass sie mithin das Etikett 'Realpolitik' im Grunde nicht verdienten, wurde verdrängt. Als Gegenentwurf und Kontrastprogramm zum Totenkult um die gefallenen Barrikadenkämpfer des März 1848 entwickelte der Paulskirchen-Mythos emotionale Nachhaltigkeit allerdings erst mit der Etablierung der Weimarer Republik (1923) und der Bonner Demokratie seit 1948.
<44>
Der revolutionäre wie der gegenrevolutionäre Totenkult waren wichtig, weil sie zu zentralen politischen Codes wurden und dazu beitrugen, die Nation zeitweilig in zwei unversöhnliche politische Lager zu spalten. Ihr Stellenwert für das Revolutionsgeschehen wie für die Traditionsbildungen der folgenden Jahrzehnte sollte jedoch nicht überbewertet werden – so wichtig der Hinweis auf die quasi sakrale Dimension des Totenkults ist, als "Legitimation stiftenden Instanz" in einer Zeit, in der "religiöse Mächte nicht mehr zur Verfügung standen". [37] Entscheidend für den Totenkult der Linken war und ist die Freiheits- und Emanzipationssehnsucht, die 'Narbe', die nach der Revolution noch lange kräftig juckte. Sie brauchte eine Projektionsfläche, um sich zu artikulieren. Und was lag näher, als dafür den '18. März', mit dem die europäische Revolution Anfang 1848 zu ihrem vorläufigen Abschluss kam, zu wählen? Kein anderes Ereignis vom Frühjahr 1848 war so blutig, kaum ein anderes Datum so markant wie dieser 18. März.
Kulte um die Lebenden
<45>
Die These von der alles überragenden Bedeutung des Totenkults während der Erinnerungskultur seit Frühjahr 1848 ist außerdem zu relativieren, weil sich um Lebende gleichfalls dauerhafte Kulte ranken konnten.
<46>
Das mit Blick auf den deutschen Raum sicherlich eindruckvollste Beispiel ist der Heckermythos. Bemerkenswert ist der Kult, der um die Person Hecker getrieben wurde, aus mehreren Gründen: Friedrich Hecker hat für den Gesamtverlauf der deutschen Revolution von 1848/49 nur eine marginale Rolle gespielt – als Repräsentant der Linken im Vorparlament und als Anführer des republikanischen Freischarenzuges vom April 1848 in Baden. Obwohl er danach in die Schweiz und später in die USA emigrierte, wurde Hecker bereits im Frühjahr 1848 zum Sinnbild für entschieden revolutionäres Auftreten. Hecker als heroisch gescheiterter 'Mann der Tat' eignete sich in besonderem Maß dazu, die "Träume von einem Volksstaat der 'kleinen Leute'", innerhalb Badens zudem "die Ohnmacht eines kleinen Staates" zu personifizieren. [38] Dennoch ist das Tempo und die Ausbreitung des 'Heckermythos', der an Bedeutung dem Totenkult um Robert Blum und die Märzgefallenen kaum nachstand, frappierend. Auch um Hecker wurde ein quasi-religiöser Kult betrieben und Bilder von ihm wie Ikonen gestaltet, nicht nur in seiner Heimatregion, sondern auch im tiefen Bayern, im Westen, Norden und Osten Deutschlands. Etliche freie Gemeinden der Deutsch-Katholiken und protestantischen Lichtfreunde hüllten die Altäre ihrer Gotteshäuser in rote Tücher und schmückten die Wände ihrer Kirchen mit Abbildungen von Hecker, Kossuth und anderen Revolutionshelden. Noch um 1870 hingen Bilder von Hecker, dem "Abgott der Volksmassen", in "vielen Bürger- und Bauernstuben", pikanterweise nicht selten "neben dem Luthers und [dem] des Alten Fritz". [39]
<47>
Andere Länder hatten bekanntlich gleichfalls 'ihren Hecker', also Revolutionshelden, die bereits zu Lebzeiten zu mythischen Figuren stilisiert wurden und mitunter selbst nach Kräften dazu beitrugen, den Kult um ihre Person zu fördern: In Italien stiegen Guiseppe Mazzini, der wichtigste Repräsentant der republikanischen Nationalbewegung, und vor allem Guiseppe Garibaldi seit dem Spätsommer 1849 als charismatischer Verteidiger der Repubblica Romana "zu einem mythisch überhöhten Nationalhelden auf", um dann endgültig seit 1859/60 zur "symbolischen Integrationsfigur der nationalen Einheit und Identität" Italiens zu werden, im Unterschied übrigens zu Hecker, der lediglich zur Projektionsfläche der radikaldemokratisch-republikanischen Bewegung wurde. [40] Hecker und Garibaldi gemein war allerdings, dass unzählige, wie Ikonen gestaltete Bilder von ihnen kursierten – ein Indiz, im welchem Maße gerade auch lebende Revolutionsheroen mit quasi-religiösen Heilserwartungen befrachtet wurden.
<48>
Eine ähnliche Rolle wie Hecker und Blum in Deutschland, Mazzini und Garibaldi in Italien spielten Lajos Kossuth sowie Sándor Petöfi für die ungarische Nationalbewegung. Wie sehr gerade Kossuth, der erst 1894 hoch betagt im Turiner Exil verstarb, zur lebenden Legende wurde, lässt sich unter anderem daran ablesen, dass ausgerechnet in den USA, dem Land der bürgerlichen Freiheit, Städte und Bezirke in sechs Staaten, von New Hamshire bis nach Mississippi, nach Kossuth benannt wurden. Wie Hecker wurde auch Kossuth zu einer Art frühen Popikone und zu einem modischen Trendsetter: Zahllose amerikanische Männer schnitten ihre Bärte nach dem Vorbild des ungarischen Revolutionshelden. [41]
<49>
Entscheidend für Heckers nachhaltige Wirkung war – neben seinem eindrucksvollen, 'Revolutionskostüm' [42] –, dass der badische Revolutionsheld nicht wieder bzw. erst zweieinhalb Jahrzehnte nach der Revolution, und auch das nur für kurze Zeit, nach Deutschland zurückkehrte. [43] Auch Kossuth wählte das Exil, das er bis zu seinem Tod nicht wieder verließ. [44] Vor allem die Beispiele Hecker und Kossuth zeigen: Mythen und Kulte um Personen und Personengruppen entfalten eine dauerhafte Wirkung dann, wenn die mystifizierten Figuren unerreichbar entschwunden sind. Um dazu zu werden, brauchten sie nicht physisch aus dem Leben geschieden, sie mussten nur politisch (und physisch) entrückt sein – nachdem sie emigriert und nicht wieder zurückgekehrt waren. Im Unterschied zu den Berliner Märzgefallenen, die noch heute auf ihr Denkmal warten, [45] schaffte es Hecker bereits 1886, wenige Jahre nach seinem Tod, zu einem riesigen 'Nationaldenkmal' in St. Louis sowie zwei kleineren ebenda bzw. in Cincinnati. [46]
<50>
Fünf Aspekte seien zum Schluss noch einmal hervorgehoben: (1.) Der revolutionäre Totenkult war jedenfalls in Deutschland nicht geeignet, zu einem Nationalmythos zu werden, der die verschiedenen sozialen Gruppen und politischen Strömungen einte. Im Gegenteil: Die öffentliche Erinnerung an die gefallenen Revolutionäre spaltete die Nation nachhaltig – in Deutschland, [47] nicht jedoch in anderen europäischen Ländern.
<51>
(2.) Die pathetisch-feierliche Erinnerung an die Toten der Revolution wie der Gegenrevolution von 1848/49 und die jenen unterschobene politische Sendung gab den Parteien jedenfalls in Deutschland überhaupt erst Kontur. Die entstehende Linke wie – nicht so stark ausgeprägt – die Rechte verstanden sich als Testamentsvollstrecker des vermeintlichen politischen Willens der im Kampf gefallenen Revolutionäre bzw. der im Kampf 'für König und Vaterland' getöteten Soldaten. Der Totenkult wurde für beide Seiten zum politischen Code und für die Linke zugleich der Beginn einer Art revolutionärer Familientradition.
<52>
(3.) Der Totenkult, gleich welcher politischen Couleur, impliziert Inklusion – und ebenso Exklusion: War der Totenkult zum politischen Code geworden, wurde ihm als zusätzliches Element das politische und soziale Gegenüber als Feindbild implementiert. Kollektive Ausgrenzung und Stigmatisierung dienten der holzschnittartigen Vereinfachung; sie erlaubten, die jeweiligen, zumeist komplexen historisch-politischen Konfliktkonstellationen auszublenden und auf bestimmte, griffige und personalisierte Grundmuster zu reduzieren. Unter der Hand wurde der Feind zudem zum Fremden, der außerhalb der Landesgrenzen stand. Die Märzgefallenen wurden für die Revolutionsbewegung zu Opfern der 'russischen Partei', wie die 'Militärpartei' um den Prinzen von Preußen und die hochkonservative Kamarilla am preußischen Hofe auf Seiten der Linken gern bezeichnet wurde. Für die Gegenrevolution wiederum waren die getöteten Barrikadenkämpfer gutgläubiges, jedoch von Franzosen, Polen oder Juden ferngelenktes, irregeleitetes Volk. Die Richtung hatte Friedrich Wilhelm IV. bereits am 19. März in seiner berühmten Proklamation vorgegeben: In seiner Sicht waren "meine treuen und lieben Berliner" durch "eine Rotte von Bösewichtern, meist aus Fremden bestehend", zur Revolution aufgehetzt worden. [48]
<53>
Ziel und Zweck der mit simplen Stereotypen vom feindlichen Fremden aufgeladenen Totenkulte lassen sich leicht entschlüsseln: Die demokratische Bewegung konnte, indem sie auf die Toten des 18. März als Opfer der 'russischen Partei' rekurrierte, die scharfen inneren Fraktionierungen übertünchen und suggerieren, eigentlich stünde ja das ganze Volk geschlossen hinter ihr. Für den offiziösen Totenkult der Hohenzollernmonarchie lag die Funktion noch deutlicher auf der Hand: In einer sozial und politisch stark zerklüfteten Gesellschaft wie der preußischen brauchten die herrschenden Eliten, solange ein so simplifizierendes Feindbild wirkungsmächtig blieb, keine substantiellen Lösungsstrategien zu entwickeln, um aus der politischen Sackgasse herauszukommen. Auch durch die gezielte Implementierung des zum verhassten Feind gemachten politischen Gegners gewann der Totenkult Wirkungskraft.
<54>
(4.) Die späte und zurückhaltende Ehrung der am 18. März in Berlin gefallenen Barrikadenkämpfer sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der von einer mal kleineren, mal größeren Minderheit zelebrierte Totenkult in der gesamtnationalen Erinnerung latent immer präsent war. Nichts zeigt dies deutlicher als der Tatbestand, dass selbst die Nationalsozialisten – die den Ereignissen vom Frühjahr 1848 nun wahrlich nichts abgewinnen konnten – der Märzrevolution ironisch huldigten, indem sie diejenigen, die nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 in die NSDAP eingetreten waren, spöttisch als 'Märzgefallene' titulierten.
<55>
(5.) Die Totenkulte sowie die politische Funktionalisierung von Begräbnissen sollten – jedenfalls mit Blick auf 1848 – nicht übermäßig in den Vordergrund geschoben werden. Ihnen trat schon relativ bald der gleichfalls quasi-religiös aufgeladene Kult um herausragende lebende Revolutionäre an die Seite. Auch dieser überlebte das Revolutionsjahr 1848 zum Teil um Jahrzehnte, im Grunde – ruft man sich die zahllosen Heckerfeiern, Heckerhüte, Heckerteller, Heckerbiere, Heckerweine usw. des Jahres 1998 in Erinnerung – bis heute.
Anmerkungen
[1] Tatsächlich waren es insgesamt 277 Märzgefallene. Die Debatte ist im Wortlaut wiedergegeben in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. IX. Legislaturperiode, V. Session, 1897/98, Bd. 2, Berlin 1898, 1581-1615, diese und die folgenden Zitate: 1600, 1602-1605. Zur Berliner Märzrevolution ausführlich: Rüdiger Hachtmann: Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1997, 157-202.
[2] Vossische Zeitung (VZ) vom 23. März 1848. Zum folgenden vgl. auch Manfred Hettling: "Ein früchtereiches Samenkorn". Das Begräbnis der Märzgefallenen 1848 in Berlin, in: ders.: Totenkult statt Revolution. 1848 und seine Opfer, Frankfurt a.M. 1998, 17-51.
[3] Das sollte sich in den Sommermonaten 1848 vor dem Hintergrund vor allem der Pariser Junirevolution rasch ändern; die revolutionären Massen, das riesige, scheinbar unkalkulierbare Proletariat wurde zur Projektionsfläche aller möglichen sozialen und politischen Ängste des Bürgertums: Die Revolution von 1848 markiert auch den Beginn des pejorativen bürgerlichen Massendiskurses, der sich seit Ende des 19. Jahrhunderts immer stärker in den Vordergrund schob und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bekanntlich höchst fatale politische Folgen zeitigte.
[4] Zitate: VZ, 23. März 1848 bzw. Paul Boerner: Erinnerungen eines Revolutionärs. Skizzen aus dem Jahre 1848, Bd.1, Leipzig 1920, 233f.
[5] Ausführlich: Hachtmann: Berlin 1848, 216-219, sowie mit anderer Akzentsetzung: Hettling: "Früchtereiches Samenkorn", 36-41.
[6] Sydow (1800-1882), einer der bedeutendsten Schüler Schleiermachers, war 1836-1842 Hofprediger in Potsdam und 1846-1876 Prediger an der 'Neuen Kirche' in Berlin. Zum theologischen und politischen Wirken Sydows und seines engen Mitstreiters Ludwig Jonas: Andreas Reich: Ludwig Jonas / Adolf Sydow: Zur Kirchenpolitik der Schleiermacherschüler, in: Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg. Archivbericht Nr.11 (Jan. 1999), 33-56.
[7] Nach: Adolf Wolff: Berliner Revolutionschronik. Darstellung der Berliner Bewegungen im Jahre 1848 nach politischen, socialen und literarischen Beziehungen, Bd.1, Berlin 1851-1854 (ND Leipzig 1979), 324ff.
[8] Jung (1814-1886), Jurist, war während des Vormärz führend an demokratischen Zeitungen (u.a. den 'Hallischen Jahrbüchern', der 'Rheinischen Zeitung' und den 'Deutsch-französischen Jahrbüchern') beteiligt. Er gehörte, wie Sydow, von Mai bis November der Preußischen Nationalversammlung an, allerdings der linken Fraktion; von Februar bis April 1849 war er Abgeordneter der Zweiten Kammer des Preußischen Parlaments. 1849 wurde er nicht als Advokat zugelassen, danach lebte er von seinem Privatvermögen. Im Februar 1850 wurde er im Steuerverweigerungs-Prozess freigesprochen und aus Berlin ausgewiesen. 1863-1867 und 1869-1876 war er Mitglied im Preußischen Abgeordnetenhaus (zunächst Fortschritt, seit 1866 Nationalliberal).
[9] Exemplarisch die Gründungsphase des späteren linksradikalen 'Demokratischen Klubs', der sich zunächst bezeichnender Weise als 'Politischer Klub' konstituierte. Vgl. Hachtmann: Berlin 1848, 272-278
[10] Hettling: "Früchtereiches Samenkorn", 19.
[11] Politischer Code meint hier in Anlehnung an die Definition des 'kulturellen Codes' durch Shulamit Volkov das 'Bekenntnis' zum '18. März' und den an diesem Tage Gefallenen als Signum politischer Identität, mit dem zugleich Code-artig verkürzt die Zugehörigkeit zu einem bestimmten politischen 'Lager' ausgedrückt wird. Ich verwende den Begriff des 'politischen Codes' statt des (umfassenderen) 'kulturellen Codes', weil es sich beim Totenkult um ein unmittelbar politisches Bekenntnis handelt und nicht – wie beim modernen Antisemitismus – um eine kulturelle Grundhaltung, die über das Politische im engeren Sinne hinaus geht. Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code, in: dies.: Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München 2000, 13-36, bes. 23.
[12] Berends in: Verhandlungen der Versammlung zur Vereinbarung der Preußischen Staats-Verfassung (Stenographische Protokolle), Bd.1, Berlin 1848 (ND Vaduz/Lichtenstein 1986), I, 156. Zur Diskussion und Abstimmung über den Antrag vgl. ebd., 156-171; außerdem Manfred Botzenhart: Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848-1850, Düsseldorf 1977, 520; Hachtmann: Berlin 1848, 561-563.
[13] Zitate und Angaben zur Zahl der Demonstrationsteilnehmer aus: VZ, National-Zeitung (NZ), Spenersche Zeitung (SZ) und Berliner Zeitungs-Halle (BZH) vom 6. Juni; NZ vom 9. Juni; 'Gutenberg' vom 10. Juni 1848; Wolff: Revolutionschronik, III, 130. Das folgende Zitat: Boerner: Erinnerungen, II, 173.
[14] Zitate aus der Rede G. Jungs. Ausführlich: Hachtmann: Berlin 1848, 558/559; Hettling: "Früchtereiches Samenkorn", 49/50.
[15] Hans Magnus Enzensberger: Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus, in: Merkur XII (1958)/ 8, 701-720, Zitat: 708.
[16] Hettling: "Gegen Demokraten helfen nur – Soldaten". Die preußischen Kriegerdenkmäler für 1848/49, in: ders.: Totenkult, 76-132, hier: 80.
[17] Zitate: VZ und NZ vom 20. März 1849. Auch anderswo bot das Gedenken an den 18. März 1848 Gelegenheit zur demokratischen Heerschau. Im Kölner Gürzenich beispielsweise wurde am 19. März 1849 ein Festbankett zur Erinnerung an die Berliner Barrikadenkämpfer veranstaltet. Mit um die fünftausend Menschen wurde es zur größten Kölner Revolutionsveranstaltung überhaupt; vgl. Marcel Seyppel: Die demokratische Gesellschaft in Köln 1848/49. Städtische Gesellschaft und Parteienentstehung während der bürgerlichen Revolution, Köln 1992, 269; Jonathan Sperber: Rhineland Radicals. The Democratic Movement and the Revolution of 1848-1849, Princeton 1991, 291.
[18] In: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin (GStA), Rep.77, Tit.501, Nr.3, Beiheft 3, Bl.38.
[19] Zitate: Polizeiberichte vom 18. März 1856 und 18. März 1862, in: Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Rep.30, Tit.94, Nr.9795, Bl.48 und 58.
[20] Vgl. Special-Rapport der Berliner Polizei für den preußischen Minister des Innern vom 20. März 1873, in: ebd., Bl.86-87; außerdem Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution 1848/49, von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Walter Schmidt, Berlin 1983, 372.
[21] Vgl. Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des ersten Weltkrieges, Frankfurt a.M. u.a. 1973, 154; Helmut Hartwig / Karl Riha: Politische Ästhetik und Öffentlichkeit. 1848 im Spaltungsprozeß des historischen Bewußtseins, Gießen 1974, 23-32.
[22] Friedrich Ebert, Der Geist von 1848. Zwei Reden bei der Gedenkfeier in Frankfurt am. 18. Mai 1923, in: ders.: Schriften, Aufzeichnungen, Reden, Bd. 2, Dresden 1926, 305-307.
[23] So Hitler während einer Rede am 30. März 1938 in Frankfurt a. M., nach: Max Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen, kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Bd. 1: Triumph, 2. Halbband: 1935-1938, München 1965, 841.
[24] Die Verweigerung nennenswerter offizieller Erinnerung seitens der CDU/SPD-Koalition an die Märzrevolution von 1848 war nicht etwa einem angesichts der desolaten Haushaltslage des Landes Berlin besonderen Sparwillen des Diepgen-Senats geschuldet. Sie war politisch gewollt. Drei Jahre später nämlich saß derselben großen Koalition das Geld recht locker: 2001 ließ der Diepgen-Senat das 'Preußenjahr' (300 Jahre Königskrönung Friedrich I.) durch opulente, mit kostspieligen Exponaten reich bestückte Ausstellungen feierlich begehen.
[25] Vgl. Protokoll der Stadtverordnetenversammlung vom 21. März 1848, in: Landesarchiv Berlin / Stadtarchiv (LAB StA), Rep.00, Nr.128. An Spenden für ein Denkmal kamen insgesamt etwa 2.500 Taler zusammen, eine für damalige Verhältnisse recht beachtliche Summe; vgl. VZ vom 21. April 1854.
[26] Vgl. etwa eine Aktennotiz betr. Antrag des Bezirksvereins für den Stadtbezirk Nr. 68 vom 3. Aug. 1848, in: LAB StA, Rep.00, Nr.128, Bl.8. Zu den Plänen für das Denkmal vgl. ebd., Rep.01, Nr.2443, Bl.15 bzw. 20; ausführlich: Hans Czihak: Kampf um die Ausgestaltung des Friedhofes der Märzgefallenen im Berliner Friedrichshain, in: Berliner Geschichte Nr. 9/1988, 24-34; erneut veröffentlicht in: Walter Schmidt (Hg.): Demokratie, Liberalismus und Konterrevolution. Studien zur deutschen Revolution von 1848/49, Berlin 1998, 549-561.
[27] Vgl. SZ , 4. Febr. 1854, 9. Nov. 1856 (Zitat), 5. u. 8. Dez. 1857; VZ, 8. Dez. 1857 u. 18. Sept. 1858.
[28] Zitate: VZ, 5. Juni 1852, 17. April 1854 bzw. 15. Mai 1861; vgl. außerdem Czihak: Kampf, 26f.
[29] Hierzu und zum folgenden ausführlich: Hettling: "Gegen Demokraten helfen nur – Soldaten", 76-132.
[30] Tatsächlich waren es mehr, vermutlich gut fünfzig Tote auf Seiten der preußischen Armee. Vgl. Hachtmann: Berlin 1848, 187ff.; ders.: Die Macht des Gerüchts in der Revolution von 1848. Das Berliner Beispiel, in: ders. / Michael Grüttner / Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup zum 65. Geburtstag, Frankfurt a.M. / New York 1999, 189-216, hier: 208f.
[31] Predigt Ziehes nach: Wolff: RC, I, 415.
[32] Vgl. SZ, 25. März 1848; Wolff: RC, I, 414 f. Die versöhnenden Worte des "würdigen Geistlichen" hatten die beabsichtigte Wirkung. "Brüderlich reichten sich Civilist und Militair die Hand". (VZ, 25. März 1848.)
[33] Zitate aus Flugblättern vom Sommer und Herbst 1848. Vgl. Rüdiger Hachtmann: Die Potsdamer Militärrevolte vom 12. September 1848: Warum die preußische Armee dennoch ein zuverlässiges Herrschaftsinstrument der Hohenzollern blieb, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 57 (1998)/ 2, 333-369, hier: 361-367; ders.: Berlin 1848, 682f., 712f., 855f.
[34] NZ, 10. Febr. 1873.
[35] Vgl. Friedrich Ebert: Der Geist von 1848. Zwei Ansprachen bei der Gedenkfeier in Frankfurt am 18.5.1923, in: ders.: Schriften, Aufzeichnungen, Reden, Bd. 2, Dresden 1926, 304ff. Die Barrikadenkämpfer werden in diesen Reden, die Ebert anlässlich des 75. Jahrestages der Revolution freilich in seiner Funktion als Reichspräsident hielt, mit keinem Wort erwähnt, dagegen das "edelste Wollen" der Paulskirchen-Abgeordneten um so stärker herausgestrichen.
[36] Die hier angedeutete liberale Position artikulierte nicht zuletzt Rudolf v. Bennigsen als führender Nationalliberaler in der Debatte des Reichstags am 18. März 1898 eindrucksvoll. Vgl. Stenographische Berichte, 1606f.
[37] Manfred Hettling: Totenkult statt Revolution. 1848 und seine Opfer, Frankfurt a.M. 1998, 9, 19, 51. Zu berücksichtigen ist im übrigen die historische Bedingtheit der quasi-religiösen Ebene des Totenkults: 1848 begann sich die Politik – in Deutschland – überhaupt erst von der Religion zu emanzipieren; während des Vormärz waren Politik und Religion häufig untrennbar miteinander verquickt. Es überrascht deshalb wenig, dass 'Politik' gleich welcher Couleur 1848 zunächst noch – rhetorisch und symbolisch – stark religiös aufgeladen war. Die liberale, demokratische und sozialistische Bewegung streifte diese religiösen Eierschalen relativ rasch ab.
[38] Irmtraud Götz v. Olenhusen: 1848/49 in Baden. Traum und Trauma der Französischen Revolution, in: dies. (Hg.): 1848/49 in Europa und der Mythos der Französischen Revolution, Göttingen 1998, 81-113, hier: 90.
[39] Hans Fenske / Joachim Kermann / Karl Scherer (Hg.): Die Revolution 1848/49 und die Pfalz, Bd. 2, Kaiserlautern 2000, 393. Vgl. außerdem u.a.: Jonathan Sperber: Kirchen, Gläubige und Religionspolitik, in: Dowe u.a.: Europa 1848, 933-959, hier: 946; ders.: Germania mit Phrygiermütze. Zur politischen Symbolik der Revolution von 1848/49 in den Rheinlanden, in: Götz v. Olenhusen: 1848/49 in Europa, 63-80, hier: 65, 74; Sylvia Paletschek: Frauen und Dissens. Frauen im Deutschkatholizismus und in den freien Gemeinden 1841-1852, Göttingen 1990, 65/66 sowie die in Anm. 34 bis 36 genannte Literatur.
[40] Thomas Kroll: Das "jakobinische Italien". Demokraten und Republikaner in der Revolution von 1848/49, in: Götz v. Olenhusen: 1848/49 in Europa, 39-62, hier: 39.
[41] Vgl. Timothy W. Roberts: Diplomatische Reaktionen der Vereinigten Staaten während der Revolutionsjahre 1848, in: Wolfgang Hochbruck / Ulrich Bachteler / Henning Zimmermann (Hg.): Achtundvierziger. Forty-Eighters. Die deutsche Revolution von 1848/49, die Vereinigten Staaten und der amerikanische Bürgerkrieg, Münster 2000, 29-41, hier: 37.
[42] Isabella Belting: Mode und Revolution. Deutschland 1848/49, Hildesheim 1997, bes. 71-88.
[43] Vgl. Sabine Freitag: Friedrich Hecker. Biographie eines Republikaners, Stuttgart 1998, 388-408.
[44] Petöfi wiederum kam Ende Sept. 1849 vermutlich auf der Flucht um; der Kult um seine Person war also ähnlich wie bei Blum ein Totenkult. Die Lebenswege Garibaldis und Mazzinis – nicht jedoch der Mythen-Effekt – unterschieden sich wiederum von den vorgenannten, vier deutschen und ungarischen Revolutionsheroen: Beide lebten seit 1860 überwiegend in Italien. Auf den politischen Hauptbühnen spielten sie jedoch keine Rolle mehr – so dass sie der Mythenbildung um die eigene Person nicht im Wege standen
[45] Metaphorisch sprach Bebel in einem seiner Debattenbeiträge vom 18. März 1848 übrigens davon, dass der "Deutsche Reichstag", als die (in seiner Perspektive:) Vollendung der bürgerlichen Revolution das "beste Denkmal der Märzrevolution" und der Märzgefallenen darstelle (Stenographische Berichte, 1600).
[46] Freitag: Hecker, 509-524. Peter Assion: "Es lebe Hecker! Stoßet an!" Die Popularität und Verehrung Friedrich Heckers von 1848/49 bis zur Gegenwart, in: Alfred Georg Frei (Hg.): Friedrich Hecker in den USA. Eine deutsch-amerikanische Spurensicherung, Konstanz 1993, 117-134, hier: 130.
[47] Wohl auch deswegen konnte die 'Germania' nie zur deutschen Nationalfigur werden – im Unterschied zur französischen Marianne. Zur Genesis und zu den Wandlungen der Germania vgl. Rainer Schoch: Streit um Germania. Bemerkungen zur 'Germania' aus der Paulskirche, in: 1848. Das Europa der Bilder, Bd. 2: Michels März, hg. vom Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, der Assemblée Nationale Paris, dem Museo Nazionale del Risorgimento Turin und dem Musée nationale suisse Prangins, Nürnberg 1998, 89-102; Lothar Gall: Die Germania als Symbol nationaler Identität im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1992, bes. 44ff.; Marie-Louise v. Plessen: Germania aus dem Fundus, in: dies. (Hg.): Marianne und Germania 1789-1889, Berlin 1996, 31-36.
[48] Ganz ähnlich sprach Puttkamer-Plauth 1898 in einem seiner Debattenbeiträge von "ausländischem Gesindel, welches unser gutes treues Volk verführt hat" (Stenographische Berichte, 1591).

Autor:
Prof. Dr. Rüdiger Hachtmann
TU Berlin
z.Zt. Präsidentenkommission Max-Planck-Gesellschaft zur Erforschung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Dritten Reich - Forschungsgruppe
Glinkastr. 5-7
10117 Berlin
hachtmann@mpiwg-berlin.mpg.de

Empfohlene Zitierweise:

Rüdiger Hachtmann: Die Revolution von 1848 – Kulte um die Toten und die Lebenden, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1 [09.08.2004], URL: <http://zeitenblicke.historicum.net/2004/01/hachtmann/index.html>

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