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“Einer Mutter Sohn“ – diesen kryptischen Titel trug Clara Viebigs achter Roman. Als er im Frühling des Jahres 1906 herauskam, wurde er von Presse und Leserschaft begierig aufgenommen. Zahlreiche Besprechungen des Romans erschienen, mindestens achtzehnmal wurde er im Laufe des Jahres neu aufgelegt, und die Nutzerinnen und Nutzer von Leihbibliotheken konnten von Glück sagen, wenn sie das Buch ergattern konnten. [2]
Der Roman handelte von einem kinderlosen Ehepaar und einer unglücklich verlaufenden Adoption, von Sehnsüchten und Ängsten, die sich an Ehe und Elternschaft knüpften, von der tatsächlichen oder vermeintlichen Determiniertheit des Menschen durch Anlagen und Herkommen und von den enormen sozialen und kulturellen Unterschieden, die die Gesellschaft des Kaiserreichs prägten. Er rührte den Nerv der Zeit an. Wie andere naturalistische Erzählungen und Dramen der Jahrhundertwende übersetzte der Roman Fragen, die die Öffentlichkeit brennend interessierten und für deren Lösung Expertenmeinungen gefragt waren, in konkrete, wenn auch fiktive Ereignisse und Lebensgeschichten. Die weite Verbreitung des Romans führte dazu, dass die dargestellten Probleme in der öffentlichen Wahrnehmung eine größere Plastizität erhielten. Wer sich in den folgenden Jahren mit dem Thema der Adoption beschäftigte, hatte unter Umständen das Schicksal der von Viebig erfundenen Familie Schlieben vor Augen. [3]

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Im Folgenden werde ich mit Hilfe des Romans wesentliche Elemente des Deutungshorizontes nachzeichnen, vor dem ungewollte Kinderlosigkeit in der Zeit um 1900 im Bürgertum erlebt wurde. Wie ich im folgenden Abschnitt zeigen werde, erlaubt der Rückgriff auf einen fiktionalen Text die Annäherung an ein zeitgenössisch weitestgehend tabuisiertes Thema. Daran anschließend werde ich der Frage nachgehen, welche Rolle naturalistische Romane als Medium für die gesellschaftliche Auseinandersetzung um Ehe, Geschlecht, Sexualität und Fortpflanzung um 1900 spielten. Im dritten Abschnitt wende ich mich dem Roman und seiner Rezeption zu. Wie sich zeigen wird, kann „Einer Mutter Sohn“ als Experimentalroman verstanden werden, der um das Verhältnis von Vererbung und Erziehung bzw. von Determiniertheit und Anpassung kreiste. Darüber hinaus entfaltete der Roman das Thema der ungewollten Kinderlosigkeit und der Adoption aber auch mit Blick auf andere Problemlagen des fin-de-siècle, die erst gemeinsam die zeitgenössische Gestalt von Kinderlosigkeit ausmachten. Ihnen gehe ich in den folgenden Abschnitten nach. Wie sich zeigen wird, entwarf Viebig das Leiden an Kinderlosigkeit als stark geschlechterdichotom, wobei sie weniger eine natürliche Geschlechterdifferenz als die gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse und hier besonders die Verwiesenheit der bürgerlichen Frau auf die Privatsphäre als Ursache darstellte. Hinsichtlich der Frage, welchen Stellenwert Kinder für bürgerliche Ehen hatten bzw. haben sollten, lässt Viebigs Darstellung eine zeitgenössische Ambivalenz erkennen, die historisch vergleichsweise neu war. Die Romanhandlung zeigt ferner, dass es angesichts der Intimisierung von Familienbeziehungen und unter den Bedingungen einer hochgradig mobilen Klassengesellschaft zu einer Problematisierung gängiger Adoptionspraktiken kam
Was ungewollte Kinderlosigkeit um 1900 bedeutete, lässt sich, so wird dieser Aufsatz zeigen, nicht mit einem Satz umreißen. Das Verhältnis des Bürgertums zu Fortpflanzung und Kinderlosigkeit, zu Elternschaft und Ehe war in sich allzu widersprüchlich. Gerade diese die moderne Gesellschaft kennzeichnenden Ambivalenzen gilt es zu rekonstruieren.

Konturen eines Tabus: ungewollte Kinderlosigkeit als Anathema [4]

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Interessiert man sich dafür, in welcher Form ungewollte Kinderlosigkeit in der Vergangenheit erlebt, mit Hilfe welcher Deutungsmuster und Verhaltensstrategien sie bewältigt wurde, so stellt man rasch fest, dass sich die Frage für die Vormoderne ungleich einfacher als für die Moderne beantworten lässt. Während Unfruchtbarkeit im 18. Jahrhundert die Autoren der frühen Lexika beschäftigte, während sie in den biographischen Erzählungen von Leichenpredigten, in Gebetbüchern und in Märchen selbstverständlich angesprochen wurde, ist sie in den Diskursen der bürgerlichen Öffentlichkeit des 19. Jahrhundert kaum greifbar. [5] Fassbar wird sie vor allem in den medizinischen Fachtexten der zweiten Jahrhunderthälfte und in den biopolitischen Debatten des fin-de-siècle. In autobiographischen Aufzeichnungen und in anderen Erfahrungsberichten wurde und wird Unfruchtbarkeit hingegen üblicherweise beschwiegen. [6]

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Angesichts dieser Leerstelle ist es naheliegend, nach literarischen Darstellungen von ungewollter Kinderlosigkeit zu suchen und diese als historische Quelle nutzbar zu machen. Auch hier stellt sich allerdings schnell heraus, dass sich nur wenige literarische Texte explizit mit der Thematik der Unfruchtbarkeit beschäftigen. [7] Zwar gibt es durchaus kinderlose Figuren, doch wird die Wahrnehmung der Kinderlosigkeit seitens der Betroffenen gewöhnlich nicht näher behandelt. Dies gilt auch für die Literatur des fin-de-siècle, in der unfruchtbare Frauen- und Männerfiguren häufiger auftauchen. Unfruchtbarkeit und Impotenz gelten hier als Zeichen der Dekadenz – verkörpert durch die femme fatale – und der Degeneration – verkörpert durch die femme fragile. Unfruchtbarkeit wird den Personen dabei als Eigenschaft zugeschrieben, um diese zu kennzeichnen, sie bildet nicht selbst einen der Erzählung würdigen biographischen Gegenstand. [8] Der Roman “Einer Mutter Sohn“ ist hier eine markante, noch näher zu betrachtende Ausnahme.
Zunächst möchte ich aber kurz auf die von mir konstatierte Leerstelle eingehen. Naturgemäß lässt sich eine solche Leerstelle nur schwer nachweisen und noch schwerer begründen. Der mediale Wandel des 19. Jahrhunderts – das Versiegen der Leichenpredigten, die explosionsartige Vermehrung von autobiographischen Texten, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasante Anwachsen der Roman- und Ratgeberliteratur – verhindert einen “sauberen“ Langzeitvergleich für einzelne Textgattungen. Gebetbücher des 18. Jahrhunderts, die lange Gebete für Unfruchtbare enthalten konnten, wurden auch im 19. Jahrhundert nachgedruckt, Märchen, in denen von unfruchtbaren Paaren und ihrer Sehnsucht nach Kindern die Rede war, erfuhren gerade im 19. Jahrhundert eine weite publizistische Verbreitung. Und dennoch: In den klassischen Medien der bürgerlichen Gesellschaft, in denen diese ihrem Hang zur Selbstbespiegelung und Selbstentblößung nachging, ist von Unfruchtbarkeit gewöhnlich nicht die Rede. Als Faktum wird sie in Memoiren, Autobiographien und Romanen zwar erwähnt, die mit ihr verbundenen Gefühlslagen, Sehnsüchte, Strategien bleiben aber unausgesprochen. [9] Warum?

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In seiner “Soziologie der Abtreibung“ ist Luc Boltanski unlängst dem Phänomen der Tabuisierung von Abtreibung nachgegangen. [10] Er geht von der These aus, dass das Wissen über Abtreibung nicht im Bereich des Offiziellen, sondern in dem des Offiziösen oder Privaten verhandelt wird und damit auf einer Ebene des gesellschaftlichen Austauschs, die sich in historischen Quellen so gut wie gar nicht niederschlägt. Diese Verdrängung der Abtreibung ist laut Boltanski aus Sicht der Akteure sinnvoll:
“Das, vor dem man besser die Augen verschließt, ist zunächst das, was man mißbilligt oder zumindest was man nicht für ein Gut hält, ohne jedoch in der Lage zu sein, es zu ändern, oder, um genauer zu sein, das von dem man vorausahnt, daß die Bemühungen, es zu ändern, eher alles schlechter als besser machen würden. Die Diskrepanz zwischen dem Offiziellen und dem Offiziösen, zwischen dem, was gut ist, wenn man es sagt, und dem, das man besser verschweigt, wäre also weniger auf einen Unterschied in der Information (...), im Wissen oder Gewissen zurückzuführen als vielmehr auf eine Idealisierung gewisser Formen des Guten und auf eine implizite Hierarchisierung verschiedener Arten von Übeln, was dazu führt, daß man sich für eine Logik des kleineren Übels entscheidet. Das gilt insbesondere für alle Situationen, hinter denen ein Gegensatz steckt, dessen Erklärung dahin führen würde, daß man entweder eine soziale Ordnung, an der man aus irgendeinem Grund (...) trotz ihrer als unvermeidlich betrachteten Fehler hängt, neu überdenken müßte, mit der Absicht, sie mehr oder weniger radikal zu verändern (was zumeist unmöglich erscheint oder schlimmer als das Übel, das man heilen will), oder daß man seiner eigenen Ohnmacht und der Ambivalenz seiner eigenen Wünsche ins Auge blickt.“ [11]
Boltanski geht also davon aus, dass das Verschleiern und Verschweigen seinen Sinn hat, dass es eine Art Schutzmechanismus der Akteure darstellt, die gewissen Widersprüchlichkeiten in der eigenen Haltung, gewissen Hierarchisierungen von Werten und der eigenen Machtlosigkeit nicht ins Auge sehen wollen. Auch die Tabuisierung der Unfruchtbarkeit lässt sich, so meine These, als ein ‘Wegsehen‘ beschreiben, das den Sinn hatte, Widersprüchen und Ambivalenzen aus dem Weg zu gehen.

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In der Vormoderne bestand ein alle sozialen Schichten umfassender gesellschaftlicher Konsens darüber, dass die Unfruchtbarkeit eines verheirateten Paares ein stigmatisierendes Schicksal mit hoher persönlicher, familialer, sozialer und religiöser Relevanz darstellte. Wer heiraten durfte – ein Privileg, das bekanntlich nicht jedem zugestanden werden konnte – und dann kinderlos blieb, brachte Unruhe in die soziale Welt und wurde seiner Verantwortung für die Familie, den Haushalt und die religiöse Gemeinschaft nicht gerecht.
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts veränderten sich die Ansprüche an das Familienleben jedoch grundlegend. Dabei kam es zu einer Intimisierung von familialen Beziehungen sowohl zwischen den Eheleuten wie zwischen Eltern und Kindern. [12] Den Eheidealen des 19. Jahrhunderts entsprechend sollte sich die Qualität einer Ehe nicht mehr nur am erfolgreichen gemeinsamen Wirtschaften, der Fortpflanzung und dem friedlichen Zusammenleben, sondern an der emotionalen Zuneigung der Ehepartner und ihrer wechselseitigen Ergänzung bemessen. [13] Auch die Haltung gegenüber Kindern veränderte sich – wie Viviana Zelitzer gezeigt hat – besonders gegen Ende des 19. Jahrhunderts grundlegend: Sie verloren ihren ökonomischen Wert und wurden gleichzeitig zum kostbaren Gut. [14] In dem Maße, in dem leibliche Kinder als Individuen und als wichtige Bezugspersonen entworfen wurden, konnten sie jedoch immer schlechter durch Pflegekinder ersetzt werden. Die Glorifizierung von Mutterschaft und Mütterlichkeit erreichte gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen Höhepunkt, ebenso wie die Koppelung von Männlichkeit an beruflichen Erfolg und Wehrhaftigkeit. Damit klaffte die Bedeutung von Kindern für die Ehegatten viel weiter auseinander als in der Vormoderne. Gleichzeitig wuchs die emotionale Beanspruchung der Mütter, so dass die Mutter-Kind-Beziehung nicht nur in Konkurrenz zur ehelichen Beziehung treten konnte, sondern auch als Hindernis für andere Formen der Entfaltung der weiblichen Persönlichkeit wahrgenommen werden konnte. Angesichts der enormen ökonomischen und emotionalen Kosten, die die “neuen“ Kinder des ausgehenden 19. Jahrhunderts verursachten, wurde es denkbar, die kinderlose Ehe als eine erstrebenswerte Lebensform zu betrachten. [15]
Kurzum: Das Beschweigen von ungewollter Kinderlosigkeit lässt sich als ein Schutzmechanismus deuten, als ein Versuch, heikel gewordene Fragen nach dem Sinn von Ehe und Fortpflanzung, nach der Bedeutung von Mutterschaft und Vaterschaft und nach dem angemessenen Umgang mit Erfahrungen der Ohnmacht und des Scheiterns in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft zu vermeiden. Dass solche Fragen hingegen auftauchten, wenn Kinderlosigkeit zum Gegenstand gemacht wurde, lässt sich sehr gut anhand von Clara Viebigs “Einer Mutter Sohn“ zeigen. Zunächst ist aber zu klären, weshalb dieser Roman das Schweigen über Kinderlosigkeit durchbrach. Dazu wende ich mich dem naturalistischen Roman als Genre und speziell dem Experimentalroman zu.

Der naturalistische Roman als Medium

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In der Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts hatte das Lesen von Romanen eine vorher ungeahnte Verbreitung gefunden. Ökonomische und technische Faktoren – steigende Realeinkommen und die Verbreitung der Petroleumlampe – trugen dazu bei. [16] Neue Verbreitungsformen wie der Druck und Verkauf von Kolportageromanen und die Einführung des Feuilletonromans sowie der Vorabdruck von Romanen in Zeitungen und Zeitschriften führten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer starken Ausweitung der Romanlektüre. [17] Neben dem Buchhandel waren es vor allem die Leih- und Volksbibliotheken, die belletristische Literatur unter die Leute brachten. [18] Romane dienten dabei nicht nur der Unterhaltung oder Ablenkung, sondern auch der Einübung eines reflexiven Verhältnisses zu eigenen Sehnsüchten und Ängsten wie auch zu gesellschaftlichen Zwängen und Entwicklungen. Peter Gay spricht in diesem Zusammenhang von dem Anspruch, den Romanautoren und -autorinnen und bürgerliche Leserinnen und Leser teilten, dass nämlich die Romane psychologisch stimmige Personen und Handlungen entwerfen und auf diese Weise vertiefte Einsichten in die menschliche Natur erlauben sollten. [19] Winfried Fluk sieht im Roman ein “ideales Medium zur Artikulation der Ansprüche und Wünsche des Individuums“. “Es war das Massenmedium Roman, das dem individuellen Begehren kulturgeschichtlich gesehen als erstes eine beispiellose Freiheit einräumte, das der Phantasie neue Artikulationsmöglichkeiten erschloß, das dem Individuum ungeahnte Möglichkeiten gedanklicher und emotionaler Ich-Expansion, des imaginären Rollenspiels und des probeweisen Selbstentwurfs bot.“ [20]

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Folgt man diesen Überlegungen, dann kam der Romanlektüre eine wichtige Funktion im Prozess der Herausbildung der Moderne mit ihren Tendenzen der Individualisierung und Säkularisierung zu. In der Auseinandersetzung mit den Verhaltensweisen, den Zielen und Schicksalen der Romanfiguren entwickelten die Leserinnen und Leser klarere Vorstellungen von den jeweils eigenen Vorlieben und Abneigungen, von der persönlichen Entwicklung und der individuellen Lebensperspektive. Dabei war es dem naturalistischen Roman des späten 19. Jahrhunderts vorbehalten, sich dem Bereich der Sexualität und der Fortpflanzung vergleichsweise direkt anzunähern. Die Frage, inwieweit das Individuum durch seine Triebe und durch seine Veranlagung beherrscht werde, inwieweit also überhaupt von freien Willensentscheidungen gesprochen werden könne, wurde in verschiedenen Facetten erörtert. [21] Die von den Naturwissenschaften hervorgebrachten Erkenntnisse über die Mechanismen der Fortpflanzung und Vererbung wurden im Medium des Romans nicht einfach popularisiert – dafür gab es eigene Genre und eigene Experten. [22] Sie wurden auf ihre Konsequenz für das Individuum und die zwischenmenschlichen Beziehungen hin befragt. Die naturalistischen Romane und Dramen spielten am fiktiven Beispiel durch, was es für die Menschen bedeutete, Teil des Tierreichs und der Natur zu sein oder welche Konsequenzen es für das Individuum hatte, wenn es als durch Abstammung und Milieu geprägt betrachtet wurde. Moralische Fragen wurden aufgeworfen, Handlungsoptionen – etwa die Lösung einer Liebesbeziehung zu einer erblich belasteten Frau – wurden probeweise durchgespielt. [23] Die den naturalistischen Roman kennzeichnende Faszination für Fragen der Vererbung darf dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass es innerhalb der Naturwissenschaften kein konsistentes und konsensfähiges Vererbungswissen gab. Die eigentlichen Vorgänge der Vererbung waren um 1900 noch weitestgehend ungeklärt, Vorstellungen von der Vererbung erworbener Eigenschaften waren weiterhin virulent. [24] Die Romane übersetzten nicht etwa ein naturwissenschaftliches Wissen in Literatur, sie waren selbst Teil der Produktion einer neuen Selbstverständlichkeit. So hat Werner Michler in seiner wegweisenden Studie die Dramen Ibsens als “das anschaulichste Kompendium von ’Vererbungsfällen’“ bezeichnet, auf das sich zeitgenössische Autoren ebenso bezogen wie auf die Romanfiguren Zolas. [25]

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Um 1910 gehörten auch die Charaktere des Romans “Einer Mutter Sohn“ zu jenen fiktionalen Gestalten, an denen man zeitgenössisch “wahre“ Vererbungsvorgänge und die mit ihnen einhergehenden moralischen Dilemmata studieren konnte. Als der bekannte Gynäkologe Hermann Fehling 1913 einen Vortrag über “Ehe und Vererbung“ veröffentlichte, bezog er sich zur Darstellung der Vererbungsvorgänge zunächst auf neuere wissenschaftliche Erkenntnisse und nannte entsprechend Mendel, Galton, Weismann, Virchow und andere als maßgebliche Autoritäten. [26] Im letzten Teil seines Vortrags wandte er sich jedoch der Frage zu, welche moralischen Forderungen sich aus diesem Wissen ergäben. Was folgte aus dem Vererbungswissen für die soziale Praxis, was sollte man tun? Hier waren Ibsen und Zola seine Bezugsgrößen, aber auch Clara Viebig und Ernst Zahn. Auch wenn Fehling die Viebigsche Deutung der Vererbungsvorgänge nicht gelten ließ, zeigt seine Wortwahl doch, dass er die geschilderte Geschichte als Fallbeispiel, als Repräsentation einer “Erfahrung“ betrachtete. So warnte er seine Zuhörerinnen und Leserinnen:
“Dass angeborene gemeine Charaktereigenschaften eines Kindes niederstehender Menschen auch durch frühzeitige Verpflanzung in bessere Verhältnisse, vorsichtig geleitete Erziehung, treffliches Beispiel der Eltern nicht dauernd unterdrückt werden könne, sucht Clara Viebig in dem Buche ‘Einer Mutter Sohn‘ nachzuweisen, doch möchte ich davor warnen, diese Erfahrung zu sehr zu verallgemeinern; zum Preise des Einflusses guter Erziehung ist wohl öfter das Gegenteil nachweisbar.“ [27] Fehling sprach Clara Viebigs “Fall“ damit zwar die Repräsentativität, nicht jedoch die Plausibilität ab.

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Romanfamilien und ihre Schicksale waren Teil des kulturellen Imaginären. An ihnen ließ sich lernen, was Vererbung bedeuten konnte. Die naturalistischen Romane und Dramen der Jahrhundertwende sind damit als historische Quellen interessant, weil sie, erstens, Rückschlüsse auf die von vielfältigen Bemühungen getragenen Prozesse zulassen, in denen das Denken in Kategorien der Vererbung veralltäglicht wurde. Zweitens erlauben die Romane Einblicke in die Lebenswirklichkeit der Jahrhundertwende. Damit die fiktiven Figuren möglichst realistisch wirkten, bemühten sich die Autoren, in den erzählten Details und Nebensächlichkeiten dem Alltag und den sozialen Verhältnissen möglichst nahe zu kommen. Drittens ist es gerade der fiktionale Charakter der Texte, der sie zu wichtigen Quellen für solche Aspekte des Lebens macht, über die autobiographische Aussagen nicht zu erwarten sind. Die im Roman geschilderten Abenteuer und Konflikte lassen Sehnsüchte und Ängste erkennen, die nur selten direkt artikuliert wurden. Nicht die individuellen Schicksale der Romanfiguren, wohl aber die im Roman sichtbar werdenden Problemlagen und Deutungsmuster, verweisen auf die gesellschaftliche Realität.

Abb. 1

Clara Viebigs “Einer Mutter Sohn“

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Als Clara Viebig 1906 ihren Roman “Einer Mutter Sohn“ im Verlag ihres Ehemanns Fritz Cohn veröffentlichte, war sie eine der bekanntesten deutschen Schriftstellerinnen. [28] In den vorangegangenen neun Jahren hatte sie 19 Romane, Novellen und Dramen veröffentlicht. Am 13. August 1905 zierte ihr Bild das Titelblatt der Berliner Illustrierten Zeitung. Ein bebilderter Artikel des gleichen Jahrgangs kennzeichnete sie als die “bekannteste und wohl auch hervorragendste“ zeitgenössische “moderne deutsche Erzählerin“. Nachdem bereits die vorangegangenen Romane hohe Auflagen erreicht hatten, wurde “Einer Mutter Sohn“ zum Bestseller. Während sich der Roman offenbar einer großen Popularität erfreute, war das Urteil der Kritik überwiegend negativ. [29]

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Der Roman erzählt die Geschichte einer unglücklich verlaufenden Adoption. Das dem Berliner Besitzbürgertum angehörende Ehepaar Käte und Paul Schlieben adoptiert nach Jahren der Kinderlosigkeit den Säugling einer armen Witwe aus dem Hohen Venn. Jean-Pierre, alias Wolfgang, entwickelt sich zunächst prächtig, bleibt seinen Eltern aber fremd. Im Verlauf seiner Kindheit und Jugend nehmen die Konflikte zwischen ihm und seiner Mutter, weniger seinem Vater, sukzessive zu. Erst bei seiner Konfirmation erfährt Wolfgang, dass er adoptiert wurde. Die Bemerkungen von Dienstboten und Mitschülern hatten ihm aber bereits zuvor deutlich gemacht, dass er eigentlich nicht in die vornehme Welt der Schliebens gehört. In den folgenden Jahren tritt er zwar in die Firma des Vaters ein, kann sich aber an das Leben als Kaufmann nicht gewöhnen. Er verlottert zusehends und stirbt schließlich, gerade erst 19-jährig, an den Folgen eines Herzfehlers.

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Die Romanhandlung setzt in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre ein und reicht etwa bis zum Erscheinungsjahr. Die expandierende Großstadt Berlin mit ihren neuen Villenvierteln im Grünen, ihren öffentlichen Verkehrsmitteln, Vergnügungsstätten, Flaniermeilen, Parks und Arbeiterquartieren bildet den Hintergrund des Geschehens. Auch trägt der Roman deutlich autobiographische Züge. Das ökonomisch im frühen 20. Jahrhundert sehr erfolgreiche Ehepaar Cohn-Viebig lebte äußerlich in ähnlichen Verhältnissen wie das im Roman dargestellte Ehepaar Schlieben. Wie dieses waren die Viebigs in eine Villa im Grünen gezogen, wo sie nun mit ihrem einzigen Sohn lebten. Georg Viebig war 1897 zur Welt gekommen, ein Jahr nach der Eheschließung von Clara und Fritz. Die Mutterschaft war damit für die 1860 geborene Clara Viebig ähnlich wie für die Romanfigur Käte eine späte biographische Erfahrung. Clara Viebig hat sich zu ihrem Roman “Einer Mutter Sohn“ in den später veröffentlichten autobiographischen Skizzen nicht geäußert, obwohl dieser, wie bereits erwähnt, besonders erfolgreich war. [30] Andere Romane hat sie hingegen als wichtige Schritte in der Entwicklung ihres Oeuvres bzw. als mit ihren Lebenserfahrungen unmittelbar verknüpft dargestellt. [31] Es scheint, als habe sich die Autorin von dem zeitgenössisch umstrittenen Roman später distanziert. Als sie ihn veröffentlichte, konnte von Distanzierung allerdings keine Rede sein, denn gewidmet ist er “Meinem Sohne zu der Zeit da er groß sein wird“. Zwanzig Jahre später griff Viebig die Thematik des Romans ein zweites Mal in der Novelle “Ein Kind“ auf. In dieser zweiten Adoptionsgeschichte lässt Viebig die “Erziehung“ über die “Natur“ siegen: hier erkennt ein adoptiertes Mädchen als Heranwachsende ausdrücklich die soziale, nicht die leibliche Mutter als “richtige“ Mutter an. [32]

Abb. 2

Die Macht der Vererbung: “Einer Mutter Sohn“ als Experimentalroman

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In der Wahrnehmung der zeitgenössischen Literaturkritik galt Clara Viebig als naturalistische Autorin. [33] Auch die Schriftstellerin selbst verortete sich in dieser Tradition. Innerhalb der Gruppenbildungsprozesse, die den Naturalismus als literarische Bewegung auszeichneten, spielten Autorinnen insgesamt nur eine randständige Rolle. Die schlechte Quellenlage macht es darüber hinaus schwer, Viebigs Vernetzungen im literarischen Feld nachzuzeichnen. Den Recherchen von Barbara Krauß-Theim zufolge stand Viebig zu einigen Mitgliedern des Friedrichhagener Kreises in Kontakt und beteiligte sich an den Lesungen der Neuen Freien Volksbühne, die auch mindestens eines von Viebigs Theaterstücken zur Aufführung brachte und Viebig 1905 zum Ehrenmitglied ernannte. [34] 1908 stellte Viebig in einem autobiographischen Text mit der Überschrift “Wie ich Schriftstellerin wurde“ die Lektüre von Zolas Roman Germinal als ein Schlüsselerlebnis ihrer Entwicklung als Autorin dar: “Dieser Germinal war mir eine Offenbarung. Ich las es heimlich, meine Umgebung hätte durchaus keinen Gefallen an dieser Lektüre gefunden. (...) ich würde von jetzt ab anders schreiben: ohne Phrasen, ohne Zierlichkeit, ohne Schönfärberei – ganz nackt meinetwegen sollten die Gestalten dastehen, nur ehrlich, ehrlich!“ [35]

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Es ist im Rahmen dieses Textes nicht möglich, ausführlicher auf die literaturwissenschaftliche Klassifizierung des Viebigschen Werks zwischen Naturalismus und Heimatkunst einzugehen. [36] Der hier interessierende Roman “Einer Mutter Sohn“ kann zweifellos als naturalistisch bezeichnet werden. Er entsprach darüber hinaus den Forderungen, die Wilhelm Bölsche in Anlehnung an Zola für den Experimentalroman erhob: "Wir müssen uns dem Naturforscher nähern, müssen unsere Ideen auf Grund seiner Resultate durchsehen und das Veraltete ausmerzen." Wie der Naturwissenschaftler, so könne und solle sich auch der Schriftsteller der Wirklichkeit in experimenteller Haltung annähern: "Der Dichter, der Menschen, deren Eigenschaften er sich möglichst genau ausmalt, durch die Macht der Umstände in alle möglichen Conflicte gerathen und unter Bethätigung jener Eigenschaften als Sieger und Besiegte, umwandelnd oder umgewandelt, daraus hervorgehen oder darin untergehen lässt, ist in seiner Weise ein Experimentator, wie der Chemiker, der allerlei Stoffe mischt, in gewisse Temperaturgrade bringt und den Erfolg beobachtet. Natürlich: der Dichter hat Menschen vor sich, keine Chemikalien. Aber, wie oben ausgesprochen ist, auch diese Menschen fallen in's Gebiet der Naturwissenschaften. Ihre Leidenschaften, ihr Reagieren gegen äussere Umstände, das ganze Spiel ihrer Gedanken folgen gewissen Gesetzen, die der Forscher ergründet hat und die der Dichter bei dem freien Experimente so gut zu beachten hat, wie der Chemiker, wenn er etwas Vernünftiges und keinen werthlosen Mischmasch herstellen will, die Kräfte und Wirkungen vorher berechnen muss, ehe er an's Werk geht und Stoffe combinirt." [37]

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Die beiden Anforderungen Bölsches an einen Experimentalroman, dass nämlich die Romanfiguren als in ihren Gefühlen und Handlungen durch naturwissenschaftliche Gesetze bestimmt dargestellt würden und dass der Roman ihre Entwicklung nachzeichnen sollte, wurden von Clara Viebigs Roman “Einer Mutter Sohn“ zweifellos erfüllt. Die Autorin benutzt das Motiv des angenommenen Kindes, um das Verhältnis zwischen angeborenen Eigenschaften und Erziehung, zwischen Natur und Kultur auszuloten. Konnte ein ins Berliner Bürgertum verpflanzter Sprössling der Eifel dort gedeihen? Würde er sich an die fremde Umgebung anpassen können? Der durch Viebigs literarisches Experiment ermittelte Befund ist eindeutig negativ: Die Anpassung gelingt nicht. Wolfgang stirbt im jungen Erwachsenenalter. Seine Eltern sind mit ihrem Bemühen, das fehlende leibliche Kind durch ein angenommenes Kind zu ersetzen, gescheitert. Die Adoption erweist sich damit retrospektiv betrachtet als aus egoistischen Motiven unternommener Menschenversuch mit tödlichem Ausgang.

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Viebigs Darstellung zufolge war der Unterschied zwischen dem Herkunftsmilieu und dem Leben der Adoptiveltern zu groß, um durch Erziehung überbrückt zu werden. Im Hohen Venn hatte der kleine Jean-Pierre sich wohlgefühlt. Käte findet ihn im Heidekraut liegend:
“Da lag das Kind auf der Erde. Es hatte kein Kissen, keine Decke, war recht erbärmlich eingebündelt in einen alten, zerschlissenen Frauenrock. Sein Köpfchen, das dunkel behaart war, lag im bereiften Kraut (...) Da war kein Schleier, keine schützende Hülle; auch keine Mutter – nur das Venn.“ Doch obwohl das Kind alleine ist, weint es nicht: „es grahlte nur so vor sich hin, wie stillzufriedene Kinder zu tun pflegen.“ Und es macht einen durch und durch gesunden Eindruck: „auf nacktem Boden, bei Kälte und Wind, ohne Schutz hatte es gelegen – es mußte eine Kernnatur haben.“ Die Umgebung, in die es nun gebracht werden wird, könnte gegensätzlicher nicht sein. Nach Kätes Vorstellung musste das Kind “sein Kinderzimmer haben, einen freundlichen Raum mit geblümten Gardinen – nur dunkle nebenbei zum Vorziehen, um das Licht beim Schlafen zu dämpfen. – Sonst alles hell, leicht und luftig. Und eine Babykommode muß darin stehen mit den vielen Fläschchen und Näpfchen, und sein Badewännchen, sein Bettchen mit den weißen Mullvorhängen, hinter denen man ihn liegen sehen kann mit roten Bäckchen, die Fäustchen am Kopf, und fest schlummern!“ [38]

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Solche Gegensätze im Milieu lassen ein gesundes Heranwachsen, so der Roman, nicht zu. Obwohl Wolfgang das Hohe Venn bereits im Säuglingsalter verlässt, obwohl er also in kultureller Hinsicht nicht nachhaltig durch die Umgebung geprägt worden sein kann und auch keine aktive Erinnerung an sie bewahrt, wird er in der Welt seiner Adoptiveltern nicht heimisch. Wolfgang gewöhnt sich zwar an das komfortable Leben und weiß den Luxus seines Elternhauses und seine Freiheiten als Sohn des Chefs zu genießen, doch wird er letztlich unglücklich. Der Versuch, Wolfgang zu einer ihm nicht gemäßen Lebensform zu zwingen, führt nicht nur zu heftigen Auseinandersetzungen, sondern letztlich zu Wolfgangs Tod.
Viebig erzählt dabei keine Geschichte der Degeneration, wie sie in anderen populären Romanen des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts häufig anzutreffen war. Wolfgang gehört nicht zu jenen “Spätlingen“ adeliger oder bürgerlicher Familien, die kaum noch Überlebens- oder Fortpflanzungskraft besitzen oder unter den Sünden ihrer Vorfahren leiden, die in Form von Erbkrankheiten an sie weitergegeben worden sind. [39] Im Zentrum von Viebigs Erzählung steht die Frage der Anpassungsfähigkeit. Eigentlich sind Wolfgangs Anlagen gut. Seine Eltern sind gesunde, wenn auch einfache Leute mit schlichtem Verstand. Der Körper seines bei einem Schmuggelversuch erschossenen, eigentlich aber ehrlicher Arbeit nachgehenden Vaters wird als geradezu gestählt und kraftvoll geschildert: “Zu Verviers hatte er gearbeitet, in der Maschinenfabrik, schwarz berußt und nackt bis zum Gürtel; dem waren Kälte und Hitze ganz einerlei gewesen.“ [40] Zwar fürchtet sich Käte vor der leiblichen Mutter und sieht, als Wolfgang einmal stark betrunken nach Hause kommt, in Gedanken seine Vorfahren in der Bauernschenke rauchen, trinken und grölen. [41] Es sind aber eher die überindividuellen Eigenschaften der Bevölkerung seiner Heimat, die in seinem Naturell zum Ausdruck kommen. So fühlt sich Wolfgang zum Katholizismus hingezogen, er liebt es, draußen zu sein, zeigt Interesse am Landleben und an landwirtschaftlicher Arbeit, lernt langsam. “Wie ein Bauer“ kommt er seinem Vater vor. Was hier als angeborene Eigenschaften die Geschicke des Heranwachsenden determiniert, sind nicht konkrete Charakterzüge oder körperliche Merkmale individueller Vorfahren. Es ist eher eine kollektive Lebensweise, die sich niederschlägt. Er ist ein “Sohn des Venns“, dem die Landschaft nachtrauert: “Über den Scheitel des großen Venns kroch der kleine Wagen. Die Winde wollten ihn hinunterblasen wie ein winziges Käferchen. (...) Diese Eindringlinge, diese Diebe, die führten etwas mit sich fort, das dem Venn gehörte, einzig und allein dem großen Venn. (...) Das stille Venn war lebendig geworden. In des Sturmes dumpfen Orgelbraus mischte sich Schrillen und Pfeifen, Gellen und Krächzen und Flügelschlagen und empörtes Schreien. (...) Und das Venn weinte. Große Tropfen entsanken den Nebeln; die Nebel selbst wurden zu Tränen, zu langsam fallenden und dann zu stürzenden, unaufhaltsamen, strömenden Tränen.“ [42] Wolfgang ist wie ein Tier im Zoo, das durch das Leben in Gefangenschaft verkümmert, aber auch nicht mehr in der Wildnis zurechtkommen würde: “Als Wolfgang das Letzte in seinen Koffer gelegt hatte, sah er sich nachdenklich im Zimmer um. Hier war er nun aufgewachsen, hier dieses Zimmer hatte er oft als einen Käfig betrachtet – ob er nun wieder in diesen zurückkehrte?! (...) Ja, er würde wieder hier hinein zurückflattern, er war eben an den Käfig gewöhnt.“ [43]

Die Literaturkritik: Zur mangelnden Glaubwürdigkeit des Experimentalromans

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Wie bereits erwähnt, wurde der Roman von der zeitgenössischen Literaturkritik nicht positiv aufgenommen. Ein Teil der Kritik richtete sich grundsätzlich gegen die Gestaltung des Romans als Thesenroman. Hier wurde der Anspruch, allgemeine gesellschaftliche oder gar naturwissenschaftliche Fragen mit Hilfe eines Romans diskutieren zu wollen, prinzipiell in Frage gestellt. Andere Rezensenten standen dem Naturalismus nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, warfen aber der Autorin vor, sich in ihrem Roman dem Problem der Vererbung nicht unvoreingenommen gestellt zu haben. Das Experiment – so könnte man diesen Teil der Kritik paraphrasieren – sei gar kein wirkliches Experiment gewesen, sondern lediglich eine Lehrvorführung, die der Darstellung einer These, eines Dogmas, einer Doktrin diente. [44] “Es wird uns nicht erzählt, wie ein Fall sich zugetragen hat, sondern bewiesen, wie er sich zutragen mußte.“ [45] Die Autorin gehe den Roman wie eine mathematische Gleichung an, doch bediene sie sich dabei unlauterer Methoden, indem sie “Prämisse auf Prämisse [heranziehe], um recht überzeugend zu ihrem voreingenommenen Schlusse zu kommen.“ [46] Diese Rezensionen verweigerten Viebigs Erzählung damit jene Anerkennung, die sie erst zum gelungenen Experiment gemacht hätte. So wie es – folgt man Bruno Latour – für die Stabilisierung wissenschaftlicher Tatsachen notwendig ist, dass ein Forscher seine Kollegen von der Glaubwürdigkeit seines Experimentes überzeugen kann, [47] so benötigt auch die Romanautorin für ihr Gedankenexperiment die Anerkennung durch die Leserinnen und Leser. Viebig wurde diese Anerkennung von den Rezensenten zum guten Teil verweigert, wobei unklar bleiben muss, ob deren Urteil auch für die Leserschaft insgesamt repräsentativ war. Bei dem normalen Publikum kam der Roman schließlich sehr gut an. In den Augen der Rezensenten war vor allem die Figur des Wolfgang wenig überzeugend. Er sei lediglich ein Phantom, “zu absichtlich in der Retorte des Problems erzeugt, als daß ein Mensch aus ihm entstehen könnte“. [48] Die Geschichte werde “an wandelnden Kostümfiguren statt an richtigen Menschen“ dargestellt. [49] Auch wenn die meisten Rezensenten die Bedeutung der Vererbung für die Entwicklung des Menschen nicht grundsätzlich in Zweifel zogen, stieß der Rigorismus, mit dem Viebig die “Stimme des Blutes“ gegen die Wirkungen der Erziehung ausspielte, auf allgemeine Kritik.
“Darwin ist groß, und Haeckel ist sein Prophet. Beide Kirchenväter des neuen Glaubens kommen dem Opponenten zu Hilfe. Denn sie predigen das Evangelium der Anpassung so laut wie das Evangelium der Vererbung. Von Anpassung aber will Clara Viebig nichts wissen.“ [50]

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Nahezu alle Rezensionen waren sich einig, dass die Hinwendung Wolfgangs zum Katholizismus nicht als Ausdruck von angeborenen Neigungen interpretiert werden dürfe. [51] Viele Rezensenten kritisierten darüber hinaus, dass Viebig es sich zu einfach mache, wenn sie die zwischen Mutter und Sohn auftretenden Konflikte als Folge der Vererbung darstellte. Die Jungenhaftigkeit Wolfgangs wollten diese (fast ausnahmslos männlichen) Rezensenten als natürlichen Ausdruck jugendlicher Männlichkeit sehen, den Viebig und ihre Protagonistin Käte fälschlicherweise als Ausdruck der Vererbung betrachteten. Positiv bewertet wurden Viebigs Landschaftsdarstellung sowie solche Szenen, in denen die Eifelbewohner zu Wort kamen. Viebigs Gestaltung des Romans als “Experimentalroman“ und ihr Interesse an Fragen der Vererbung passte offenbar zu den Aufmerksamkeitsstrukturen der zeitgenössischen Literaturkritiker. Doch jenseits dieses Themas lassen die Rezensionen auch erkennen, was von den Rezensenten offenbar als common sense, als realitätsnahe Darstellung akzeptiert wurde und erst aus der historischen Distanz als zeitgebunden erscheint. So skeptisch die Rezensenten Viebigs Umgang mit Fragen der Vererbung beurteilten, so wenig kritisierten sie ihre Darstellung des Leidens der Kinderlosen, ihre Beschreibung der Wirkung der Elternpflichten auf die Ehe und ihre Skandalisierung der Adoption als Kinderkauf.

Zwischenüberlegung: Ungewollte Kinderlosigkeit im Roman

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Wie dargestellt, kreist Viebigs Roman um die Frage, inwieweit der Mensch durch seine Anlagen determiniert sei. Viebig greift damit ein zentrales Thema des Naturalismus auf. Das Motiv der Kinderlosigkeit steht hingegen nicht im Zentrum des Romans. Es wird behandelt, weil Viebig ein Setting braucht, in dem sich die Frage nach Erziehung versus Vererbung durchspielen lässt. Viebigs Anspruch, einen naturalistischen Roman zu schaffen, zwingt sie geradezu, die Erfahrung der Kinderlosigkeit in einiger Ausführlichkeit darzustellen, obwohl es sich dabei, wie bereits erwähnt, keineswegs um ein übliches Thema der Erzählprosa handelte. Was nun lässt sich aus dem Roman über die Bedeutung von Unfruchtbarkeit um 1900 lernen?

Kinder als Partner, Kinder als Erben

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Von der zeitgenössischen Literaturkritik nicht weiter kommentiert, entwirft Clara Viebig Kinderlosigkeit als eine stark geschlechterdifferente Erfahrung. Beide Eheleute wünschen sich Kinder, doch unterscheiden sie sich in ihren Motiven. Käte fehlt infolge ihrer Kinderlosigkeit ein Lebensinhalt. Sie möchte – selbstverständlich unterstützt von einem Kindermädchen – für ein Kind sorgen, es erziehen und heranwachsen sehen. Sie wünscht sich eine lebenslang andauernde, von Zuneigung und körperlicher Zärtlichkeit geprägte Beziehung. Besonders vor dem kinderlosen Altern und Sterben hat sie große Angst.
“Wer würde sie mit warmen Lippen küssen und sie froh machen mit seiner Zärtlichkeit?! Wer würde sie auf seinen Schwingen mittragen, so daß sie nicht fühlten, daß sie müde waren?! Ach, den Kinderlosen blüht keine zweite Jugend! Niemand würde das Erbe antreten, das sie hinterließen an Schönheitsfreude, an Schönheitssinn, an Begeisterung für Kunst und Künstler, niemand würde ein pietätsvoller Hüter sein all jener hundert Sachen und Sächelchen, die sie mit Geschmack und Sammlerfreude in den Räumen ihrer Wohnung zusammengetragen hatten.“ [52] In der Wahrnehmung Kätes sollen die Kinder im Tod und über ihn hinaus als “pietätsvolle Hüter“ die Beziehung zu den Eltern weiterpflegen.

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Paul Schlieben sehnt sich, anders als Käte, nicht nach einer intensiven Beziehung mit einem einzelnen Kind. Kommen in seinen Tagträumen Kinderwünsche vor, so werden diese durch Kinder ausgelöst, die als amorphe Masse auftreten, als “Scharen von kleinen Flachsköpfen“ und “Kinder, Kinder, Kinder“ wie sie sich im ländlichen und städtischen Proletariat finden. Kinder werden weniger als Beziehungspartner und stärker als “Erben“ imaginiert. Gedanklich einen Schriftsteller zitierend, wünscht er sich “Erben seines Leibes, seines Blutes. Kinder denen er weitergeben kann, was in ihm ist an Wünschen, Hoffnungen und auch an Errungenschaften; Kinder, die von ihm abstammen wie die Schößlinge von einem Baum; Kinder, die dem Menschen ein Fortleben in Ewigkeit ermöglichen. So allein war das Leben nach dem Tode aufzufassen – das ewige Leben! Die Auferstehung des Fleisches, die die Kirche verheißt, war zu verstehen als das Sicherneuern der eigenen Persönlichkeit in folgenden Geschlechtern. Ach, es war doch etwas Großes, etwas unbeschreiblich Beruhigendes in solchem Fortleben!“ [53]
Beide Ehepartner wünschen sich Kinder. Doch die Erwartungen an die Mutter-Kind- und Vater-Kind-Beziehungen werden von Viebig als unterschiedlich dargestellt. Während Schlieben das Kind als Nachfolger und Empfänger des väterlichen Erbes sieht, konzentriert sich Kätes Kinderwunsch auf die emotionale Nähe zwischen Mutter und Kind, die auch über den Tod hinaus bestehen bleiben soll.

Kinderlosigkeit, Hysterie und “geistige Mütterlichkeit“

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Diese Geschlechterdifferenz findet sich jedoch nicht nur auf der Ebene der Erwartungen, die mit der Elternschaft verknüpft werden, auch das Leiden an der Kinderlosigkeit weist bei Männern und Frauen nach Viebigs Darstellung unterschiedliche Charakteristika auf. Interessanterweise entspringt diese Differenz aber nicht der „Natur“ der Geschlechter, sondern ist eine Folge der sozialen Verhältnisse, unter denen Mutterschaft gelebt wird. Solange das Paar im gewohnten Berliner Umfeld lebt, kann Schlieben seine Sehnsucht nach Kindern erfolgreich kontrollieren. Nur in “unbewachten Augenblicken“ bricht diese sich zuweilen in einem Seufzer Bahn. [54] Käte hingegen verzehrt sich immer mehr nach einem Kind. Sie wird, so heißt es im Roman, zunehmend “nervös“. Ihre Missstimmung wird geradezu “krankhaft“. Manche Tage bringt Käte weinend auf ihrem Ruhebett zu, während ihre Gedanken um die Konsequenzen ihrer Kinderlosigkeit kreisen. Ablenkung hilft nur vorübergehend. So hat die ausgedehnte Reise, die die Schliebens unternehmen und die sie bis nach Ägypten führt, auf Käte den erhofften wohltuenden Effekt. “Ihr empfängliches Gemüt begeisterte sich, und ihr nicht ganz unbedeutendes Maltalent fühlte sich auf einmal mächtig angeregt. (...) Ihr zartes Gesicht verbrannte; selbst auf ihre Hände, die sie sonst sorgfältig gepflegt hatte, achtete sie nicht mehr. Das Fieber der Betätigung hatte sie erfaßt. Gott sei Dank, jetzt konnte sie etwas schaffen!“ [55] Während Käte mit großer Intensität malt, wird ihr Mann hingegen auf die Rolle des passiven Beobachters reduziert. Was Käte an Energie und Handlungsspielraum gewinnt, scheint er zu verlieren. Nun ist es an ihm, “untätig umherzuliegen“ – zu liegen, nicht etwa zu sitzen oder zu stehen –, nun entwickelt er Anzeichen von Nervosität. [56]

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Doch bei dieser Verkehrung der Geschlechterrollen bleibt es nicht lange. Schlieben bricht aus der Rolle des “schmeichelnden Spiegels“ (Bourdieu) rasch wieder aus. Ist er bereits vorher mit der Situation unzufrieden, so wird schließlich die Begegnung mit zwei Kindern, die Käte Porträt sitzen, zum Auslöser für eine brutale Wiederherstellung der alten Konstellation. “Schlieben sah es mit einer seltsamen Unruhe, daß seine Frau die Kinder malte; (...) In ihren Augen war Glanz, sie schien nie müde zu werden (...) All ihr Denken drehte sich um diese Malerei (...). Nichts anderes hatte Interesse für sie. Das war eine große Hingabe. Und doch wurden es schlechte Bilder; die Züge ähnlich, aber keine Spur der Kindesseele darin. Er sah es klar: Die Kinderlose kann nicht Kinder malen! Arme Frau! Mit einem Gefühle tiefen Mitleids sah er ihren Bemühungen zu. Wurde ihr Gesicht nicht mütterlich weich, lieblich rund, wenn sie sich zu den Kindern neigte? Der Typus der Madonna – und doch waren dieser Frau Kinder versagt - - -!
Nein, er konnte sich dies nicht länger mehr mit ansehen, es machte ihn krank! Unwirsch hieß Schlieben die Kinder nach Hause gehen. (...)
‚Wir reisen morgen!’
Und als sie ihn ansah mit weitgeöffneten, schreckensstarren Augen, tief erbleicht, da entfuhr es ihm, ohne daß er es sagen wollte, herausgelockt von einer Bitterkeit, deren er nicht mehr Meister wurde: ‚Sie sind ja doch nicht dein!’“ [57]

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Schlieben wird zum unfreiwilligen Zeugen eines Glücks, das seine Frau sowohl in der Malerei wie in der Beziehung zu den Kindern, mit denen sie Zärtlichkeiten austauscht, findet. Er missgönnt ihr beides: während Käte in ihren Bildern „etwas Selbstgeborenes“ sieht, spricht Schlieben ihnen die Qualität eines „echten, großen Werks“ ab, das allein in der Lage ist, das Kind zu ersetzen. Seine Bitterkeit speist sich damit wohl nicht nur aus Mitleid, sondern aus der eigenen Hilflosigkeit, aus dem Gefühl, überflüssig zu werden und zusehen zu müssen, wie sich Käte eigene Kinder schafft, die nicht seine Kinder sind.
Dieser Situation muss er ein Ende bereiten:
“Er hielt es beim besten Willen nicht länger mehr so aus; des Umherziehens von Hotel zu Hotel, des Bummelns durch die Welt, das keine andre Frucht zeitigte, als ab und zu mal ein kleines Feuilleton, (...) war er herzlich müde. Er sehnte sich wieder nach einer eigenen Häuslichkeit, verlangte brennend nach der geschäftlichen Tätigkeit, die, solange er darinnen war, ihn oft als eine Fessel und so nüchtern gedeucht hatte. Aber Käte ---! Wenn er daran dachte, daß sie nun wieder viele Stunden einsam zu Hause verbringen würde, sich ganz auf sich und Lektüre beschränkend, denn, übersensitiv wie sie war, fand sie wenig Gefallen am Umgang mit anderen Frauen, dann überkam ihn Hoffnungslosigkeit.“ [58]

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Dass ungewollte Kinderlosigkeit bei Frauen zu psychischem Leid führe, war eine offenbar von vielen Rezensenten geteilte Vorstellung. Interessanterweise benutzten die Rezensenten dabei den Terminus der Hysterie, den Viebig selbst in ihrem Roman vermied. Die “Hysterie der Kinderlosen“, wie es in einer Rezension hieß, wurde zeitgenössisch offenbar als eine Art zwangsläufige Folge von Unfruchtbarkeit angesehen. [59] Auch Gynäkologen äußerten sich entsprechend, wenn sie über die angeblich schwer zu befriedigenden Ansprüche ihrer unfruchtbaren Patientinnen klagten.
Viebig ist jedoch weit davon entfernt, Kätes Nervosität als Ausdruck der biologischen Geschlechterdifferenz darzustellen. Die Reiseschilderung dient ihr vielmehr dazu zu zeigen, dass Kätes Verzweiflung durch ihre Lebensverhältnisse hervorgebracht wird. In die passive Rolle des untätigen Beobachters gedrängt, wird auch Schlieben bald nervös und fängt an, über die Ursachen und Folgen der Kinderlosigkeit zu grübeln, während Käte über ihre Malerei ihre Sehnsüchte vergisst und ganz in ihrer künstlerischen Tätigkeit aufgeht. [60]

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Die psychische Labilität der ungewollt kinderlosen Frau erscheint damit als eine sozial induzierte Pathologie. Viebig greift dabei eine um 1906 virulente Debatte auf: Die bürgerliche Frauenbewegung hatte bereits seit Jahren für bessere Bildungsmöglichkeiten für Frauen und Mädchen gekämpft. Der Zugang zur Berufswelt galt als notwendige Voraussetzung für eine umfassende Emanzipation der Frauen. Entsprechend forderte der Allgemeine Deutsche Frauenverein, dass „alle der weiblichen Arbeit entgegenstehenden Hindernisse entfernt“ würden. [61] Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden gerade in Berlin neue Ausbildungsmöglichkeiten für bürgerliche Frauen und Mädchen, die sich auf soziale Tätigkeiten vorbereiten wollten. Ihre Aufgabe sahen diese Schulen sowohl darin, die besonderen Fähigkeiten von Frauen der Allgemeinheit zugänglich zu machen, als auch darin, die Frauen des Bürgertums aus einer Situation der verordneten Untätigkeit zu befreien. [62]
Viebigs Darstellung des Leidens Kätes kann vor diesem Hintergrund als Anklage der zeitgenössischen Geschlechterordnung verstanden werden. Käte kann unter den Bedingungen des Berliner Alltags nicht glücklich werden, weil sie dort keinen Lebensinhalt findet. Die Trostlosigkeit dieser Aussicht lässt Käte nach dem Kind im Hohen Venn greifen und setzt damit die unheilvolle Dynamik des weiteren Geschehens in Gang. Dass sich Kätes Kinderwunsch zur brennenden Sehnsucht entwickelt, ist damit Viebigs Darstellung zufolge nicht einfach das Resultat einer angeborenen Muttersehnsucht, sondern Folge der gesellschaftlichen Konventionen und Lebensgewohnheiten, die Käte jenseits der Mutterschaft keine Möglichkeit der Entfaltung bieten.

Ehe – kinderlos und glücklich?

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Für Paul und Käte Schlieben bringt die Adoption nicht das gewünschte Familienglück. Solange das Kind noch klein ist, geht Käte zwar in seiner Betreuung auf, doch bereits nach wenigen Jahren häufen sich Konflikte und Schwierigkeiten, die auch die Beziehung der Ehegatten zunehmend belasten. Käte fühlt sich von ihrem Ehemann nicht mehr verstanden. “Er war ja nicht mehr so wie früher! O – sie empfand es mit einer leisen Bitterkeit – wie hatte er sie doch vormals verstanden! Jede Regung, jede Schwingung ihrer Seele hatte er mitgefühlt. Dieses ahnenden Verstehen war ihm abhanden gekommen – oder verstand sie ihn vielleicht nicht mehr?! (...) Wenn Paul doch noch so wäre, wie er früher gewesen war! Sie mußte ihn jetzt so oft heimlich ansehen und sich mit einer gewissen Verwunderung auch in seine äußere Persönlichkeit hineinfinden. (...) Merkwürdig, daß jemand ein so praktischer Mensch werden konnte, dem früher alles Geschäftliche lästig, ja, höchst zuwider war!“ [63] Aus Sicht von Paul Schlieben wird die Adoption bald zu einer Belastung der Ehe, besonders da Käte sich nur noch um den Jungen zu sorgen scheint. Als Käte sich endlich überreden lässt, Wolfgang einmal für ein paar Wochen allein zu lassen und in Kur zu fahren, erleben die Eheleute das Wiedersehen als einen Moment des Glücks. “Er konnte sich gar nicht genug freuen über ihre klaren Farben, ihren klaren Blick; und sie wiederum fand ihn prächtig gebräunt, jugendlicher, fast so schlank wie einst. Hand in Hand saßen sie in dem Coupé, das er sich hatte reservieren lassen; ganz allein, wie junge Liebesleute. Sie hatten sich unendlich vieles zu sagen – da war nichts, gar nichts, was sie störte. Mit großer Innigkeit sahen sie sich in die Augen.“ Doch das Glück endet jäh, als Käte sich an Wolfgang erinnert, nach dem zu fragen sie zunächst ganz vergessen hatte. Der intensive Austausch zwischen den Ehegatten erlischt augenblicklich: “Nun waren sie keine Liebesleute mehr, nur Eltern, die sich um ihr Kind zu kümmern hatten!“ [64]

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In ihrem Roman stellte Viebig die Elternschaft als eine Belastung für die romantische Liebe der Ehepartner dar. Sie griff damit Überlegungen auf, die sich in ähnlicher Form auch in zeitgenössischen Eheratgebern fanden. Zwar war das Ideal der Liebesehe zu diesem Zeitpunkt keineswegs neu – schließlich wurde es bereits seit rund 100 Jahren im Bürgertum vertreten – die Intimisierung der Mutter-Kind-Beziehung ließ diese jedoch zunehmend in Konkurrenz zur ehelichen Beziehung treten. In den zeitgenössischen Eheratgebern wurde die kinderlose Ehe häufig geradezu als Glücksfall geschildert. Hier konnte sich der “Frühlingsduft der bräutlichen Liebe“ weitaus besser erhalten, als in einer kinderreichen Ehe, hier konnte die Frau “ungestört durch die Sorge und Arbeit für die Kinder, mit dem Manne noch mehr seine Arbeit und sein Leben theilen“ [65], hier gab es gemeinsame Interessen, die weiterverfolgt und vertieft werden konnten, waren die kinderlosen Eheleute doch “ frei und ungebunden“. “Die Welt steht ihnen offen, nichts hält sie zurück.“ [66]
Um die Jahrhundertwende war es in bürgerlichen Familien nicht nur üblich, Familienplanung zu betreiben und die Zahl der Kinder zu reduzieren, zu diesem Zeitpunkt wurde es auch denkbar, eine kinderlose Ehe bewusst anzustreben. In einem Eheratgeber des Jahres 1912 spiegelte sich die ambivalente Haltung gegenüber der Fortpflanzung zum einen darin, dass die Frage nach den Kindern in den Anhang verbannt wurde, da “die Kinder (...) weder zu den prädisponierenden, noch zu den essentiellen Ursachen des ehelichen Glücks“ zählten. Der Ratgeber pries jedoch nicht nur das Glück der kinderlosen Ehe, sondern warnte davor, dieses bewusst anzustreben. Wollten sich Eheleute lediglich aus Bequemlichkeit und Eitelkeit vor den Kosten und Lasten der Kindererziehung drücken, würde dies die ehelichen Beziehungen auf Dauer belasten. [67]

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Eine ähnlich ambivalente Haltung spiegelt auch Viebigs Roman. Einerseits wird die Sehnsucht nach Kindern als verzehrend dargestellt, andererseits bringt das Aufziehen des Kindes längst nicht das gewünschte Glück, sondern gefährdet vielmehr die eheliche Zweisamkeit. “Es war schrecklich, wenn man fühlte, wie häusliches Glück, eheliches Glück, Liebe, Treue, Einigkeit, wie all das, was zwei Menschen innig zusammenhält, ins Wanken geriet – fühlte sie’s denn nicht alle Tage, wie ihr Mann kälter und kälter wurde, und wie auch sie gleichgiltiger gegen ihn ward?! Ach, der Sohn, dieser Dritte, der brachte sie zwei auseinander.“ [68]

Wahlverwandtschaft: Adoption, Moral und soziale Ungleichheit

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Unter der Überschrift “Das Problem der Adoption“ druckten die Hamburger Nachrichten am 18. April 1906 eine Besprechung des Romans auf dem Titelblatt der Abendausgabe ab. Der Rezensent äußerte darin die Überzeugung, dass man das Werk nicht “wie einen beliebigen anderen Roman beurteilen und in sich aufnehmen“ könne, vielmehr müsse man ihn “als einen Versuch der geistvollen Frau auffassen, ein Problem, das sie offenbar intensiv beschäftigte, zu erörtern.“ [69] Clara Viebigs Roman stellte die Adoption nicht nur als eine irrationale, wenig erfolgversprechende Strategie im Umgang mit ungewollter Kinderlosigkeit dar, er ließ sie auch als moralisch fragwürdig erscheinen: Der im Roman geschilderte Fall konnte nur als Form des Kinderhandels gelesen werden. Mit der Adoption kommen die Schliebens nicht etwa einer verzweifelten ledigen Mutter zur Hilfe, sondern sie bestechen eine arme, verwitwete Mutter mit einer sehr großen Geldsumme – 600 Mark. [70] Die Eifelbewohnerin will sich nicht von ihrem jüngsten Kind trennen. Fünfmal lehnt sie es ausdrücklich ab, ihren Sohn herzugeben: “’Neni!’ Sie sagte es noch einmal und noch abweisender und noch hartnäckiger denn zuvor.“ [71] Doch der Gemeindevorsteher redet ihr zu und bezeichnet die Abgabe des Kindes ausdrücklich als “en jut Jeschäft“. [72] Er inszeniert die Verhandlung um die Höhe der Abfindung als eine Art Versteigerung, in der er, wie beim Viehverkauf, auf die besonderen körperlichen Vorteile der Ware “Kind“ hinweist: “’Ich rechne, Ihr werdet einsehen, dat zweihundert noch zu wenig sin! Die Solheid hängt sehr an dem Kind, et is nich leicht, wenn se’t herjeben tut!’ Er blinzelte von der Seite bobachtend nach Schlieben und rief, wie man auf einer Auktion zu rufen pflegt: ‚Zweihundert, zweihundertfünfzig, dreihundert! Wahrhaftigen Jotts, nich zu viel! De Jean-Pierre is ene staatse Jung – seht ens, die Fäust! Un die Braden! Ene höllische Jung! Nich wahr, Madam’ – er sah das Verlangen in Kätes Augen –‚ dreihundert Taler sin e so viel wie nichts für den?’“ [73]
Den Adoptiveltern ist die Situation überaus peinlich. Sie wollen nicht feilschen, spielen aber mit und erhöhen das Gebot, bis die leibliche Mutter nicht mehr ablehnen kann. Damit nutzen sie die existentielle Not der verwitweten Frau aus, denn diese muss befürchten, im bevorstehenden Winter ihren übrigen Kindern und sich selbst noch nicht einmal genügend Nahrung und ein festes Dach über dem Kopf bieten zu können. Sie ist die ärmste Bewohnerin des Venndorfs, und entsprechend wichtig ist dem Ortsvorsteher der erfolgreiche Verkauf des Kindes. Dass sich die leibliche Mutter nur unter Zwang von dem Kind trennt, wird in der letzten Sequenz der Szene deutlich. Als Käte das Kind in ihren Mantel hüllt und die Hütte verlassen will, wirft Lisa Solheid mit einem lauten Schrei ein Beil nach ihr, das im Türpfosten stecken bleibt: Wut, Verzweiflung und Hass brechen sich Bahn. Offenbar ist Lisa Solheid nicht die gefühllose und gleichgültige Frau, als die die Schliebens sie gerne wahrnehmen wollen.

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Die Kritik betrachtete die soeben geschilderte Szene als einen Höhepunkt des Romans und lobte gemeinhin Viebigs Gestaltungskraft, die sich vor allem in ihrer plastischen Schilderung einfacher Leute und dramatischer Situationen zeige. [74] Viebigs Denunziation der Adoption wurde nicht zurückgewiesen. Offenbar stieß sie bei den Rezensenten eher auf Zustimmung. Die moralische Frage, die Viebig mit ihrer Schilderung aufwarf, wurde in den nachfolgenden Jahren gesellschaftlich breit diskutiert. Für kinderlose Ehepaare wie die im Roman geschilderten Schliebens war es zu Beginn des 20. Jahrhunderts ohne größere Schwierigkeiten möglich, ein Kind anzunehmen. [75] Die formale Adoption konnte allerdings erst erfolgen, wenn beide Ehepartner mindestens fünfzig Jahre alt waren. [76] Insgesamt orientierte sich die Regelung des Adoptionsrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 an den Bedürfnissen der Kinderlosen. [77] Eine Überprüfung der Eignung der Adoptiveltern fand nicht statt, und die Bestimmungen des Gesetzes waren so gestaltet, dass sich die Adoption vor Adoptivkind und Umwelt möglichst gut verheimlichen ließ.

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Die Vermittlung der Kinder erfolgte unter anderem über den Weg von Annoncen in Tageszeitungen. Eine kursorische Durchsicht von Tageszeitungen des frühen 20. Jahrhunderts fördert rasch entsprechende Anzeigen zu Tage. In den Münchener Neuesten Nachrichten vom November und Dezember 1905 finden sich beispielsweise folgende Annoncen:
“Armes, verlassenes Mädchen bittet edle Menschenherzen, sich ihrer neugeborenen, netten, vaterlosen Zwillinge anzunehmen. Gott vergelt es. Offerte unter H E 355568. an die Exped.“ (14. 11. 1905)
“Welche gutherzige Familien wäre geneigt, einen armen 10 J. alten, gut talentierten und gut erzogenen Knaben zu adoptieren? Briefe unter Seger 337,776 an die Exp. ds. Bl. erbeten. (2. 11. 1905)
“Kind! Armes Mädchen bittet bess. kinderloses Ehepaar ihr nettes gesundes Knäbchen an Kindesstatt anzunehmen. Mäß. einm. Erziehungsbeitrag kann beigesteuert werden. Näh. unter H.Z. 382429 durch die Exp.“ (11. 12. 1905)
“Christkind. Welches kath., kinderlose, vermögliche Ehepaar wünscht ein schönes Mädchen, 2 Jahre alt, zu adoptieren. Briefe an A. Riedhammer, Flaschenbier-Geschäft in Harting, Post Regensburg.“ (11. 12. 1905)

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Neben solchen Anzeigen fanden sich zahlreiche Annoncen, in denen Koststellen für uneheliche Kinder gesucht oder angeboten wurden. Die soziale Ächtung von ledigen Müttern und unehelichen Kindern und die geringen Verdienstmöglichkeiten von Frauen zwangen viele ledige Mütter, sich von ihren Kindern zu trennen und diese in Pflegefamilien unterzubringen. [78] Doch das Haltekinderwesen wurde zeitgenössisch als äußerst problematisch wahrgenommen. Bereits seit Jahrzehnten war die hohe Säuglingssterblichkeit unter den unehelichen Kindern bekannt. Gleichzeitig veränderten sich die Ansprüche an das Vormundschaftswesen und die Jugendpflege. Die Überhöhung von Mütterlichkeit und Mutterschaft tat um 1900 ein Übriges, um der Frage, inwieweit die Adoption geeignet war, den Interessen von Eltern und Kindern gerecht zu werden, große Dringlichkeit zu verleihen. Ein Roman, der sich dieses Themas annahm, konnte auf Interesse hoffen. Noch bevor Henriette Arendts Schrift “Kleine Weiße Sklaven“ 1911 die gewerbliche Vermittlung von Adoptiv- und Pflegekindern als Menschenhandel brandmarkte, porträtierte Viebig die Adoption als ein unrechtmäßiges Geschäft. [79] Neben Arendts Buch konnte sie als Referenz genutzt werden, wenn es darum ging, die Probleme der Adoption darzulegen. So berief sich 1912 Adele Schreiber in ihrem Text über “Kinderlose Mütter, Stiefmütter und Adoptivmütter“ neben Arendt auch auf die “Muttertragödie an einem Adoptivkinde“ wie sie von Viebig dargestellt worden sei. [80] Der Roman zeigte nicht nur, dass eine Adoption ungeahnte Schwierigkeiten mit sich bringen konnte, er verwies auch auf die moralischen Probleme, die unter den Bedingungen einer patriarchalen Klassengesellschaft mit der Adoption verbunden sein konnten: diese wurde nur allzu leicht zum Kinderhandel, bei dem bürgerliche Frauen “den Drang, zu ’besitzen’ und zu hegen“ und den Wunsch danach, “ein Wesen als das ’unsere’ bezeichnen zu dürfen“ auf Kosten ärmerer Frauen auslebten. [81] Oder wie es in der Familienzeitschrift „Daheim“ lapidar hieß: “Immer wieder wiederholt es sich ja, daß die wohlhabende kinderlose Frau, ganz erfüllt von dem heißen Wunsch, ein Kind ihr eigen zu nennen, eine arme Mutter durch große Angebote dazu verleitet, ihr ein Kind für immer abzutreten.“ [82]

Nur am Rande: die medizinische Behandlung von Unfruchtbarkeit

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Wie dargestellt kreiste Clara Viebigs Roman um die Frage, inwieweit der Mensch durch seine Anlagen determiniert sei. Viebig griff damit das klassische Thema des naturalistischen Romans schlechthin auf: die Naturgebundenheit des Menschen. Kinderlosigkeit und Adoption bildeten das Setting für die Entfaltung des Problems. Sie sind gleichsam Teil der Experimentalanordnung und mussten dazu gemäß des Anspruchs eines naturalistischen Romans möglichst plastisch und wirklichkeitsgetreu dargestellt werden. Aus den Reaktionen der Rezensenten lässt sich schließen, dass Viebig diese Herausforderung meisterte. Die Kritik wandte sich ganz überwiegend gegen die eher mechanische Entfaltung des Experiments, nicht gegen die gewählte Ausgangskonstellation. Viebigs Schilderung des Leidens der ungewollt Kinderlosen und ihre Skandalisierung der Adoption als Kinderkauf wurde nicht als fragwürdig oder unrealistisch kritisiert. Allerdings blieb auch eine aus heutiger Sicht vielleicht überraschende Leerstelle des Viebigschen Textes unkommentiert: die ausbleibende medizinische Behandlung der Unfruchtbarkeit. Erst am Ende der Reise, nachdem die Problembehandlung Kunst statt Kind, Schöpfung statt Schwangerschaft am Widerstand des Ehegatten und der durch ihn verkörperten konventionellen Geschlechterverhältnisse gescheitert ist, erwägt Käte einen Kuraufenthalt. Ihr Arzt schickt sie ins berühmte belgische Kurbad Spa. Dort angekommen, widmet sich Käte jedoch nicht der Trink- oder Badekur, sondern unternimmt mit ihrem Mann Wanderungen und Kutschfahrten in die Ardennen und das Hohe Venn.

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Viebigs Darstellung dürfte an dieser Stelle anachronistisch sein. In den 1880er Jahren war die medizinische Diagnose und Behandlung von Sterilität in den Mittel- und Oberschichten weit verbreitet. Auch Fontane ließ seine Protagonistinnen ins Bad fahren, wenn der gewünschte Kindersegen ausblieb. [83] Doch neben Bäderreisen hatte sich sowohl die operative Behandlung der Sterilität wie auch die Diagnostik der männlichen Sterilität durch Samenanalyse bereits weit verbreitet. [84] Dass Viebig sich für die medizinische Behandlung von Sterilität nicht interessiert, erklärt sich vermutlich aus ihrem Ziel, das Problem der Kinderlosigkeit einer sozialen Lösung zuzuführen. Schließlich soll es ja zu einer Adoption kommen. Bevor diese in Angriff genommen werden kann, muss aber die Vermutung, dass eine medizinische Behandlung sinnvoll gewesen wäre, aus der Welt geräumt werden. Viebig entledigt sich dieser Aufgabe quasi im Handumdrehen, indem sie das Ehepaar nach Spa reisen lässt, doch ohne, dass sich die erwünschte Wirkung einstellt, denn Käte wird auch hier nicht schwanger. Weinend gesteht sie ihrem Mann: “Hier hatte ich gehofft – gewartet – ich weiß selbst nicht recht auf was, aber immer gewartet – und heute – eben ist’s mir klar geworden: es war doch alles, alles umsonst!“ [85] Die Adoption wird damit endgültig zum letzten Ausweg, nachdem alternative Lebensentwürfe und medizinische Behandlung gescheitert sind.
Viebig musste offenbar der zeitgenössischen Wahrnehmung von Unfruchtbarkeit als einem primär medizinischen Gegenstand insofern Rechnung tragen, als sie auch die Möglichkeit einer Bäderbehandlung kurz anschnitt. Man wird dies einmal mehr auf den medialen Charakter des naturalistischen Romans zurückführen können: die zeitgenössische Problemwahrnehmung musste berücksichtigt werden. Ganz ohne Medizin konnte man um 1900 dabei nicht mehr auskommen.

Zusammenfassung

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In den Medien des frühen 20. Jahrhunderts war das Thema Vererbung allgegenwärtig. Theorien über Vererbungsvorgänge wurden in Vorträgen, Zeitschriften, Broschüren, Büchern und zunehmend auch in Ausstellungen popularisiert. Naturalistische Romane und Theaterstücke loteten die Bedeutung dieses umkämpften Wissens aus, indem sie es auf fiktive Schicksale projizierten. So bevölkerte sich das kulturelle Imaginäre mit dekadenten und degenerierten, mit nervösen und hysterischen Figuren. Ungewollte Kinderlosigkeit war hingegen kein übliches Medienthema. Sie war zwar verbreitet, doch ihre Bedeutung wurde gewöhnlich nicht öffentlich erörtert. Zwar tauchten auf den Bühnen und in den Romanen der Jahrhundertwende kinderlose Figuren allenthalben auf, wie sie ihre Kinderlosigkeit indes erlebten, welche Bedeutung sie ihr beimaßen, war ein wenig behandeltes Thema. In den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg sollte sich die öffentliche Aufmerksamkeit für das Phänomen der ungewollten Kinderlosigkeit insofern erhöhen, als angesichts des Geburtenrückgangs nun die Frage aufgeworfen wurde, inwieweit dieser auch durch eine Zunahme der Unfruchtbarkeit bedingt sein könnte, doch konzentrierte sich diese Debatte auf medizinische und demographische Fragen.

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Clara Viebigs Bestseller “Einer Mutter Sohn“ passte in die zeitgenössische Medienlandschaft, insofern er die Frage erörterte, inwieweit der Mensch durch seine Anlagen determiniert werde bzw. was Erziehung im Vergleich zu Vererbung zu erreichen vermochte. Dass er darüber hinaus ein plastisches Bild ungewollter Kinderlosigkeit entwarf, ist den Regeln des Genre zu verdanken: Damit Viebig ihr fiktives sozio-biologisches Experiment der Adoption als ‘Verpflanzung‘ realitätsnah durchspielen konnte, erfand sie ein adoptionswilliges kinderloses Ehepaar. Viebigs Darstellung der ungewollten Kinderlosigkeit lässt erkennen, dass diese nicht ohne Grund tabuisiert wurde. Wie ich im Anschluss an Luc Boltanski argumentiert habe, kann die Vermeidung eines Themas im öffentlichen Diskurs als Ergebnis einer Abwägung interpretiert werden. Ein in der sozialen Wirklichkeit allenthalben zu beobachtendes Phänomen wie die Unfruchtbarkeit wird beschwiegen, weil es zwar nicht erwünscht ist, sich aber aus einer genaueren Auseinandersetzung damit schwerwiegende Fragen und moralische Widersprüche ergeben würden. Nach meinem Dafürhalten unterstützt Viebigs Roman diese Deutung. Er warf fundamentale Fragen auf: Was bedeutete es für das Individuum – Mann oder Frau – sich fortzupflanzen? Wie war ein Leben über den eigenen Tod hinaus möglich? Verlor das Leben einer bürgerlichen Frau an Sinn, wenn sie keine Kinder bekam? Wurde der Sinn der Ehe durch die Kinderlosigkeit in Frage gestellt? Oder waren Kinder für eine glückliche Ehe eher hinderlich? Durften reiche Eltern Kinder adoptieren? Und entsprach dies den Interessen des Kindes oder war die Adoption nicht vielmehr als eine Form des Menschenhandels zu betrachten, musste sie schärfer kontrolliert und unter staatliche Aufsicht gebracht werden? Für Viebigs Romanfiguren war die Beschäftigung mit der eigenen Kinderlosigkeit und ihre Versuche, dieser Herr zu werden, eine überaus schmerzhafte Erfahrung. Für Leserinnen und Leser bot der Roman die Möglichkeit, sich umfassend mit der Bedeutung von Fortpflanzung und Kinderlosigkeit auseinander zu setzen. Vermutlich erklärt gerade dies seinen Erfolg.

Autorin:

Dr. Christina Benninghaus
Fakultät für Geschichtswissenschaft
Ruhr-Universität Bochum
44780 Bochum
christina.benninghaus@rub.de



[1] Für die kritische Lektüre einer früheren Fassung dieses Textes danke ich Dagmar Ellerbrock, Bettina Brockmeyer und Sandra Maß.

[2] Um festzustellen, welche Bücher am häufigsten gelesen wurden, unternahm die Berliner Zeitschrift “Das literarische Echo“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts alljährlich eine Befragung der wichtigsten Leihbibliotheken. Die Zeitschrift ging dabei von der Überlegung aus, dass “im Lande der Leihbibliotheken die Anzahl der Buchentleiher unverhältnismäßig größer war als die der Buchkäufer.“ Alberto Martino: Die Deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756-1914), Wiesbaden 1990, 452. Im Zeitraum Oktober 1905 bis September 1906 wurden 144 Leihbibliotheken befragt. Gemeinsam mit Boehmes “Tagebuch einer Verlorenen“ kam Clara Viebigs “Einer Mutter Sohn“ auf Platz zwei. Nur Gustav Frenssens bereits 1905 erschienenes „Hilligenlei“ wurde nach dieser Auszählung häufiger entliehen. Vgl. ebd., Tabelle 34, 510-523.

[3] Im Folgenden werde ich zwei Beispiele dafür geben, wie in Sachtexten auf das fiktive Schicksal der Schliebens Bezug genommen wurde. Vgl. H. Fehling: Ehe und Vererbung. Vortrag im Deutschen Frauenverein vom Roten Kreuz für die Kolonien Landesverein Württemberg am 30. November 1912 in Stuttgart, Stuttgart 1913, 26; Adele Schreiber: Von kinderlosen Müttern, Stief- und Adoptivmüttern, in: dies. (Hg.): Mutterschaft. Ein Sammelwerk für die Probleme des Weibes als Mutter, München 1912, 662-671.

[4] Die folgenden Überlegungen entstammen meinem Habilitationsprojekt. Sie können hier nur in skizzenhafter Form vorgestellt werden.

[5] Die große Bedeutung der Fortpflanzung wird in familienhistorischen Arbeiten vielfach erwähnt. Zur Wahrnehmung von Kinderlosigkeit im Mittelalter vgl. Claudia Opitz: Zwischen Fluch und Heiligkeit - kinderlose Frauen im späten Mittelalter, in: Barbara Neuwirth (Hg.): Frauen, die sich keine Kinder wünschen. Eine liebevolle Annäherung an die Kinderlosigkeit, Wien 1988, 78-120. Zur religiösen Wertschätzung von Fruchtbarkeit vgl. etwa Eckhard Struckmeier: “Vom Glauben der Kinder im Mutter-Leibe“. Eine historisch-anthropologische Untersuchung frühneuzeitlicher lutherischer Seelsorge und Frömmigkeit im Zusammenhang mit der Geburt, Frankfurt a.M. 2000, 17; Ulrike Gleixner: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit, Göttingen 2005. Besonders die Bedeutung von Kinderlosigkeit für Männer ist bisher wenig untersucht worden. Vgl. dazu jedoch seit kurzem Helen Berry / Elizabeth Foyser: Childless men in early modern England, in: dies. (Hg.): The family in early modern England, Cambridge 2008, 158-182. Zur Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert vgl. Margaret Marsh / Wanda Ronner: The Empty Cradle. Infertiltiy in America from Colonial Times to the Present, Baltimore 1996; Elaine Tyler May: Barren in the Promised Land. Childless Americans and the Pursuit of Happiness, Cambridge (Mass.) 1995; Eva Fleischer: Die Erfindung der Unfruchtbarkeit der Frau - Historische Voraussetzungen der heutigen 'Sterilitätstherapien', in: dies. / Ute Winkler (Hg.): Die kontrollierte Fruchtbarkeit: neue Beiträge gegen die Reproduktionsmedizin, Wien 1993, 23-48; Eva Fleischer: Die Frau ohne Schatten. Gynäkologische Diskurse zur Unfruchtbarkeit, Pfaffenweiler 1993.

[6] Vgl. allerdings Judith Uyterlinde: Eisprung. Eine Geschichte über die Liebe und den Wunsch nach einem Kind, München 2002. Soziologische, anthropologische und psychologische Studien zum heutigen Umgang mit Kinderlosigkeit zeigen, dass Betroffene häufig nur mit sehr wenigen Personen über ihre Erfahrung sprechen. Vgl. etwa Corinna Onnen-Isemann: Ungewollte Kinderlosigkeit und die Auswirkungen der Reproduktionsmedizin, in: Forum: Qualitative Sozialforschung 1 (2000), 1 . Einen guten Einstieg in die Ethnologie der Unfruchtbarkeit bieten Marcia C. Inhorn / Frank van Balen (Hg.): Infertility around the Globe. New Thinking on Childlessness, Gender, and Reproductive Technologies, Berkeley 2002.

[7] Eine bekannte Ausnahme stellt Adalbert Stifters Erzählung „Der Waldgänger“ von 1846 dar. Zu weiteren Titeln vgl. Urte Helduser: Unfruchtbarkeit, in: Bettina von Jagow / Florian Steger (Hg.): Literatur und Medizin. Ein Lexikon, Göttingen 2005, 819-823; Christian Lauritzen: Hätt' ich ein Kind... Kinderwunsch und Problemgeburten im Spiegel der Literatur, Ulm 1993; ders.: Sterilität, Sterilitätsbehandlung und Reproduktionsmedizin in der belletristischen Literatur, in: Reproduktionsmedizin 15 (1999), 240-248.

[8] Zur Darstellung von Unfruchtbarkeit in der Literatur der Moderne vgl. Urte Helduser: pater incertus. Zum Motiv von "Unfruchtbarkeit" in Theodor Fontanes Irrungen, Wirrungen, in: Tanja Nusser / Elisabeth Strowick (Hg.): Krankheit und Geschlecht. Diskursive Affären zwischen Literatur und Medizin, Würzburg 2002, 161-177; dies.: "Hoffnungslose Geschlechter". Unfruchtbarkeit als Pathologie der Moderne, in: Ursula Pasero / Anja Gottburgsen (Hg.): Wie natürlich ist Geschlecht? Gender und die Konstruktion von Natur und Technik, Wiesbaden 2002, 319-333.

[9] Signifikante Ausnahmen bilden beispielsweise die Autobiographien von Gervinus und Adelheid Sturm. Allerdings dient die Darstellung der Kinderlosigkeit in beiden Fällen dazu, nicht normkonformes Verhalten zu rechtfertigen. Georg Gottfried Gervinus: G. G. Gervinus Leben. Von ihm selbst. 1860, Leipzig 1893; Adelheid Sturm: Lebens-Erinnerungen einer Professorenfrau, Breslau 1911.

[10] Luc Boltanski: Soziologie der Abtreibung. Zur Lage des fötalen Lebens, Frankfurt a.M. 2007.

[11] Boltanski: Soziologie der Abtreibung (wie Anm. 10), 51f.

[12] Die für das 19. Jahrhundert festzustellende Idealisierung inniger familialer Beziehungen bedeutet im Umkehrschluss weder, dass Emotionen für Familienbindungen in früheren Jahrhunderten keine Rolle gespielt hätten, noch, dass finanzielle und familienpolitische Überlegungen im 19. Jahrhundert bei der Eheschließung nicht von Bedeutung gewesen wären. Zu den entsprechenden Debatten vgl. etwa Leonore Davidoff / Megan Doolittle / Janet Fink / Katherine Holden: The Family Story. Blood, Contract and Intimacy 1830-1960, London 1999; Rebekka Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750-1850), Göttingen 2000; Steven Ozment: Ancestors. The Loving Family in Old Europe, Cambridge (Mass.) 2001; Ann-Charlott Trepp: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996.

[13] Zum Wandel von Eheidealen vgl. Edeltraud Kapl-Blume: Liebe im Lexikon. Zur Semantik von Liebe, Ehe und Sexualität in Nachschlagewerken des 18. und 19. Jahrhunderts, Bielefeld 1985; Caroline Arni: Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900, Köln 2004.

[14] Viviana Zelizer: Pricing the Priceless Child: The Changing Social Value of Children, New York 1985

[15] Der Geburtenrückgang der Jahrhundertwende war auch mit vermehrter Kinderlosigkeit verbunden. Eine während des Ersten Weltkriegs durchgeführte Befragung zeigte, dass die Vision einer bewusst kinderlosen, modernen Ehe auch bei einfachen Leuten vorkam. Vgl. Max Marcuse: Der Eheliche Präventivverkehr, seine Verbreitung, Verursachung und Methodik. Dargestellt und beleuchtet an 300 Ehen, Stuttgart 1917. Für eine literarische Darstellung gewollter Kinderlosigkeit in der Ehe vgl. den unter dem Pseudonym “Dolorosa“ veröffentlichten, recht erfolgreichen Roman von Maria Eichhorn-Fischer: Unfruchtbarkeit, Leipzig 1905.

[16] Zur Entwicklung der Romanlektüre und des Buchmarktes vgl. Monika Estermann / Stephan Füssel: Belletristische Verlage, in: Georg Jäger (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Das Kaiserreich, Teil 2, Frankfurt a.M. 2003, 164-299; Barbara Kastner: Statistik und Topographie des Verlagswesens, in: Georg Jäger (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Das Kaiserreich, Teil 2, Frankfurt a. M. 2003, 300-367.

[17] Vgl. Norbert Bachleitner: Kleine Geschichte des deutschen Feuilletonromans, Tübingen 1999.

[18] Zum Bildungsanspruch der Leihbibliotheken vgl. Dieter Langewiesche: Welche Wissensbestände vermittelten Volksbibliotheken und Volksschulen im späten Kaiserreich?, in: Lothar Gall / Andreas Schulz (Hg.): Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2003, 213-241.

[19] Peter Gay: Die Macht des Herzens. Das 19. Jahrhundert und die Erforschung des Ich, München 1997, 282f.

[20] Winfried Fluk: Das kulturelle Imaginäre. Eine Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans, 1790-1900, Frankfurt a.M. 1997, 27.

[21] Zur Verarbeitung Darwinscher Vorstellungen in der Literatur des späten 19. und des 20. Jahrhunderts vgl. Peter Sprengel: Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Würzburg 1998. Laut Sprengel hat der NS zu einer weitgehenden Tabuisierung des gesamten Paradigmas des Darwinismus in Deutschland geführt, weshalb sich die Germanistik bis in die 1990er Jahre nur wenig mit “den vielfältigen und gewichtigen Reflexen des darwinistischen Diskurses in der Literatur“ beschäftigt habe. Vgl. ebd., 9 Zu Clara Viebig und ihrer an Zola ausgerichteten Darstellung der Sexualität und der Determiniertheit des Menschen vgl. ebd., 17.

In den letzten Jahren hat sich die Literaturwissenschaft dem Zusammenhang zwischen Naturwissenschaften und Literatur allerdings weitaus intensiver zugewandt. Für den hier interessierenden Zusammenhang der Vererbung und Fortpflanzung siehe Sigrid Weigel / Ohad Parnes / Ulrike Vedder / Stefan Willer: Generation. Zur Genealogie des Konzepts - Konzepte von Genealogie, München 2005; Sigrid Weigel: Genealogie und Genetik. Schnittstellen zwischen Biologie und Kulturgeschichte, Berlin 2002; Ohad Parnes / Ulrike Vedder / Stefan Willer: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a. M. 2008.

Zum Verhältnis von Literatur und Naturwissenschaften allg. vgl. Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 28 (2003), 1, 181-230; Marcus Krause / Nicolas Pethes: Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg 2005. “Anstatt also wissenschaftliche Aussagen bloß zu adaptieren, vermag Literatur alternative und zukünftige Möglichkeiten dieses Wissens durchzuspielen bzw. vergangene zu bewahren. Sie aktualisiert in diesem Fall diejenigen Potentialitäten, die realiter latent geblieben sind, und sie muß diese Funktion um so mehr erfüllen, wenn die Kompetenzen der Realitätsverwaltung so genau verteilt sind, wie in der vollständig ausdifferenzierten Gesellschaft der Moderne.“ (Marcus Krause / Nicolas Pethes: Zwischen Erfahrung und Möglichkeit. Literarische Experimentalkulturen im 19. Jahrhundert, in: Marcus Krause / Nicolas Pethes (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg 2005, 7-18, 15.)

Das besondere Interesse der Wissenschaftsgeschichte an den experimentellen Formen der Erzeugung von Wissen hat in den letzten Jahren auf die Literaturwissenschaft abgefärbt und zu einer vermehrten Aufmerksamkeit für “Gedankenexperimente“ geführt. Vgl. Thomas Macho / Annette Wuschel: Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, Frankfurt a.M. 2004; Nicolas Pethes / Silke Schicktanz: Sexualität als Experiment. Identität, Lust und Reproduktion zwischen Science und Fiction, Frankfurt a. M. 2008.

[22] Die Popularisierung des neuen naturwissenschaftlichen Wissens fand auf breiter Basis statt. Vgl. Angela Schwarz: Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870-1914), Stuttgart 1999; Andreas W. Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848-1918, München 1998.

[23] So in Gerhard Hauptmanns “Vor Sonnenaufgang“ von 1889.

[24] Zur Rezeption von Evolutionstheorien vgl. Eve-Marie Engels: Biologische Ideen von Evolution im 19. Jahrhundert und ihre Leitfunktion. Eine Einleitung in: dies. (Hg.): Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1995, 13-66; dies.: Darwins Popularität im Deutschland des 19. Jahrhunderts: Die Herausbildung der Biologie als Leitwissenschaft, in: Achim Barsch / Peter M. Hejl (Hg.): Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850-1914), Frankfurt a.M. 2000, 91-145. Zur keineswegs eindimensionalen Geschichte des Denkens in Kategorien der Vererbung vgl. Staffan Müller-Wille / Hans-Jörg Rheinberger (Hg.): Heredity Produced. At the Crossroads of Biology, Politcs, and Culture, 1500-1870, Cambridge 2007.

[25] Werner Michler: Darwinismus und Literatur. Naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich, 1859-1914, Wien 1999, 205. Vgl. auch Ulrike Vedder: Natur und Unnatur: Die Familie als literarischer Schauplatz der Generationen im 19. Jahrhundert in: Ohad Parnes / Ulrike Vedder / Stefan Willer (Hg.): Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. 2008, 150-187, hier: 174-187.

[26] H. Fehling: Ehe und Vererbung. Vortrag im Deutschen Frauenverein vom Roten Kreuz für die Kolonien Landesverein Württemberg am 30. November 1912 in Stuttgart, Stuttgart 1913, 26.

[27] Fehling: Ehe und Vererbung (wie Anm. 26), 26.

[28] Die “Verlagsbuchhandlung Egon Fleischel & Co“ war 1903 von Fritz Cohn und Egon Fleischel, beide zuvor Teilhaber des Friedrich Fontane Verlags, in dem Viebigs erste Bücher erschienen, gegründet worden. Zur Geschichte des Ehepaars Cohn-Viebig und zur Verlagsgeschichte vgl. Carola Stern: Kommen Sie, Cohn! Friedrich Cohn und Clara Viebig, Köln 2006.

In der literaturwissenschaftlichen Forschung hat der Roman “Einer Mutter Sohn“ bisher nur wenig Aufmerksamkeit gefunden. Vgl. zuletzt jedoch: Stephanie Günther: Weiblichkeitsentwürfe des Fin de Siècle. Berliner Autorinnen. Alice Berend, Margarete Böhme, Clara Viebig, Bonn 2007, hier besonders 283-294; Mary Wexler Klei: Clara Viebigs Eifel Works, 1897-1925: An Evaluation of Their View of Society, Diss. University of Cincinnati 1988.

[29] Michel Durand hat 27 Rezensionen des Romans nachgewiesen, die in Tageszeitungen und Zeitschriften erschienen. Vgl. Michel Durand: Les Romans Berlinois de Clara Viebig (1860-1952). Contribution à l’étude du naturalisme tardif en Allemagne, Berne 1993, 371. 20 davon konnte ich für die vorliegende Analyse beschaffen und auswerten.

[30] Laut „Gesamtverzeichnis der deutschsprachigen Literatur“ waren Ende der 1920er Jahre über 50.000 Exemplare des Romans verkauft. Zu diesem Zeitpunkt waren vier verschiedene Ausgaben des Romans im Buchhandel erhältlich. Im Vergleich zu den anderen Romanen Clara Viebigs waren diese Ausgaben deutlich preiswerter.

[31] Clara Viebig hat keine Autobiographie hinterlassen. Vgl. allerdings Clara Viebig: Mein Leben. Autobiographische Skizzen. Hrsg. von Christel Aretz, Hontheim 2002.

[32] Clara Viebig: Das Kind, in: Anna Charlotte Lindemann (Hg.): Frauen schreiben. 12 Novellen deutscher Erzählerinnen, Berlin 1932, 199-232.

[33] Einer der Rezensenten von “Einer Mutter Sohn“ urteilte: “Klara Viebig ist vielleicht die reinste Naturalistin Zolascher Art, die wir in Deutschland haben.“ O.A., Rezension, in: Der Türmer, Juni 1907, 415f. Vgl. auch Günther: Weiblichkeitsentwürfe (wie Anm. 28), 285.

[34] Zu Viebigs Kontakten zu anderen naturalistischen Autoren vgl. Barbara Krauß-Theim: Naturalismus und Heimatkunst bei Clara Viebig. Darwinistisch-evolutionäre Naturvorstellungen und ihre ästhetischen Reaktionsformen, Frankfurt a.M. 1992, 122-127. Zur Freien Volksbühne/Neuen Freien Volksbühne vgl. Wolfgang Bunzel: Einführung in die Literatur des Naturalismus, Darmstadt 2008, 56f.

[35] Clara Viebig: Wie ich Schriftstellerin wurde, in: Almanach von Velhagen & Klasings Monatsheften (1908), 24-39, 37f.

[36] Zu dieser Frage vgl. Krauß-Theim: Naturalismus und Heimatkunst (wie Anm. 34).

[37] Wilhelm Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik, neu herausgegeben von Johannes J. Braakenburg, Tübingen 1976, 8.

[38] Clara Viebig: Einer Mutter Sohn, Berlin 1906, 29f.

[39] Vgl. etwa die Figur des Osvald Alving in Ibsens “Gespenster“, des Doktor Ranks in “Ein Puppenheim (Nora)“ oder die des Hanno in “Buddenbrooks“. Zur Darstellung der Degeneration in Romanen von Eugenie Marlitt vgl. Achim Barsch: Massenmediale Unterhaltungsliteratur und soziale Wirklichkeitskonstruktion: Zum Menschenbild in der Gartenlaube am Beispiel der Romane von E. Marlitt, in: ders. / Peter M. Hejl (Hg.): Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850-1914), Frankfurt a.M. 2000, 376-422.

[40] Viebig: Einer Mutter Sohn, (wie Anm. 38), 32.

[41] Viebig: Einer Mutter Sohn, (wie Anm. 38), 189.

[42] Viebig: Einer Mutter Sohn, (wie Anm. 38), 49.

[43] Viebig: Einer Mutter Sohn, (wie Anm. 38), 242.

[44] “Mit glänzender Beredsamkeit führt die Verfasserin dieses Romans ihr Plaidoyer zu Ende. Alles, auch das Geringste, muß zum Beweis des Dogmas dienen: die Mächte des Blutes sind unüberwindlich. (...) Fast zur Pedanterie scheint hier der Schematismus der Verfasserin zu erstarren. Sie hört auf zu überzeugen, weil sie zuviel beweisen will.“ Vgl. Monty Jacobs: Ein neuer Roman von Clara Viebig, in: Berliner Tageblatt, 179, 7. April 1906, 1. Beiblatt.; “Man sieht, das Buch ist um die These von der Allmacht des Blutes und der Abstammung geschrieben. (...) Die extreme Formulierung des Problems verstimmt, weil man die Absicht zu deutlich fühlt. (...) Es wird nicht um Menschen gehandelt, sondern um eine Doktrin.“ Vgl. Theodor Heuß: Clara Viebigs Erziehungsroman, in: Die Hilfe 18, 1906, 10-11, hier: 11.

[45] A[rthur] E[loesser]: Ein neuer Roman von Clara Viebig, in: Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen = Vossische Zeitung 178, 18. April 1906.

[46] W. Lennemann: Einer Mutter Sohn, in: Der Alte Glaube (Literarische Beilage) 7, 1906, 1189-94, hier: 1192.

[47] “Um zu überzeugen, braucht der Wissenschaftler Daten (...), aber auch jemanden, der sich überzeugen ließe.“ Vgl. Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zu Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2002, 123.

[48] E[loesser]: Ein neuer Roman von Clara Viebig (wie Anm. 45).

[49] Eugen Kalkschmidt: “Einer Mutter Sohn“, in: Der Kunstwart 19, 2., April-September 1906, 199-201, hier: 201.

[50] Monty Jacobs: Ein neuer Roman von Clara Viebig (wie Anm. 44).

[51] “Als eine kleine Übertreibung habe ich den Zug des Knaben zur katholischen Kirche empfunden. So weit geht die Vererbung doch gewiß nicht“, hieß es beispielsweise in einer insgesamt positiven Rezension. Vgl. Th. H. Panthenius: Rezension, in: Daheim LXIII (1906), 33, 17.

[52] Viebig: Einer Mutter Sohn (wie Anm. 38), 6.

[53] Viebig: Einer Mutter Sohn (wie Anm. 38), 8.

[54] Viebig: Einer Mutter Sohn (wie Anm. 38), 5.

[55] Viebig: Einer Mutter Sohn (wie Anm. 38), 7.

[56] Viebig: Einer Mutter Sohn (wie Anm. 38), 8f.

[57] Viebig: Einer Mutter Sohn (wie Anm. 38), 10f.5.c.

[58] Viebig: Einer Mutter Sohn (wie Anm. 38), 12.

[59] E[loesser]: Ein neuer Roman von Clara Viebig (wie Anm. 45), 425.

[60] Der Roman lässt die Frage, ob die Kinderlosigkeit der Ehe wohl eher durch Käte oder eher durch Paul verursacht sei, außen vor. Die Umwelt des Paares geht davon aus, dass die Ursache bei Käte zu suchen sei und dass es sich bei Wolfgang um einen außerehelich gezeugten Sohn Schliebens handelt. Zu zeitgenössischen medizinischen Vorstellungen und zur Frage der männlichen Sterilität vgl. 36f.

[61] Agnes von Zahn-Harnack: Die Frauenbewegung, Berlin 1929, 166, hier zitiert nach Christoph Sachße: Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871-1929, Frankfurt a.M. 1986, 109.

[62] Vgl. etwa Alice Salomon: Zur Eröffnung der Sozialen Frauenschule, in: Die Frau 16 (1908), 103-107, hier zitiert nach Sachße: Mütterlichkeit (wie Anm. 61), 142: “Gesegnet ist der, der seine Arbeit gefunden hat. (...) Arbeit, das heißt nicht Beschäftigung, nicht Zeitvertreib, sondern eine Tätigkeit, die nicht nur Ihre Zeit, sondern auch Ihre Gedanken, Ihr Interesse in Anspruch nimmt. (...) Nicht eine Arbeit, die man nur als Mühe empfindet, sondern eine Tätigkeit, bei der eine jede ihre individuellen Kräfte nutzen kann, bei der eine jede das Gefühl hat, daß sie gerade für diese Arbeit geboren und bestimmt ist.“

[63] Viebig: Einer Mutter Sohn (wie Anm. 38), 123f.

[64] Viebig: Einer Mutter Sohn (wie Anm. 38), 159, 161.

[65] G. C. Dieffenbach: Ein Hochzeitsstrauss. Aus Gottes Garten und von den Wiesen der Welt, 2. Aufl., Gotha 1876, 237; wortgleich auch in der 5. Aufl. von 1888, 268.

[66] Emmy Giehrl: Das Reich der Frau oder: Leben und Wirken der christlichen Frau im Ehestande, Donauwörth 1902, 335.

[67] Leopold Loewenfeld: Über das Eheliche Glück. Erfahrungen, Reflexionen und Ratschläge eines Arztes, 1912, 303 und 308f.

[68] Viebig: Einer Mutter Sohn (wie Anm. 38), 315.

[69] Paul A. Kleimann: Das Problem der Adoption, in: Hamburger Nachrichten Nr. 297, 28. April 1906.

[70] Diese Summe entsprach Mitte der 1880er Jahre – also zu der Zeit, in der die Handlung spielte – etwa dem durchschnittlichen Jahresverdienst eines Industriearbeiters. Vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Band 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, 304.

[71] Viebig: Einer Mutter Sohn (wie Anm. 38), 39f.

[72] Viebig: Einer Mutter Sohn (wie Anm. 38), 40.

[73] Viebig: Einer Mutter Sohn (wie Anm. 38), 41.

[74] Vgl. etwa M. E.: Das Problem der Mütterlichkeit, in: Hochland 3, 1906, 2, 370-372; Heinrich Spiero: Neue deutsche Romane, in: Die Grenzboten, 1906, 207-213, hier: 210; Georg Wasner: Klara Viebig und ihr neuester Roman, in: Tägliche Rundschau (Berlin), Unterhaltungsbeilage Nr. 107, 8. 5. 1906, 427.

[75] Leider liegen bisher kaum historische Studien zur Geschichte der Adoption vor. Zur Entwicklung des gesetzlichen Rahmens und der wohlfahrtsstaatlichen Kontrolle in der Zwischenkriegszeit vgl. Michelle Mouton: Rescuing Children and Policing Families: Adoption Policy in Weimar and Nazi Germany, in: Central European History 38 (2005), 4, 545-571. Zur Entwicklung in den USA vgl. Julie Berebitsky: Like Our Very Own. Adoption and the Changing Culture of Motherhood, 1851-1950, Lawrence (Kansas) 2000.

[76] Das BGB setzte in §1603 die Altersgrenze für die Annahme an Kindesstatt auf 50 Jahre fest. Je nach Rechtslage in den unterschiedlichen Ländern entsprach dies einer Senkung der Altersgrenze von 60 auf 50 Jahre oder einer Beibehaltung der üblichen Altersgrenze. Das BGB hielt damit weiterhin an dem Grundsatz fest, dass “die Annahme an Kinderstatt nur ein subsidiäres Mittel sein soll, ein Eltern- und Kindesverhältnis zu begründen. Solange dieser Zweck noch auf dem Wege der ehelichen Zeugung erreicht werden kann, liegt nicht nur kein Bedürfnis für die Annahme an Kindesstatt vor, sondern ist auch deren Nichtzulassung im Interesse der Beförderung der Ehen rathsam.“ Es bestand allerdings die Möglichkeit einer Dispensation, wenn die Ehe bereits zehn Jahre kinderlos war und keine Kinder mehr zu erwarten waren. Vgl. Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich. Band IV.: Familienrecht, Berlin und Leipzig 1888, 951-1001, hier: 960.

[77] In der Begründung des Entwurfs des BGB wurden diese an erster Stelle genannt: “Die Annahme an Kindesstatt ist namentlich für wohlhabende, edeldenkende Personen, welche in kinderloser Ehe leben, ein erwünschtes Mittel, diesen Mangel zu ersetzen.“ Erst in den nachfolgenden Sätzen war auch von den zu Adoptierenden die Rede: “Wird dadurch auf der einen Seite Gelegenheit geboten, insbesondere mittellosen, aber von Natur begabten Kindern eine große Wohlthat in materieller, wie in geistiger Beziehung zu erweisen und dazu beizutragen, die natürlichen Anlagen derselben zum Besten der Gesellschaft zu vollkommener Entwicklung zu bringen, so wird auf der anderen Seite durch die Annahme von Kindern sehr häufig ein tief empfundenes geistiges Bedürfnis der Adoptiveltern befriedigt und das Glück ihrer Ehe befestigt.“ Vgl. Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich. Band IV.: Familienrecht, Berlin und Leipzig 1888, 951-1001, hier: 952.

[78] Zur Lage lediger Mütter um 1900 vgl. Sybille Buske: Fräulein Mutter und ihr Bastard. Eine Geschichte der Unehelichkeit in Deutschland, 1900-1970, Göttingen 2004, 31-88. Zur vergleichsweise milden, mit dem Verweis auf die große Schande der unehelichen Mutterschaft begründeten strafrechtlichen Behandlung der Kindestötung durch ledige Mütter vgl. Andrea Czelk: “Privilegierung“ und Vorurteil. Positionen der Bürgerlichen Frauenbewegung zum Unehelichenrecht und zur Kindstötung im Kaiserreich, Köln 2005. Zur fortgesetzten Diskriminierung lediger Mütter auch im Arbeitermilieu vgl. Stefan Bajohr: Lass dich nicht mit Bengels ein! Sexualität, Geburtenregelung und Geschlechtsmoral im Braunschweiger Arbeitermilieu 1900-1933, Essen 2001, 83-92.

[79] Arendt war von 1903 bis 1908 Polizeiassistentin in Stuttgart. Sie veröffentlichte 1911 ihre Anklageschrift “Kleine weiße Sklaven“, in der sie die verbrecherischen Praktiken von Adoptionsvermittlern minutiös nachzeichnete. Zur Person Henriette Arndts und zu ihrer Tätigkeit als erster Polizeiassistentin Stuttgarts vgl. Heike Maier: “Taktlos, unweiblich und preußisch“. Henriette Arendt, die erste Polizeiassistentin Stuttgarts (1903-1908) – eine Mikrostudie, Stuttgart1998.

[80] Schreiber: Von kinderlosen Müttern (wie Anm. 3).

[81] Schreiber: Von kinderlosen Müttern (wie Anm. 3), 667.

[82] Panthenius: Rezension (wie Anm. 51), 17.

[83] Vgl. Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen, Berlin 1887/88; Theodor Fontane: Effi Briest, Berlin 1894/95.

[84] Meyers Konversationslexikon von 1885 ließ keinen Zweifel daran, dass es sich bei Unfruchtbarkeit um ein medizinisch diagnostizier- und behandelbares Problem handelte: “Unfruchtbarkeit (Sterilität), die beim Weib vorkommende Unfähigkeit, Kinder zu gebären. Die Ursachen sind entweder in mangelhafter Bildung der Eier infolge fehlerhafter Anlage, hohen Alters oder Erkrankung der Eierstöcke zu suchen, oder in krankhafter Beschaffenheit der Eileiter, oder vor allem in chronisch entzündlichen Veränderungen, Verlagerung oder Knickungen der Gebärmutter (s. Zeugungsvermögen). Die erste Gruppe von Fällen ist unheilbar, was besonders von gerichtlich-medizinischer Bedeutung ist, die zweite Gruppe ist das wesentliche Feld der Thätigkeit für die Frauenärzte und bietet namentlich bei chirurgischer Behandlung oft glänzende Erfolge. Vgl. Beigel, Pathologische Anatomie der weiblichen U. (Braunschw. 1878); Mayrhofer, Sterilität etc. (Stuttg. 1878-82); Duncan, Sterilität bei Frauen (deutsch von Hahn, Berl. 1884); P. Müller, Die U. der Ehe (Stuttg. 1885); Kisch, Die Sterilität des Weibes (Wien 1886).“

Zur zeitgleich aufkommenden Aufmerksamkeit für männliche Sterilität vgl. Christina Benninghaus: “Leider hat der Beteiligte fast niemals eine Ahnung davon ...“ – Männliche Unfruchtbarkeit 1880-1900, in: Martin Dinges (Hg.): Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel, ca. 1800- ca. 2000, Stuttgart 2007, 139-156.

[85] Viebig: Einer Mutter Sohn (wie Anm. 38), 19f.

Empfohlene Zitierweise:

Christina Benninghaus : Brennende Sehnsüchte, heimliche Ängste – Kinderlosigkeit, Vererbung und Adoption im naturalistischen Roman um 1900 , in: zeitenblicke 7, Nr. 3, [2008], URL: https://www.zeitenblicke.de/2008/3/benninghaus/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-16388

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