Das Visuelle in Sprache übersetzen?
Der wissenschaftliche Diskurs und die Polyvalenz indischer Bilder
urn:nbn:de:0009-9-15408
Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht die Entstehung eines wissenschaftlichen Diskurses über indische Kunstgeschichte. Unser Wissen zu Bildern entsteht oft über schriftliche Narrative – in diesem Fall über kunstwissenschaftliche Paradigmen und Begriffe, die selbst Ergebnis der kolonialen Wissensproduktion zu indischer Kultur waren und bis in die Gegenwart oft unhinterfragt geblieben sind. Hier entsteht also eine Disjunktion zwischen der kulturspezifischen und mehrdeutigen Visualität und dem akademischen Diskurs, der anhand der ’Textualisierung’ von Wissen auch zur Kanonisierung von Wissen über indische Bilder geführt hat. Die Geschichte der Bilder dagegen hat sich über mehrere Jahrhunderte in vielfältigen sozialen und kulturellen Zusammenhängen entfaltet und so immer wieder neuere Schichten von Bedeutung angeeignet. Der Beitrag erwägt eine Annäherung an die nordindische Hofmalerei über die Polyvalenz der Bilder selbst.<1>
Unser Wissen zu indischen Bildern ist meistens über moderne schriftliche Narrative entstanden. Das wissenschaftliche Verfahren ’Bildinterpretation’ bedeutet, dass der ’Sinn’ eines Bildes in Sprache übersetzt wird, um das visuelle Medium in den kulturellen Kommunikationsprozess einzubeziehen. Ich verwende hier den Übersetzungsbegriff im kulturtheoretischen Sinne: Er deutet weniger auf einen bloßen Akt des Dolmetschens hin, der eine sprachliche oder wissenschaftliche Äquivalenz schafft. Vielmehr geht es um einen Repräsentationsprozess, der über eine mechanische Übertragung aus dem einen Medium in das andere hinausgeht und durch unterschiedliche diskursive Kategorien vermittelt und strukturiert wird. [1] Dies geschieht über wissenschaftliche Paradigmen und Begriffe, welche die moderne Disziplin der Kunstgeschichte uns geliefert hat, um den Sinn eines Bildes zu erschließen. Die Kunstgeschichte des indischen Subkontinents ist selbst Ergebnis der kolonialen Wissensproduktion gewesen, die eine textliche Vermittlung der fremden indischen Welt anstrebte.
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Mein Beitrag problematisiert die Entstehung eines Diskurses, der zur Vertextung des Visuellen beigetragen hat. Der kunstwissenschaftliche Diskurs schuf zugleich einen Kanon, der nicht nur zur Beurteilung des ästhetischen und damit des zivilisatorischen Wertes der indischen Kunst diente, sondern auch die Kriterien festlegte, um ein Objekt, das in unterschiedlichen kulturellen Handlungszusammenhängen eingebettet war, von nun an zum ’Kunstwerk’ zu erklären. Mit welchem wissenschaftlichen Instrumentarium können wir heute versuchen, das schriftliche Wissen mit dem kulturellen ’Eigensinn’ der Bilder zu konfrontieren? Arbeiten wir mit Begriffen und Kategorien einer Kunstwissenschaft, die aus einem ’fremdkulturellen’ europäischen Erfahrungszusammenhang entstanden ist und für sich eine universell gültige Deutungshoheit beansprucht, oder schaffen wir eine eigene, aus regionsspezifischen Quellen herausgearbeitete ’autochthone’ Begrifflichkeit, um die Geschichte nichteuropäischer Kunstwerke zu schreiben? Ohne die Kategorie der Differenz leugnen zu wollen, möchte ich gegen die Verwendung von ausschließlich aus Quellentexten stammenden ’fremdsprachigen’ Begriffen auf der analytischen Ebene argumentieren, da diese Prozedur das Fremdkulturelle aus dem gemeinsamen Begriffshorizont ausschließen und es in seiner Fremdheit festschreiben würde. [2] Dagegen plädiert der Beitrag für eine gemeinsame Wissenschaftssprache, die selbstreflexiver und polyvalenter als bislang gestaltet ist, um der Herausforderung der globalen Vielfalt von kulturellen Traditionen und ästhetischen Praktiken gerecht zu werden. Ein erster wichtiger Schritt in dieser Richtung wäre die kritische Auseinandersetzung mit Kanonisierungsprozessen innerhalb von Disziplinen, die an der Übersetzung des Visuellen in die geschriebene Sprache beteiligt sind.
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Die Geschichte des wissenschaftlichen Diskurses, der für sich die Deutungsmacht der indischen Kultur beanspruchte, ist eine komplexe, verwobene Geschichte, die im 19. und 20. Jahrhundert Metropole und Kolonie umspannte und in beide Zusammenhänge eingebettet war. Um ihren Entwicklungspfad zu kartieren, müssen wir eine Vielzahl von Faktoren und Prozessen, die sich in einem translokalen Rahmen entfaltet haben, genauer unter die Lupe nehmen. Neue Sammlungspraktiken und Ausstellungsprinzipien bewirkten, dass Kunstwerke aus der Kolonie in die Metropole kamen und dort in Museen und Weltausstellungen präsentiert, klassifiziert und von einem breiten Publikum rezipiert wurden. Zu dieser Zeit entstand in Europa sowie in den USA ein Markt für indische Kunstwerke. Auch die Entstehung der Disziplin der modernen Kunstgeschichte war Teil und zugleich Ergebnis dieser Verwobenheit. Ihr wurde unter anderem die didaktische Aufgabe zugeschrieben, einem in den europäischen Metropolen wachsenden Museumspublikum ein Erklärungsmuster zu liefern, um den Sinn einzelner fremder Kunstwerke deuten und sie anschließend als Gesamtheit einer Zivilisationshierarchie zuordnen zu können. So kristallisierten die kulturellen Maßstäbe, um Schönheit, ästhetischen Wert und zivilisatorische Leistung auf globaler Ebene zu messen. Ebenso bemühten sich die Kolonien, Kunstwerke als Hort der nationalen Tradition zu stilisieren und sie als Bestandteil von Nationsbildungsprozessen mit einer neuen Deutung zu versehen. [3]
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Um es kurz zu fassen: Aus diesen historischen Prozessen ist ein nahezu einheitlicher kunstwissenschaftlicher Diskurs entstanden, dessen kanonisch gewordene Schemata bis heute für die Deutung von Kunstwerken maßgebend geblieben sind. Der Diskurs bleibt an einer doppelten Erklärungsdynamik beteiligt. Zum einen ziehen seine Autoren ein ihnen vertrautes wissenschaftliches Instrumentarium sowie einen durch den europäischen Humanismus geprägten Wertekanon heran, um die aus ihrer Sicht fremden indischen Kunstwerke zu erschließen. Zweitens verwenden sie eine Sprache der Differenzsetzung, um die Grenze oder die Gegensätze zwischen Eigenem und Fremden festzulegen. In diesem Beitrag beschränke ich mich auf die schriftliche Wissensproduktion über eine einzige Gattung von Bildern, und zwar die nordindische Hofmalerei der vorkolonialen Zeit. Im Mittelpunkt des kunsthistorischen Narrativs über diese Bilder standen ’die stilistischen Eigenschaften’, die ’characteristic features’ wie es in etlichen Monographien über die nordindische Malerei heißt, die sie in ’Schulen’ oder Stilrichtungen unterteilen lassen. Die Unterteilung stimmte mit dem Gestaltungsprinzip der indischen Miniaturensammlung des Londoner Victoria and Albert Museums überein. Im Jahre 1951 ließ der neue Kurator der indischen Abteilung, William G. Archer, die früheren drei Ausstellungsräume, in denen diverse Kunstgegenstände in chronologischer Ordnung ausgestellt wurden, zugunsten einer einzigen, lang gezogenen Gemäldegalerie umbauen. [4] Malerei gehörte von nun an zu den höheren Künsten, die der hiesige Wertekanon von anderen ’Artefakten’ abgrenzte. Das neue Raumprinzip der Gemäldegalerie ermöglichte es dem Museumsbesucher, die im Rahmen einer linearen Stilgeschichte ausgestellten Bilder als langes, sich entfaltendes Panorama wahrzunehmen. Die Eigenschaften jeder ’Schule’ werden in der Historiographie weiterhin anhand von bestimmten Kriterien beschrieben, etwa die Beherrschung von Prinzipien der Zentralperspektive sowie der naturalistischen Darstellungsformen, von Kriterien also, welche der humanistische Kanon der westlichen Kunstgeschichtsschreibung zum wichtigsten Maßstab erhoben hat, um den Grad der Geschicklichkeit und den ästhetischen Wert eines Kunstwerkes zu beurteilen.
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Zugleich muss beobachtet werden, dass am Anfang des 20. Jahrhunderts, dem Zeitpunkt, als etliche englisch- und französischsprachige Werke zur indischen Kunst erschienen, eine europäische Avantgarde gerade die Unterminierung des humanistischen Kanons durch mehrere postimpressionistische künstlerische Bewegungen, etwa den abstrakten Expressionismus oder den Surrealismus, zelebrierte. Doch der kunstwissenschaftliche Diskurs privilegierte nach wie vor das humanistische Ideal, das er in die außereuropäische Welt exportierte, um über die ästhetische Qualität der nichteuropäischen Kunst zu urteilen. Dieses Phänomen einer ’europäischen Essenz’, die dann aus der Metropole als Teil des Diskurses vom bürgerlichen Individualismus in die Kolonien transportiert wurde, hat der Historiker Dipesh Chakrabarty das “model of a hyperreal Europe“ genannt. [5]
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Erschließt man die künstlerische Produktion des indischen Subkontinents während der vorkolonialen Zeit anhand des humanistischen Kanons, so werden bis in die jüngste Forschung abgenützte Begriffe wie europäischer ’Einfluss’ verwendet, um etwa die perspektivische Raumgestaltung und das ikonographische Programm der Miniaturmalerei zu beschreiben. [6] Brüche in der Bildstruktur oder die von den Hofkünstlern bevorzugte selektive Aneignung fremder Repräsentationsmodi werden in dieser Argumentationslogik entweder als künstlerisches Ungeschick oder als die ’unvollendete Assimilierung’ fortgeschrittener Techniken der visuellen Repräsentation abgetan.
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So entsteht ein Narrativ vom Aufstieg und Untergang der Malkunst, das die künstlerische Produktion in den Termini von erfolgreicher Aneignung bzw. Defiziten kartiert. Einen wichtigen Punkt der Differenzsetzung zwischen der europäischen und nichteuropäischen Kunst bildet in dem wissenschaftlichen Diskurs die Stellung des Künstlers in nichteuropäischen Gesellschaften der Vormoderne. Der Status des indischen Künstlers, so meinen viele Kunsthistoriker, sei der eines anonymen Handwerkers gewesen, seine künstlerische Tätigkeit sei ins doppelte Korsett vom Auftragssystem und Kastenwesen eingezwängt gewesen, und sein künstlerisches Können habe aus derjenigen Virtuosität bestanden, mit der er die Vorgaben und die Wünsche seines Auftraggebers ausgeführt habe. Der westliche Künstler dagegen, zum kreativen Individuum stilisiert, bilde das humanistische Ideal eines Menschen, der selbst über seinen Schaffungsprozess und die Mittel der Repräsentation bestimme. [7]
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In den folgenden Teilen dieses Essays erwäge ich eine Annäherung an das Feld der vorkolonialen nordindischen Hofmalerei über drei Fragen: zunächst über den Weg der Produktion, Zirkulation und Rezeption der Bilder. Diese waren allesamt Miniaturen, Bestandteil von Handschriften, die unter einer multiethnischen und pluri-religiösen Hofelite zirkulierten. Ein Bild erhielt etliche Schichten von Sinndeutung, die sich aus einer Pluralität von theologischen und kulturellen Zusammenhängen konstituierten. In den traditionellen Glaubenssystemen der Hindus wurden Bilder in einem kontinuierlichen rituellen Kontext von Frömmigkeit und Aufwartung geschaffen und unterhalten. [8] Den nach außen hin statisch erscheinenden Bildern wurden anthropomorphe Eigenschaften zugeschrieben, die erst über die rituelle Beziehung mit dem Betrachter ins Leben gerufen werden, um dem bemalten oder gehauenen Gegenstand mit einer besonderen Potenz zu versehen. Bildtraditionen, die aus dem Iran und Zentralasien in Nordindien eintrafen, schrieben ihrerseits der Beziehung zwischen Betrachter und Bild die Eigenschaften einer mystischen Erfahrung zu, um unter andrem einen Weg aus dem Spannungsverhältnis zu finden, in dem sie mit der orthodoxen muslimischen Lehrmeinung um die Künste der figürlichen Darstellungen standen. [9]
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Der Betrachter einer Miniatur sollte sich, gebeugt über ein handliches Lesepult, in Handschriften und Bilderalben ungestört, allein und mit intimer Kennerschaft hineinversenken. Diese Nähe bedeutete eine solitäre Betrachtung mit intensiver Konzentration, die in der modernen Ausstellungspraxis, Miniaturen an flache, vertikale Wände aufzuhängen, allzu leicht verloren geht. Auf der politisch-zeremoniellen Ebene einer Hofgesellschaft wurde Bildern eine ’magische Kraft’ zugeschrieben, um auf ihr Vermögen hinzudeuten, die hinter den Bildern stehende tatsächliche soziale Kraft – mit anderen Worten, die Macht des Auftraggebers, aber implizit auch die des Künstlers, die ein Bild ins Leben rief – in eine andere Art von Kraft, die Macht der Zeichen, umzuwandeln. [10]
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Vision und Visualität bildeten die Kanäle, über die sich gemalte Bilder und rituelle Praktiken überlagerten und gegenseitig kodifizierten. Das Herrscherporträt zum Beispiel übernahm die Sprache des zeremoniellen darshan. Das Wort darshan bedeutet gleichzeitig sakrale Vision als auch das Betrachten einer Vision. Die monarchische Praxis des darshan leitet sich von einem religiösen Konzept ab, in dem das Betrachten des Bildes einer Gottheit dem Betrachter feierlich Segen zuteil werden lässt. [11] Das darshan am Moghulhof wurde zu einem Ritual, in dem der Kaiser, gleichzeitig mit der aufgehenden Sonne, an einem speziellen Fenster seines Palastes, dem Jharoka, erschien. Der prächtige Fensterrahmen und die Morgenröte verliehen seinem Gesicht einen sakralen Rahmen, während sein Blick auf eine Versammlung von ergebenen Untertanen herabgerichtet war. Viele der im Hof versammelten Menschen fasteten bis zu diesem darshan, denn allein diese Vision würde ihnen das Wohlbefinden und den Zusammenhalt ihrer Welt versichern. Das Ritual entfaltete sich in einem architektonischen und räumlichen Rahmen, in dem sich die Blicke des Monarchen und die seiner Untertanen nie begegneten. Diese Sprache der einander nicht treffenden Blickachsen fand Aufnahme in die Bildsprache der Mogul Herrscherporträts. So flossen die rituelle Praxis des darshan und der Akt des Betrachtens eines gemalten Porträts ineinander. Das Herrscherbild schöpfte aus dem Ritual seine sakrale Potenz, verlieh seinerseits dem Ritual eine zeitliche Permanenz.
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Das Erscheinungsbild des Herrschers, wie in diesem Porträt, wurde in eine Mehrzahl von Rahmen eingeschlossen, welche eine Ikonographie des Sakralen bildeten. [12] Um das distanzierte, statische Profilbild zu erreichen, muss der Blick des Betrachters erst schrittweise mehrere Rahmen ’überqueren’ – einen breiten aus Spalier mit Blumen und Vögeln bestehenden Rahmen, danach drei schmalere Rahmen, worin der Mittlere etwas breiter ist und einen Arabeskenmotiv abbildet, und anschließend die zierlichen Säulen des Thronbaldachins. Die normative Mirror of Princes Literatur vormodernen Asiens, etwa die Schrift von Nasir du Din Tusi, Akhlaq-i Nasiri, widmet längere Abschnitte dem Thema der Eigenschaften der Monarchie. Das Vermögen, Gefühle – etwa Begehren, Zorn, Leidenschaft – beherrschen zu können, wird hier zur höchsten königlichen Tugend stilisiert. So erhielten auch bemalte Gesichter eine visuelle Eigenschaft, die der von Götterbildern ähnelte, eine Eigenschaft, die als flach, distanziert, ikonisch und undurchdringlich beschrieben werden kann. Dies erreichten die Künstler durch eine partikulare Malprozedur – die Überlagerung mehrerer Schichten von undurchsichtiger Farbe und eine polierte Oberflächenbehandlung des Bildes. Solche bemalte Gesichter, welche dem durchdringenden Blick des Betrachters eine Art Widerstand leisteten, hatten bei europäischen Beobachtern für Irritation gesorgt. So beschrieb der französische Reisende François Bernier in einem Brief an seinen Pariser Partner die Gesichter der Mogul-Herrscherbilder etwas herablassend als „erstaunlich ausdruckslos“. [13]
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Die zweite Frage, auf die ich jetzt eingehen möchte, habe ich bereits thematisiert: Welche kulturhistorische Funktion hatten die in der humanistischen Tradition kanonisch gewordenen Praktiken der illusionistischen Malerei, die als universellen Maßstab herangezogen werden? Mit anderen Worten: Die Mimesis oder die illusionistische Macht der Bilder verkörpert ein historisches Verständnis von Natur, das in der Partikularität der europäischen Renaissance ihre ideologischen Wurzeln hat. Erhebt man den Illusionismus zum universellen ästhetischen Kanon, so besteht die Gefahr, ein enthistorisiertes Naturverständnis als Maßstab heranzuziehen, um den ästhetischen Wert eines jeden Kunstwerks zu beurteilen. Versuchen wir dagegen, uns dem kulturellen Naturverständnis der Mogulhofgesellschaft anzunähern, und zwar über den Weg ihrer Bilder.
Abb.1
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Das Bild zeigt den Mogulkaiser Akbar auf einer Jagd (shikar) in der Nähe von Lahore. Die Darstellung enthält mehrere Etappen des sich entfaltenden Narrativs. Während der begleitende Text der Handschrift, Akbar Nama, sämtliche Aktivitäten der Jagd in chronologischer Reihenfolge beschreibt, ist die Miniatur darum bemüht, die verschiedenen Handlungen auf einer einzigen Bildoberfläche zu verorten: Wir sehen den Anfang der Jagd, als der Mogulherrscher energievoll quer über die Bildoberfläche galoppiert, im Augenblick davor hatte er einen Pfeil geschossen, der den Rücken einer Antilope durchstößt. Danach setzt er seine Jagd auf die folgende Bildseite fort.
Abb. 2
Gleichzeitig treiben hunderte von Fackelträgern weiteres Wild in das von einem improvisierten Holzzaun umgebene Jagdgehege, das qamargah. Im mittleren Bildraum rechts wird das bereits gefangene Wild enthäutet. Auch das bunte königliche Zelt ist aus seinem gewöhnlichen, vom Jagdgehege entfernten Standort in die Mitte des dicht bevölkerten Bildraums verlagert worden. Nehmen wir die Einzelheiten des von den Künstlern verwendeten visuellen Vokabulars genauer unter die Lupe, so lassen sich etliche synoptische Zeichen und Formen herausarbeiten – vor allem Körperhaltung und Gestik –, die allesamt die intensive Dramatik sowie pulsierende Energie einer Jagd vermitteln. Erlaubt uns diese Szene, uns der kulturellen Deutung der Jagd sowie der Beziehung zwischen Mensch und Natur anzunähern und dann zu fragen, warum ein bestimmter Modus ausgewählt wurde, um diese Handlung zu visualisieren?
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Auf das Naturverständnis in der nordindischen Hofkultur kann an dieser Stelle nur kurz eingegangen werden. [14] In der Wahrnehmung der Mogul-Elite bestand die Natur aus unzähligen verborgenen Gefahren und feindseligen Kräften, die gezähmt werden müssten. Dies bildete eine der wichtigsten Pflichten einer idealen Herrschaft. Nicht nur sollten die Gefahren der Natur domestiziert werden, sondern ihre verborgene Schönheit sollte auch durch die menschliche Ordnung hervorgehoben werden, wie etwa durch kunstvoll, nach geometrischen Mustern angelegten Gartenanlagen und Springbrunnen. Die Jagd fungiert also als Träger dieser besonderen Symbolik einer aufgeklärten Herrschaft. Tiere erscheinen in dieser Symbolik oft innerhalb von Herrscherbildern. Die Tiere, die in Hofszenen in einer, die zentrale Bildachse entlang komponierten Nische, ihren Platz genommen haben, sind als Zeichen ihrer Zähmung nun mit menschlichen Gesichtsausdrücken ausgestattet worden. [15]
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Welche Darstellungsweise privilegierten die Hofmaler, um den Kampf einer aufgeklärten Herrschaft gegen die bedrohlichen Kräfte der Natur zu visualisieren? Dass die Hofkünstler des 16. und 17. Jahrhunderts mit den Prinzipien der Zentralperspektive vertraut waren, ist durch die Forschung belegt worden. [16] Eine durch die Zentralperspektive organisierte Bildstruktur ermöglicht es dem Betrachter, das Bild auf einen Blick als integrale Einheit zu assimilieren. Mit anderen Worten: Die Mittel des Illusionismus hatten zum Ziel, ein Abbild der Natur zu liefern, das der Betrachter als ein in einem einzigen Augenblick konzentriertes Ersatzbild in der Erinnerung fest halten würde.
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Die Maler am Mogulhof versuchen dagegen, diese Auffassungen von Zeit und Raum, welcher sie in den zahlreichen europäischen Bildern begegneten – sie wurden häufig beauftragt, Kopien von europäischen Bildern anzufertigen – [17] nach einer abweichenden Logik neu zu kartieren. Sie wählten eine Repräsentationsweise, in der der Betrachter schrittweise die gemalte Welt entdeckte. Verschiedene Sequenzen und chronologische Augenblicke eines Ereignisses sind in ihrer Prozesshaftigkeit auf der Bildoberfläche verortet. Auch der Raum wird durch Bewegung definiert, statt durch die geometrischen Regeln der Zentralperspektive. Es sind die Positionierung von Menschen und Tieren, ihre Körperhaltung und nicht ihre Größenordnung, die den Raum bestimmen. Kurz: Eine von der ’naturgegebenen’ Weltordnung abweichende Logik scheint dieser Repräsentation als Organisationsprinzip zu dienen. [18]
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Betrachten wir noch ein weiteres Detail auf der Akbar Nama Miniatur (Abb. 2): die Szene auf dem oberen rechten Bildrand. Sie zeigt die Bestrafung eines gewissen Hamid Bakari, der einen Hofangestellten beleidigt haben sollte. Dafür wird sein Kopf geschoren, anschließend wird er auf einem Esel in verkehrter Richtung sitzend durch die Öffentlichkeit geführt. Diese Einzelheit auf einer Jagdszene deutet auf das symbolische Gehalt der Jagd als ’Ort der Justiz’ hin. [19] Jenseits der ideologischen Deutung der Jagd möchte ich an dieser Stelle den Blick auf die künstlerische Prozedur lenken, wo eine kleine Szene als autonomer Raum in die Bildkomposition eingebaut wird. In diesem Bild trägt die kleine Bestrafungsszene dazu bei, die ideologische Absicht der Repräsentation zu untermauern. An anderen Stellen aber könnten autonome Einzelheiten eine Dissonanz einführen, erzeugt durch eine Insel innerhalb der Struktur eines Bildes, die unsere ’Reise’ über die Bildoberfläche unterbricht und destabilisierend wirkt.
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Schauen wir gleich zwei Beispiele dieser visuellen Strategie an. Sie stammen beide aus der vom Herrscher Shah Jahan beauftragten Handschrift Badshahnama (ca. 1657). Das erste schildert die Belagerung der Festung von Kandahar. [20] Kandahar hier weist nicht auf die uns bekanntere Stadt in Afghanistan hin, sondern auf den gleichnamigen Ort im zentralindischen Dekhanhochland. Im Mai 1631 fand hier eine wichtige Schlacht zwischen den Armeen der Mogulen und denen des Regionalfürsten statt. Die Handschrift Badshahnama beschreibt und bildet dieses historische Ereignis ab. Wir betrachten also eine dramatische Kriegsszene: Sie stellt den entscheidenden Augenblick dar, in dem die durch die Mogul-Armee um die Festung herum gelegten Minen explodieren. Alles – die Mauer der Festung, die Körper der Soldaten – fliegt in die Luft, wir sehen bedrohlich schwarze Rauchwolken, in Panik geratene Gruppen von Soldaten sowie die Figur des Kommandanten der Mogul-Armee. Während unser Auge diese von Krieg und Tod gekennzeichnete Felsenlandschaft schrittweise erkundet, begegnen wir auf einmal einer kleinen Insel der Ruhe, einem autonomen Raum, der durch die zerstörerischen, von der Dynamik des menschlichen Handelns erzeugten Ereignisse seiner Umgebung unberührt geblieben ist. Und zwar eine durch eine dichte Vegetation von Schilfrohr geschützte idyllische Ecke, in der ein Kaninchenpaar im Wasser sein Spiegelbild bewundert.
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Betrachten wir noch ein zweites Bild aus derselben Handschrift, der Badshahnama - diesmal eine Hofszene. [21] Thema dieser vom Maler Abid geschaffenen Szene ist die Vergangenheit, als der Auftraggeber des Bildes, der Herrscher Shah Jahan noch ein junger Prinz war. Das Bild zeigt seinen ehrenvollen Empfang am Hof seines Vaters Jahangir. Wir es haben hier mit einem imaginierten Ereignis zu tun, dessen visuelle Darstellung dazu dient, den Konflikt zwischen Vater und Sohn um die Thronfolge durch die Harmonie des Bildes zu vertuschen. Die Bildkomposition ist nach den Regeln der formellen Symmetrie aufgebaut. Die wichtigen Höflinge lassen sich identifizieren, sie sind alle im Profil abgebildet, einer ikonisierenden Form, die als Zeichen des Rangunterschieds fungierte. Das Bildzentrum bildet die zentrale Achse: Direkt unter dem Thronsitz befindet sich eine Nische, in der ein Sufi eine Weltkugel hoch hält, während ein Engelspaar zum Bildzentrum hin fliegt, um die dem Herrscher vom Gott verliehene Legitimität auszudrücken. Alles ist genau programmiert, um den sozialen Beziehungen und Verhandlungen Stabilität zu verleihen. Doch wenn unser Auge vom Bildzentrum auswärts zu den Bildrändern hin wandert, bleibt es plötzlich stehen: Der Blick des Betrachters wird arretiert vor dem Gesicht eines zweiten Sufis, diesmal eines grinsenden Sufis. Das Verhalten dieses Sufis scheint die erhabene Stimmung des Bildes in Frage zu stellen. So führt ein kleines Detail eine gewisse Ambivalenz in die Bildstruktur ein, das eine Kluft zwischen all den formellen, pompösen Äußerlichkeiten der Macht und dem, was dahinter stecken könnte, aufzeigt. Dass die Tätigkeit des Malens auch als Raum für den Künstler fungieren konnte, um eine Kluft zwischen der normativ geregelten Ordnung der Hofkultur und ihrer Hinterfragung aufzumachen, bringt mich zur letzten Frage dieses Beitrags: nach der Autorschaft und des Handlungsraumes der Künstler in einem streng reglementierten System der Auftragskunst.
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Um diese Dimension zu problematisieren, betrachten wir das folgende Bild aus der Handschrift Khamsa des persischen Dichters Nizami.
Abb.3
Lange haben wir an die Vorstellung geglaubt, der Künstler in vormodernen, nichteuropäischen Gesellschaften sei ein einfacher Handwerker gewesen, ein Mensch, dem aufgrund seiner untergeordneten soziale Stellung auch die Macht der Repräsentation vorenthalten blieb. Doch lenkt dieses Bild den Blick jenseits der überlieferten Dichotomie zwischen dem autonomen als Ideal des kreativen Individuums stilisierten Künstler der westlichen Moderne und dem nichteuropäischen Hofmaler als unbekanntem Handwerker. Anhand dieser Selbstinszenierung der künstlerischen Arbeit lässt sich eine differenziertere Struktur der künstlerischen Produktion herausarbeiten. Die Miniatur porträtiert die gemeinsame Arbeit des Malers und des Kalligrafen an der Produktion einer Handschrift. Sie macht die Beweise des künstlerischen Talents (pratibha) von beiden auf der Bildoberfläche sichtbar. Etliche Gegenstände – verschiedene Arbeitsgeräte, eine gebundene Handschrift, die das Ergebnis des Schaffungsprozesses darstellt – haben über den Bildraum einen würdigen Platz gefunden. Die beiden abgebildeten Personen widmen sich vollständig ihrer Arbeit, ihre individuellen äußerlichen Eigenschaften – Kleidung, Physionomie, Turbanstile – sind sorgfältig hervorgehoben. Der architektonische Rahmen gibt die Sprache der imperialen Baukunst wieder: die zierlichen Säulen, die mit Weinkaraffen und Behältern bemalten Wandnischen, ein Zeichen des Paradieses – alle diese Details übertragen auf die beiden in ihrer Arbeit versunkenen Künstler die Aura des Prestiges, welches die im Bild inszenierte Architektur verkörpert. Dieses Bild – wie unzählige von Hofmalern geschaffene Werke – trägt den Namen der an der Arbeit beteiligten Künstler. Auf den Bildrändern einer Miniatur sind häufig mehrere Namen zu lesen, was zugleich die Arbeitsteilung und Hierarchien zwischen dem Ustad, dem Meister, und den ihm untergeordneten Künstler in der Werkstatt sichtbar macht. Jenseits des Gegensatzes zwischen individueller Autorschaft und Anonymität könnte man also ein Modell kollektiver Autorschaft erwägen, die von gewissen hierarchischen Verhältnissen gekennzeichnet war und genauer erforscht werden müsste.
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Außerhalb des Bildrahmens dieser Miniatur befindet sich eine Inschrift, die besagt, dass die Handschrift – Khamsa des Dichters Nizami – vom Mogulkaiser Jahangir beauftragt wurde. Im Mittelpunkt steht also die Handlungsmacht des Auftraggebers, der diese Handschrift ins Leben gerufen hat. Doch der Akt ihrer Produktion ist ebenso sichtbar gemacht worden, und zwar auf eine Weise, die Würde und Berufsstolz ausstrahlt, so dass man von einer überlappenden oder mehrschichtigen Handlungsmacht sprechen könnte.
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In der Tat bieten solche Momente der Selbstinszenierung dem Künstler einen Handlungsraum, um die vorgegebene Ordnung der Auftragskunst zu unterminieren. Das nächste Bild ist ein wichtiges Herrscherporträt des Mogulkaisers Jahangir. [22] Das Porträt stellt den Herrscher in Überlebensgröße dar. Von einer beeindruckend großen Aureole umrandet, in der Sonne und Mondsichel vereinigt sind, sitzt er auf einer Sanduhr, die ihm zum Thron dient. [23] Weiter sind vier christliche Kinderengel zu erkennen: Zwei schreiben auf der Sanduhr eine Botschaft vom ewigen Leben des Herrschers, zwei andere haben der Szene den Rücken gekehrt. Sie scheinen aus dem Bildraum heraus zu fliegen. Einer hat das Gesicht gerade versteckt, der zweite trägt einen Bogen, dessen Pfeil gebrochen ist. Vor Jahangir stehen, in unterschiedlicher, symbolischer Größe porträtiert, vier Personen: ein Sufi Shaikh, der osmanische Sultan, der englische König James I. und der Maler der Miniatur Bichitr, der wiederum eine Miniatur zeigt, auf der zwei Pferde und ein Elefant abgebildet sind. Jahangir reicht dem Heiligen ein Buch dar, die drei erdverbundenen Figuren betrachtet er nicht. Die letzte und kleinste der vier am Bildrand stehenden Personen ist Bichitr, der Maler dieses Werkes, ein Hindu, also derjenige, der unter den Anwesenden auf der niedrigsten Stufe der sozialen und religiösen Hierarchie steht. Er stellt ein Ergebnis seiner schöpferischen Tätigkeit zur Schau. Er findet seinen Platz in der Reihe der Herrscher als symbolischer Herr der Künste. Der Künstler hat das Bild mit seiner Signatur versehen. Sein Namenzug ist auf der kreisförmigen Platte zu lesen, die von einer knienden Figur mit zwei Köpfen und langem Bart getragen wird. Ihre Position zwischen dem Boden und der kleinen Schwelle zum Thronsitz suggeriert eine Funktion als Trittstufe, um den Thronsitz zu erreichen. Auf diese Stufe hat der Maler Bichitr seinen Namen geschrieben, damit dieser für die Ewigkeit seinem Auftraggeber zu Füßen liegen möge.
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Die intendierte Wirkung des Porträts von Jahangir war es, den projizierten Traum des Herrschers darzustellen, die Weltmacht zu besitzen. Die Miniatur rückt seine Ansprüche sowie seinen Ehrgeiz ins Bild, durch die Arroganz, mit der er die unten am Bildrand stehenden Weltherrscher mit Missachtung straft. Er zeigt zwar seine Präferenz für einen Sufi, verweigert ihm aber den Blickkontakt. Jedoch fungieren verschiedene auf der Bildoberfläche verstreute Einzelheiten als Quellen der Dissonanz: Sie deuten auf ein Spannungsverhältnis zwischen dem Sagbaren und dem Sichtbaren hin: zum Beispiel die künstlerische Entscheidung, eine Sanduhr in einen Thron umzuwandeln, auf die unerbittliche Logik der Vergänglichkeit. Während die beiden Engel ihren Wunsch des ewigen Lebens des Herrschers hinaufbringen, ist der Sand fast ausgelaufen. So wird eine erste Zweideutigkeit in der Botschaft der Darstellung erzeugt. Auch die ungewöhnliche Haltung der beiden Putten, der Kinderengel, auf dem oberen Bildrand verstärkt die Dissonanz, denn sie bewegen sich nicht, wie gewöhnlich, zum Bildzentrum hin, sondern scheinen, den Bildraum verlassen zu wollen. [24]
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Am untersten Bildrand hat der Maler sich selbst einen Platz zugewiesen. Hier haben wir ein ungewöhnliches Beispiel in der von Auftraggebern noch sehr stark reglementierten Kunstproduktion: ein Selbstporträt, das der Maler innerhalb des gemalten Herrscherbildes platziert. Was bedeutet die Präsenz des Künstlers am Rande des von ihm geschaffenen Werkes? Das Bild im Bild weist auf seine Kunst als eine durch seinen Auftraggeber geförderte Erwerbstätigkeit hin, denn der Lohn jedes Hofangestellten wurde zunächst in der Form von Pferden gerechnet, Elefanten galten als Ehrengeschenk oder Symbol der Auszeichnung. Das Gesehene ruht also auf einem weltlichen Geschäft zwischen Maler und Auftraggeber, um den gemalten Ruhm zu erreichen. Eine zentrale Voraussetzung, um das Herrscherbild als sakrale Vision, als darshan zu erfahren, ist die Unsichtbarkeit des Künstlers, das Auslöschen jedes Zeichens seiner bildlichen Tätigkeit. Indem der Maler seiner Präsenz eine Sichtbarkeit verleiht, wandelt er die Vision in eine Repräsentation um. Der Betrachter wird an dem Akt beteiligt, der die Vision ins Leben ruft.
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Ein drittes und recht ungewöhnliches Beispiel sollte noch kurz betrachtet werden. Hier nimmt der Künstler seinen Platz im Zentrum des Bildes ein. Es handelt sich um ein Bild des Malers Farrukh Beg, der im Alter von 70 Jahren diese Miniatur schuf. [25] Die Darstellung könnte als überlappendes Bildnis bezeichnet werden. Denn es ist das Porträt eines Sufis – und zugleich des Malers selbst. Dies wird durch die Inschrift am Bildrand, aber auch durch etliche visuelle Zeichen angedeutet. Der Ausgangspunkt dieser Darstellung bildet die Auseinadersetzung mit verschieden aus Europa stammenden Bildquellen, Radierungen von Kunstwerken, die den Mogulhof erreichten: die Dürerschen Bilder, der Heilige Hieronymous im Gehäus sowie Melancholia, dazu eine Radierung von Raphael Saedeler mit dem Titel Dolor. [26]
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Die Darstellung des Sufis bildete die Fortsetzung einer zeitgenössischen Konvention, heilige Männer zu porträtieren. So ließ sich der heilige Hieronymus in einen Sufi umwandeln. Zugleich baut der Künstler eine Zweideutigkeit ins Bild ein, indem er auf eine Verschmelzung zwischen dem Bild des Sufis und seinem Selbst hindeutet. Dies tut er über bewusste Hinweise auf seine Kunst und seine Biographie, die er ins Bild hinein platziert: das Miniaturalbum mit dem rot lackierten und gold gerahmten Umschlag, die Brille – die zu den wichtigen Werkzeugen von Künstlern und Kaligrafen gehörte. Das Motiv der Katze, die die Milch aufleckt, ist zwar aus der Radierung von Sadeler übernommen worden, in einen neuen Zusammenhang verortet gewinnt aber das Motiv eine Polysemie, die wiederum auf die Malkunst hindeutet. Katzenhaare waren für Mogulkünstler kostbares Material, denn sie dienten zur Herstellung der allerfeinsten Pinseln. Die Steinmauer weist auf den im Koran beschriebenen und den Gläubigen versprochenen Paradiesgarten hin, der durch eine Mauer umgeben ist; ebenso die Weinkaraffen, die als bekanntes Zeichen aus dem zeitgenössischen symbolischen Repertoire erkennbar waren.
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Jenseits der Übernahme einzelner Motive setzt sich Farrukh Beg auch im künstlerischen Dialog mit Dürer. Dürer hat einzig mit dem Mittel der graphischen Linie die unterschiedliche Beschaffenheit von Holz, Mauerwerk, Tierfell oder Pflanzen deutlich herausgearbeitet. Eine eigene Interpretation mit Pinsel und Farbe unternimmt Farrukh Beg in seiner Darstellung von Gegenständen: Steinen, Flechtwerk des Korbsessel, der Maserung der Holzpanele, den einzelnen Härchen des Tierfells. Die Faltenbildung der Kleidung des Sufi-Malers verbindet das Porträt mit Dürers Melancholia. Der bewusste Dialog und das Aushandeln mit einer fremden Handschrift schafft eine Verbindungszone zwischen Deutungsschichten, so dass dieses überlappende Porträt eine Mehrschichtigkeit gewinnt. Malen, in der indisch-persischen literarischen Tradition als mystische Erfahrung stilisiert, wird nun auch als schöpferische Tätigkeit, die Einsamkeit mit sich bringt, gedeutet.
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Während Dürer sein Raumbild nach der Methode Albertis perspektivisch konstruiert hat, lehnt Farrukh Beg in seiner Repräsentation dieses Prinzip deutlich ab. Die Abgrenzung zwischen Außen- und Binnenraum, die ein zentrales organisatorisches Motiv der Hieronymusdarstellungen in ihren etlichen Varianten bildet, wird hier flüchtig suggeriert, aber dann entscheidend verworfen, indem sich ein riesiger, von bunten Vögeln bevölkerter Baum von außen nach innen hin schräg über die Bildoberfläche ausweitet. Er drängt sich in die Einsamkeit des Sufi-Künstlers hinein und zwingt der Darstellung eine eigene räumliche Logik auf. Der Baum scheint vor allem die reine künstlerische Fantasie zu verkörpern: Der Verzicht auf botanische Exaktheit und naturalistische Farbgebung sind beeindruckend. Der Versuch, die Handlungsmacht des Malers im Repräsentationsprozess sichtbar zu machen, drückt sich vor allem durch die Absicht aus, den Betrachterblick zu destabilisieren. Die Macht des Kunstwerks selbst, seine Rezeptionsbedingungen festzulegen, rückt in den Mittelpunkt der Beziehung zwischen Kunstwerk und Betrachter.
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Um die historische Prozesshaftigkeit, in die die visuelle Produktion einer Gesellschaft verwickelt ist, in den wissenschaftlichen Diskurs einzubeziehen, müssen wir die Bilder auf ihre bewegte Geschichte über Zeiten und Räumen hinweg begleiten und die textliche Kodierung des visuellen immer wieder dekonstruieren und neu reflektieren. Die gerade begonnene Geschichte könnte in mehrere Richtungen fortgesetzt werden, wenn diese und andere Bilder stets neue ’Identitäten’ erhalten – von magischen Objekten, Herrschaftsinsignien oder sakralen Gegenständen werden sie zum ’Götzenbild’, zum exotischen Ausstellungsobjekt, zum Bestandteil eines nationalen Kulturerbes, zum umstrittenen Besitztum zwischen postkolonialer Nation und ehemaliger Kolonialmacht, zur hochwertigen Ware internationaler Auktionshäuser. Dieser Beitrag sollte einen Impuls liefern, um mit der Herausforderung dieser Polyvalenz umzugehen.
Prof. Dr. Monica Juneja
Universität Delhi, Indien / Visiting Professor, Emory University, Atlanta, USA
e-mail:
mojuneja@hotmail.com
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[1] Der Begriff der Übersetzung erhält seine theoretische Prägung vor allem in der vergleichenden Literaturwissenschaft und der Ethnologie; vgl. Doris Bachmann-Medick (Hg.): Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen, Berlin 1997; Martin Fuchs / Eberhard Berg (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a. M. 1993; Gísli Pálsson (Hg.): Beyond Boundaries. Understanding, Translation and Anthropological Discourse, Oxford / Providence 1993.
[2] Die Problematik der Begriffe in der transkulturellen Geschichtsschreibung ist in den letzten Jahren von mir und Margrit Pernau in zentraler Weise thematisiert worden. Sie war Gegenstand eines von uns konzipierten Panels 'Mit welchen Begriffen schreibt man transnationale Geschichte', am Ersten Kongress für Welt- und Globalgeschichte, Leipzig September 2005; vgl. dazu Monica Juneja: Missions, encounters and transnational history – reflections on the use of concepts across cultures, in: Andreas Gross / Y. Vincent Kumaradoss / Heike Liebau (Hg.): Halle and the Beginnings of Protestant Christianity in India, 3 Bde., Halle a. d. Saale 2006, 1025-1046; Margrit Pernau: Transkulturelle Geschichte und das Problem der universalen Begriffe. Muslimische Bürger im Delhi des 19. Jahrhunderts, in: Birgit Schäbler (Hg.): Area Studies und die Welt. Weltregionen und neue Globalgeschichte, Wien 2007, 117-149.
[3] Diese Dimensionen, die auch für die Geschichtsschreibung über die indische Baukunst konstitutiv gewirkt haben, sind Gegenstand eines umfangreichen Readers; vgl. Monica Juneja: Architecture in Medieval India – Forms, Contexts, Histories (South Asian History: Readings and Interpretations ), New Delhi 2001.
[4] Vgl. Robert Skelton: The Indian Collections: 1798 to 1978, in: The Burlington Magazine, 120 (902, 1978), 296-305; William G. Archer / Mildred Archer: India Served and Observed, London 1994, 146ff.
[5] Dipesh Chakrabarty: Postcoloniality and the Artifice of History, in:: Ders.: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. New Delhi / Oxford 2001 (1. Ausgabe Princeton 2000), 27-46, hier 44-45.
[6] Etwa Robert Skelton: Imperial Symbolism in Mughal Painting, in: Priscilla P. Soucek (Hg.): Content and Context of Visual Arts in the Islamic World, University Park / London 1988, 177-191; Ebba Koch: The Influence of the Jesuit Mission on the Symbolic Representations of the Mughal Emperors, in: Christian W. Troll (Hg.): Islam in India. Studies and Commentaries, New Delhi 1982, 14-29; Ebba Koch: The Hierarchical Principles of Shahjahani Painting, in: Dies.: Mughal Art and Imperial Ideology. Collected Essays, New Delhi 2001, 130-162.
[7] Grundlegend dazu Percy Brown: Indian Painting under the Mughals A.D. 1150 to A.D. 1750, New York 1975 (1. Ausgabe Oxford 1924).
[8] Vgl. Richard H. Davis: Lives of Indian Images, Princeton 1997 (Nachdruck New Delhi 2000), 6-7.
[9] In der Chronik des Hofhistorikers Abu’l Fazl äußert sich der Mogul Kaiser Akbar: „Es gibt viele, welche die Malerei hassen, aber solche Männer mag ich nicht. Es scheint mir, dass ein Maler besondere Mittel hat, Gott zu erkennen; denn wenn ein Maler das zeichnet, was Leben besitzt, muss er an Gott denken, der das Leben schenkt, und so verbreitet er sein Wissen.“; Abu’l Fazl Allami: Ain-i Akbari (engl. Übers. H. Blochmann), 3 Bde, New Delhi 1977, hier: Bd. I, 115. (Übers. ins Deutsche von der Verfasserin).
[10] Vgl. ebd., 113.
[11] Vgl. Ronald B. Inden: Ritual, Authority and Cyclic Time in Hindu Kingship, in: John F. Richards (Hg.): Kingship and Authority in South Asia, New Delhi / Oxford 1998, 41-91, hier: 74-75.
[12] Z. B. Porträt von Shah Jahan, gemalt von Govardhan, ca. 1635, Harvard University Art Museum, Cambridge Mass., Farbabbildung in: Michael Brand (Hg.): The Vision of Kings, Ausstellungskatalog, The National Gallery of Australia, London / New York 1995, 104.
[13] François Bernier: Travels in the Mogul Empire A.D. 1656-1668 (engl. Übers. Archibald Constable), 2. Aufl., New Delhi 1992, 255.
[14] Ausführlicher in Monica Juneja: On the margins of Utopia – One more look at Mughal Painting, in: The Medieval History Journal 4 (2, 2001), 203-240, hier: 216ff.
[15] Siehe zum Beispiel die durch den Mogulkünstler Payag gemalte Hofszene der Handschrift Badshah Nama, abgebildet im Ausstellungskatalog Milo C. Beach / Ebba Koch / Wheeler J. Thackston (Hg.): King of the World – The Padshahnama: An imperial Mughal Manuscript from the Royal Library, London / Washington DC 1997, Abb. 39 sowie Fig. 31 (Detail).
[16] Die apostolischen Bemühungen der Jesuiten am Mogulhof öffneten den Weg für eine Flut von europäischem Bildmaterial. Auch diplomatische Abordnungen sowie der wachsende Handel zwischen Asien und Europa brachten etliche Kunstgegenstände mit, die den Mogulkünstlern nicht nur Themen und Motive aus der europäischen Kunst, sondern auch eine neue Bildsprache und neue Techniken zugänglich machten. Vgl. Koch: Influence, sowie Koch: Principles (wie Anm. 6); Michael Brand / Glenn D. Lowry: Akbar’s India. Art from the Mughal City of Victory, New York 1985, 97-99; Monica Juneja: Jahangir auf der Sanduhr. Überlegungen zur Lektüre einer Visualität im Spannungsfeld zwischen Eigenem und Fremden, in: Gerhard Schneider (Hg.): Die visuelle Dimensionen des Historischen. Hans-Jürgen Pandel zum 60. Geburtstag, Schwalbach i. Ts 2002, 142-157.
[17] Vgl. Abu’l Fazl Allami: Akbarnama (engl. Übers. Henry Beveridge), 3 Bde, Delhi 1973, hier: Bd. 3, 322.
[18] Ausführlicher dazu Juneja: On the margins (wie Anm. 13), 211ff.
[19] Vgl. Ebba Koch: The copies of the Qutb Minar, in: Dies.: Mughal Art (wie Anm. 6), 280.
[20] Abgebildet im Ausstellungskatalog Beach / Koch / Wheeler: King (wie Anm. 14), Abb. 18.
[21] Abgebildet in ebd., Abb. 37.
[22] Jahangir auf einem Sanduhr-Thron, gemalt von Bichtitr, ca. 1615-1618, Freer Gallery of Art, Washington DC, abgebildet in Amina Okada: Indian Miniatures of the Mughal Court, New York 1992, 37.
[23] Eine detaillierte Besprechung der Bildsymbolik habe ich an anderer Stelle vorgenommen, vgl. Juneja: Jahangir (wie Anm. 15).
[24] Ausführlicher dazu ebd.
[25] Porträt eines Sufis, Farrukh Beg, 1615, private Sammlung. Abgebildet in: John M. Rogers: Mughal Miniatures, London 1993, 69.
[26] Für eine ausführliche Analyse des Bildes vgl. Monica Juneja: Braided Histories? Visuelle Praktiken des indischen Moghulreichs zwischen Mimesis und Alterität, in: Historische Anthropologie, 16 (2008), 187-204.
Empfohlene Zitierweise:
Monica Juneja : Das Visuelle in Sprache übersetzen? Der wissenschaftliche Diskurs und die Polyvalenz indischer Bilder , in: zeitenblicke 7, Nr. 2, [01.10.2008], URL: https://www.zeitenblicke.de/2008/2/juneja/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-15408
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