Mit dem Kooperationsprojekt 'Rechtspraxis. Ein neuer Zugang zur Geschichte der Juden im Alten Reich?' des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur, des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main und der Professur für Religionswissenschaften / Judaistik der Universität Erfurt verbinden sich zwei Ziele. Zum einen geht es um einen Paradigmenwechsel von den Rechtsnormen zur Rechtspraxis bei der Erforschung der Rechtsgeschichte und der Lebenswelten der Juden im Alten Reich, zum anderen um das Aufbrechen überkommener historiographischer Traditionen auf der Grundlage der Rechtspraxis. Primäres Ziel des Kooperationsprojektes ist es, die Juden betreffende Rechtsprechung durch nicht-jüdische sowie durch jüdische Gerichte systematisch zu untersuchen und dadurch einen neuen Zugang zur rechtlichen Lage der Juden in der Frühen Neuzeit zu eröffnen. Schwerpunkte der Untersuchung sind die Rechtsprechung und die übrigen jüdischen Betreffe des Reichshofrats (insbesondere für den Zeitraum von 1648 bis 1806), die Rechtsprechung des Reichskammergerichts (für ausgewählte Herrschaften), die Spruchtätigkeit der Leipziger Juristenfakultät und des Leipziger Schöffenstuhls und der Rabbinatsgerichte Altona-Hamburg-Wandsbek und Heidingsfeld.
Unmittelbar verbunden mit dem Paradigmenwechsel von den Rechtsnormen zur Rechtspraxis bei der Analyse der Geschichte der Juden in der Frühen Neuzeit ist das Aufbrechen historiographischer Traditionen, für deren Fortbestand die Beibehaltung eines normativen Blickwinkels unabdingbar war. Im Verhältnis von Juden und Nicht-Juden lässt sich mit Hilfe der Untersuchung der Rechtspraxis die Vorstellung einer wie auch immer definierten, prästabilisierten jüdischen Kultur, die Voraussetzung jeder nationalgeschichtlichen Zugangsweise ist, und damit die Dichotomie zwischen Innen und Außen in dynamische, interaktive Handlungsprozesse auflösen. Bei der Beurteilung des Gewichts imperialer und territorialer Rahmenfaktoren für die Rechts- und Lebensverhältnisse der Juden im frühneuzeitlichen Alten Reich, sind Kaiser und Reich durch eine Kombination der borussischen Historiographie, der österreichischen 'Reichsgeschichte' und deren Fortsetzungen im 20. Jahrhundert sowie der jüdischen Historiographie verdrängt worden. Aufgrund des direkten und indirekten Einflusses dieser drei historiographischen Traditionen wurden die quasi-souveränen Territorialstaaten und komplementär dazu die Landjudenschaften als ausschlaggebend für die Gestaltung der Lebenswelten der Juden im Alten Reich angesehen. Für die Rekonstruktion des imperialen Raumes als jüdischem Raum kommt der Rechtspraxis, insbesondere der Nutzung der beiden obersten Reichsgerichte, des Reichskammergerichts in Wetzlar und des Reichshofrats in Wien, besondere Bedeutung zu.
http://www.dubnow.de und
http://www.mpier.uni-frankfurt.de