Der Schrecken wohnt im Schönen:
Darstellung devianter Sexualität in den Aufklärungsfilmen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten der 1920er-Jahre
urn:nbn:de:0009-9-16249
Zusammenfassung
Als nach Ende des Ersten Weltkrieges eine epidemische Verbreitung der Geschlechtskrankheiten drohte, suchten die Mediziner die Gefahr durch eine systematische Aufklärung weiter Bevölkerungskreise zu bannen. Erklärtes Ziel der Ärzte war es, die Menschen objektiv und wissenschaftlich genau zu belehren und dadurch die Geschlechtskrankheiten von ihrer Stigmatisierung zu befreien. Filme spielten bei der Vermittlung der Kenntnisse eine zentrale Rolle. Sie hatten eine zweifache Aufgabe zu erfüllen: Über die handelnden Figuren sollte dem Zuschauer medizinisch-wissenschaftliches Wissen vermittelt werden. Zugleich sollten diese zu einem angemessenen sexuellen Verhalten animieren. Letzteres versuchte man in den Filmen über fiktionale Episoden zu erreichen, die erzieherisch wirken sollten. Doch gerade diesbezüglich griffen die Filmemacher auf frühere Konzepte der sittlich-moralischen Bekämpfungsstrategien zurück. Vor allem im Dispositiv der Infektion zeigt sich, dass Darstellung und Rezeption tradierten Mustern folgten. Der vorliegende Aufsatz konzentriert sich daher auf die mediale Inszenierung der Ansteckung. Wie gezeigt werden soll, war diese ganz eng an die Darstellung der Frauenfiguren geknüpft, die eine Schlüsselrolle bei der Übertragung der Krankheit spielten.<1>
Beim zweiten internationalen Kongress zur Bekämpfung der Syphilis und der venerischen Krankheiten in Brüssel 1902 kündigte sich ein Paradigmenwechsel an. Bis dahin hatten die Sittlichkeitsvereine mit ihren Moralvorstellungen und Werthaltungen die Präventionspolitik gegenüber Geschlechtskrankheiten dominiert; nun setzten sich vermehrt die Mediziner durch. [1] Erstere sahen in der Prostitution die eigentliche Ursache der Geschlechtskrankheiten und in der Bekämpfung oder zumindest Reglementierung der Dirnen das geeignete Mittel, um die Krankheiten einzudämmen. Dagegen waren die Mediziner überzeugt, sie könnten die Geschlechtskrankheiten effektiv bekämpfen, wenn diese von ihren moralischen Konnotationen befreit und als Krankheiten wie jede andere dargestellt würden. Im Umfeld des Kongresses wurden in Frankreich und Deutschland nationale Gesellschaften zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten gegründet. Ihr Ziel war es, das Thema fern ab von jeder moralischen Diffamierung früherer Bekämpfungsmaßnahmen dem interessierten Laienpublikum auf ‘rationaler’, will sagen wissenschaftlicher Ebene näherzubringen.
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Der Erste Weltkrieg hatte das Problem verschärft. Während des Krieges waren die Ansteckungszahlen in den Armeen gestiegen, sodass die Dermatologen befürchteten, die heimkehrenden, geschlechtskranken Soldaten könnten nach der Demobilisierung ihre Frauen und ihre Nachkommen anstecken. In einigen europäischen Ländern, vorab in Deutschland und Frankreich aber auch in der Schweiz, warnten besorgte Ärzte vor einer epidemischen „Durchseuchung“. [2] Diese Situation rückte die Familie als Ort der Infektion in den Blickpunkt. So begründete der französische Arzt Alfred Fournier den Bevölkerungsrückgang in Frankreich mit der Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten in den Familien. [3] Epidemisch war auch die Angst vor Ansteckung, und so sorgte diese Einstellung für eine beispiellose Intensivierung der Aufklärungsmaßnahmen nach dem Krieg. Mithilfe von Flugblättern, Broschüren, Vorträgen, Gesundheitswochen und Theaterstücken wurden die Menschen über die Geschlechtskrankheiten informiert. Die hier untersuchten Aufklärungsfilme waren Teil dieser gesundheitspolitischen Maßnahmen, die vor allem in den 1920er-Jahren den einzelnen Bürger zu einem überlegten Umgang mit dem eigenen Körper animieren sollten. Dazu zählten auch Putzanleitungen gegen den Staub, [4] Hygieneregeln im Umgang mit Tuberkulosepatienten [5] oder die Propagierung von Körper- und Bewegungskultur wie im Film “Wege zu Kraft und Schönheit“ von Wilhelm Prager (Deutschland 1925). [6] All diese Bemühungen geben nicht nur Auskunft über das damalige medizinische Wissen über Geschlechtskrankheiten, sie offenbaren auch zeitgenössische Haltungen, Auffassungen und Wertmaßstäbe zur Sexualität. Sie waren somit Teil des Diskurses über die Ursachen und Gefahren der venerischen Krankheiten und führten diesen zugleich fort, indem sie (popularisierte) Ansichten etwa hinsichtlich der Infizierung festschrieben und weiterverbreiteten.
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Bis Anfang der 1930er-Jahre wurde eine ganze Reihe von Aufklärungsfilmen vorwiegend in Deutschland und Frankreich produziert, die international zirkulierten. Der bekannteste Schweizer Beitrag war die Kinoproduktion “Feind im Blut“, ein von der Züricher Praesens Film 1931 hergestellter Film. Mit Blick auf die internationale Distribution und Koproduktion der Aufklärungsfilme beinhaltet mein Filmkorpus Titel aus diesen drei Ländern, die in Archiven erhalten und für die Visionierung zugänglich sind, darunter der französische Titel “Le baiser qui tue“, 1928 unter der Regie des Genfers Jean Choux entstanden. Die schweizerische Aufklärungstätigkeit orientierte sich allerdings vorwiegend an deutschen Konzepten und war bis 1931 stark beeinflusst von Produktionen wie beispielsweise “Falsche Scham“ (Rudolf Biebrach, Deutschland 1926) oder “Geissel der Menschheit“ (Curt Thomalla, Deutschland 1926). Letztere erwarb die Schweizerische Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (SGBG) von der deutschen Universum Film-Gesellschaft (Ufa), ließ die Kopie auf schweizerische Verhältnisse zuschneiden und änderte den Titel in “Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“.
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Typisch für die Aufklärungsfilme ist die Zusammenarbeit zwischen Medizinern und Filmemachern. Während die Regisseure für die filmästhetische und effektvolle Übersetzung medizinischer Inhalte in den Film zuständig waren, garantierten die Ärzte deren Wahrheitsgehalt und die wissenschaftliche Objektivität. Als einer der ersten zog der Filmemacher Richard Oswald den Dermatologen und damaligen Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (DGBG), Alfred Blaschko, als Berater für den ersten Teil von “Es werde Licht“ (Deutschland 1917) hinzu. Oswald, der Spielfilme für das große Publikum realisierte, wagte sich mit dem Film auf ein neues Terrain, indem er ein “brandaktuelles Thema“ in eine Spielhandlung verpackte. [7] Das exakte Gegenteil eines aufklärerischen Sensationsfilms stellt der Aufklärungs-Lehrfilm “Geschlechtskrankheiten und ihre Folgen“ der beiden Ärzte Nicholas Kaufmann und Curt Thomalla dar. Thomalla war Leiter des medizinischen Archivs der Ufa und in dieser Funktion für die Herstellung medizinischer Wissenschaftsfilme verantwortlich. Ihm kommt das Verdienst zu, medizinisch-wissenschaftliche Forschungsergebnisse popularisiert und so für ein breites Publikum zugänglich gemacht zu haben. In den 1920er Jahren entwickelte er den “dramatischen Typus“, indem er, ähnlich wie Oswald, die medizinische Aufklärung in eine melodramatische Handlung eingebettete. [8] Auch in Frankreich entstanden die Aufklärungsfilme in enger Kooperation zwischen Filmemachern und Medizinern. Zu nennen sind hier die Ärzte Jean Commandon, der mit “Spirochaeta pallida“ 1908 den ersten Film dieser Art lieferte, Laurent Leredde oder Louis Devraigne. Devraigne realisierte mit dem Lehrfilmer Jean Benoît-Lévy “Il était une fois trois amis“ (Frankreich 1927), der zum “dramatischen Typus“ gezählt werden kann.
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So sehr die Mediziner in der Vermittlung der medizinischen Kenntnisse auf wissenschaftliche Methoden und Darstellungsweisen zurückgriffen, in Bezug auf die intendierten sexuellen Verhaltensänderungen blieben sie dem intellektuellen Klima ihrer Zeit verhaftet und setzten auch weiterhin auf die moralischen Argumente der Sittlichkeitsvereine. [9] Obwohl Mediziner wie Alfred Fournier oder Albert Neisser darauf hinwiesen, dass es vielfach der Mann war, der seine Frau ansteckte und so die Familie zum Ort der Infektion machte [10], wurden in den Filmen die Prostituierten, zu ihnen zählten implizit auch die Kellnerinnen, als alleinige Ursache der Ansteckung angeführt. Nur am Rande wurde erwähnt, dass Geschlechtskrankheiten auch durch Stillen, gemeinsam genutztes Geschirr oder gemeinsames Essen übertragen werden können. Eine Ausnahme bildet „Falsche Scham“, [11] wo der Übertragung durch die Amme eine ganze Episode gewidmet ist. In allen anderen Kopien steht immer eine Dirne am Anfang der Übertragungskette, wodurch sie zur alleinigen ‘Sünderin’ gestempelt wurde. Wie nun den Zuschauern Kenntnisse über Ursachen und Folgen der Infizierung präsentiert wurden, möchte ich anhand der Ansteckungsszenen genauer nachzeichnen. Welche Informationen wurden dem Zuschauer geboten und welche Lektüremodi angetragen? Im Folgenden konzentriere ich mich daher auf die Filme mit Spielhandlung, in denen die Verführungsszenen ausgestaltet sind, darunter “Le baiser qui tue“ und “Feind im Blut“.
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Wie sind die Geschlechtskrankheiten dargestellt? Welche Ursachen werden angeführt? Gibt es ein Figurenverhalten, dass der Ansteckung förderlich ist? Bevor diese Fragen behandelt werden, muss an Ramón Reicherts Feststellung erinnert werden, dass filmische Praktiken die Herstellung von Wissen nicht nur beeinflussen, sondern konstitutiv bedingen. [12] Als Filmhistoriker betont er den transdisziplinären Forschungsansatz der Filmwissenschaft, die unterschiedliche Parameter wie Kamera- und Lichtführung und Mise en Scène in die Filmanalyse miteinbezieht. [13] Dies begründet sich aus dem Umstand, dass der Sinn eines Filmes nicht allein aus Figurenverhalten oder Handlungskette eruiert werden kann. Mindestens ebenso wichtig ist die Art, wie das filmische Ensemble ins Bild gesetzt ist. So tragen filmtechnische und –ästhetische Mittel wie Beleuchtung, Rahmung oder Montage zur Bedeutungskonstruktion bei. Mittel, die nicht immer bewusst, jedoch im Perzeptionsprozess sehr wohl wahrgenommen werden. [14]
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Drei Aspekte stehen im Folgenden im Vordergrund: die mediale Inszenierung der Ansteckung, die Darstellung der Frauenfiguren sowie die Übertragungswege der Krankheit. Dabei liegt der Fokus, wie gesagt, auf der filmästhetischen Gestaltung. Ausgehend von einer Verführungssituation, die als Initiationsmoment der Ansteckung dargestellt ist, infizieren die Krankheitskeime zuerst den Mann, dann die Frau, bis sie schließlich in den körperlichen Deformationen der Neugeborenen ihren offenen Ausdruck finden. Das Moment dieser „Fort-Pflanzung“ wird den Frauenfiguren zugeschrieben. Dabei ist die Verführung als filmästhetischer Genuss aufgebaut, dem dissonante ‘Töne’ beigemischt sind. Der Wechsel von Anziehung und Zurückstoßung, so meine These, ist sowohl auf der filmästhetischen Gestaltungs- wie auf der Figurenebene realisiert. Ähnlich verhält es sich mit der Figur der begehrenswerten Frau. Erscheint diese zuerst in ‘verklärendem’ Licht, so entblößt eine zweite Einstellung ihr ‘wahres Gesicht’. Die Inszenierung lässt die weibliche Sexualität suspekt und die Fortpflanzung als höchst gefährdet erscheinen.
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Die Kinematographie ist eine Erfindung der wissenschaftlichen Forschung und erst in zweiter Linie Medium der Unterhaltung. Daher suchten schon in den frühen 1910er-Jahren aufgeschlossene, meist pädagogisch orientierte Kreise, den Film für Schule und Volksbelehrung zu nutzen. Sie schlossen sich in der Kinoreformbewegung zusammen, um gegen den fiktionalen Film, den sie als volksverderbend erachteten, zu kämpfen. Federführend hierbei war der Hamburger Jurist Albert Hellwig, der den Begriff “Schundfilm“ prägte und die Lichtspieltheater als “Schulen des Verbrechens“ bezeichnete. [15] Gleichzeitig gab es andere Reformer, die die Wirkungsmacht der bewegten, bevorzugt dokumentarischen Bilder lobten. Für den deutschen Theologen Adolf Sellmann war es beispielsweise die Suggestionskraft des Filmes, die ihn zum didaktischen Mittel prädestinierte. Mit gebündelter Aufmerksamkeit würden die Zuschauer in die filmische Welt eintauchen und nähmen unmittelbar am Geschehen teil, sodass sich die Inhalte nachhaltiger und länger im Gedächtnis einprägen könnten. [16] Als dann im Ersten Weltkrieg der Film als Propaganda- und Massenkommunikationsmittel entdeckt worden war, sah man in ihm ein vorzügliches Medium, mit dem sich Inhalte anschaulich und ansprechend darstellen ließen und auch bildungsferne Schichten erreicht werden konnten. [17] Dass filmische Mittel in den Dienst der hygienischen Volksbelehrung gestellt wurden, lag schließlich auch daran, dass das Kino längst zum Massenvergnügen geworden war. Seit Mitte der 1900er Jahre hatten sich immer mehr Lichtspieltheater in den größeren Städten niedergelassen und boten ein breites Programm an. Aber auch im Nicht-Kino-Bereich gehörte das Medium längst zum festen Bestandteil von Vorträgen oder Ausstellungen der Industrie oder verschiedener Reiseunternehmen.
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Aufklärungsfilme hatten also einen doppelten Auftrag zu erfüllen. Zum einen vermittelten sie das medizinisch-wissenschaftliche Wissen der damaligen Zeit; zum anderen sollten die Zuschauer durch die vorgeführten Inhalte zu einer Verhaltensänderung angeregt werden. Aufklärung und Erziehung, diese zweifache Aufgabe spiegelt sich in der Struktur der Filme und in den Darstellungsmodi wieder. Fiktion und Dokumentation wechselten sich ab. Soweit es sich um die Vermittlung medizinisch-wissenschaftlicher Details drehte, wurden Groß- und Detailaufnahmen herangezogen, welche die physische Beschaffenheit der medizinischen Befunde möglichst plastisch in Erscheinung treten ließen. [18] Patientenbilder und Zeichentrickaufnahmen unterstützten diese Aufgabe, während demgegenüber das deviante Verhalten, welches der Ansteckung angeblich zugrunde liegen sollte, in fiktionalen Episoden dargestellt wurde. So wurden die Krankheitsverläufe an individuelle Schicksale geknüpft, die in Form von Spielhandlungen in den Plot der Aufklärung eingebunden waren. Dabei agierten die Protagonisten als Stellvertreter: Sie erkrankten gewissermaßen exemplarisch an Syphilis, ebenso hatten sie stellvertretend für den Betrachter die Folgen zu tragen. Die persönlichen Geschichten zielten folglich darauf ab, das Publikum emotional zu berühren. Um dies zu erreichen, bedienten sich die Filmemacher narrativer und emotionalisierender Strategien des Spielfilms, die zu rezipieren die Zuschauer bereits gewohnt waren. [19]
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“Wissen ist der wirksamste Schutz“, so begründete der Dermatologe Joseph Jadassohn schon 1902 seine Forderung nach Aufklärung der Massen. [20] Präventives Wissen aber beruht auf Vermittlung von Kenntnissen, wie sie bis dahin nicht vermittelt worden waren. Bis zum Kongress von 1902 dominierten die Sittlichkeitsvereine die Gesundheitspolitik. Sie wollten die Geschlechtskrankheiten mittels polizeilicher Verbote und der Kontrolle der Prostituierten eindämmen. Unter dem Einfluss der Mediziner erhielt nun die Prävention mehr Gewicht. Ärzte verlangten, dass den Menschen medizinisch-wissenschaftliches Wissen über die Krankheit, ihre Ursache, den Verlauf und die Folgen vermittelt werden müsse. Zuallererst müsse jeder gefährliche Situationen erkennen lernen, um sie meiden zu können. Nach zeitgenössischer Auffassung waren es bestimmte Orte, an denen sich Menschen der fröhlichen Ausgelassenheit hingaben, die problematisch erschienen: Tanzlokale, Kneipen und Bars. Dort schien die Bereitschaft für kleine Abenteuer besonders groß. Und es waren vor allem die Kellnerinnen, die in den Aufklärungsfilmen für Seitensprünge zur Verfügung standen. Sie trugen ihr sexuelles Verlangen stets offen zur Schau. Sie verführten die potentiellen Partner mit ihrem Lachen, scherzenden Worten und Alkohol. Bier und Champagner setzten die Hemmschwelle herab und verstärkten zugleich die Risikobereitschaft – so lautete die Botschaft.
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Sowohl die verzerrte Wahrnehmung der Sinne – durch Alkohol verursacht – als auch die der Situation immanenten Gefahren wurden von den Filmemachern in eine Bildsprache übersetzt. Diese lieferte die audio-visuellen Zeichen, die sich als Warnsignale im Gedächtnis der Zuschauer einprägen sollten. Entsprechend wurde in den meisten Aufklärungsfilmen eine besondere Sorgfalt auf die detailgetreue Ausstattung gelegt. Lichter, Tanz, Musik, Bewegung – und Frauen. Lachende Frauen, schöne Frauen, betörende Frauen. All diese Hinweise dienten dazu, Ort und Situation als gefährlich zu markieren und Wiedererkennungszeichen zu setzen. Um dies zu erreichen, wurden die Szenen derart gefilmt, dass sich ihre verführerische Kraft über das Visuelle auf die Zuschauer übertragen konnte. So sind diese Momente gestalterisch mit einer ausgefeilten Licht- und Schnittdramaturgie geschaffen, die auch die Zuschauer aufreizen und in einen ästhetischen ‘Rausch’ versetzen sollte.
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Dem Verführungsmoment wurde offensichtlich eine so große Bedeutung zugesprochen, dass sogar im französischen, eintönig konzipierten Aufklärungslehrfilm „Les maladies vénériennes et l’armement antivénérien en France“ eine erotisierende Einstellung eingeschoben ist. Im Auftrag des Office National de l’Hygiène Sociale drehte der französische Lehrfilmer Jean Benoît-Lévy 1927 eine lange Reihe Prophylaxe-Stationen mit ihren Equipen, um die Anstrengungen Frankreichs im Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten zu zeigen. Während der längste Teil des Films im schulmeisterlichen Ton berichtet, was dort geschieht, wechselt der Erzählmodus in dem Augenblick, als vom auslösenden Moment der Ansteckung die Rede ist: Unvermittelt sieht man ein junges Paar im Strassencafé sitzen. Verliebt hält der Mann das Gesicht der Frau in den Händen, um sie sogleich leidenschaftlich auf den Mund zu küssen. Die Einstellung, die das Paar am Tisch sitzend zeigt, wird mit einer Großaufnahme der küssenden Gesichter überblendet. Der Kuss markiert den Augenblick der Ansteckung. Durch die Überblendung wird er visuell vervielfacht, das Bild in seiner Klarheit aufgelöst und das Geschehen als sinnlich überreizt dargestellt.
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In “Feind im Blut“, produziert von der Schweizer Praesens Film, erfolgt die Verführung stufenweise. Mit der Regie wurde der deutsche Avantgarde-Filmer Walter Ruttmann betraut, dessen “Sinfonie einer Großstadt“ viel Aufsehen erregt hatte. Mit einer ähnlichen Kamera- und Lichtführung ist auch “Feind im Blut“ gestaltet, welche das urbane Leben in poetischen und assoziativen Bildern einfing. Obwohl als Aufklärungsfilm der Belehrung verpflichtet, vertraute Ruttmann auf die Rezeptionsgewohnheiten, die sich die Zuschauer in fiktionalen Filmen erworben hatten. So verpackten die Autoren (Ruttmann zusammen mit Gerhard Bienert und dem Produzenten Lazar Wechsler) das Thema der Geschlechtskrankheiten narrativ in drei fiktionale Episoden, die exemplarisch für verschiedene Reaktionen stehen sollten und miteinander verwoben waren. Der junge Medizinstudent, der sich angesteckt glaubt und untersuchen lässt; sein Freund, der Lebemann mit vernachlässigter; sowie ein Arbeiter mit falsch behandelter Syphilis, dessen Frau nach der Geburt des infizierten Kindes Selbstmord begeht. Hauptfigur ist der Student, der einen emotionalen Schock erleidet, nachdem ihn die Geliebte abrupt zurückgewiesen hat. Um ihn abzulenken, schleppt ihn sein Freund daraufhin von einer Vergnügungsstätte zur nächsten. Die medizinisch-wissenschaftlichen Botschaften sind dazwischen eingeflochten, so etwa in Form einer Vorlesung oder als Beratungsgespräch mit dem behandelnden Arzt. Das sollte sie leichter konsumierbar machen.
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Die Verführungsszene ist besonders sorgfältig inszeniert und zwar im Sinne der doppelten Instruktion: Zum einen sind die wesentlichen Hinweise eingebaut und liefern damit das nötige Wissen; zum anderen sollen die Zuschauer in einen ähnlich emotionalen Zustand versetzt werden, der sich nachhaltig in ihr Gedächtnis prägt. Der Abend beginnt im noblen Tanzlokal, in dem die Gäste in festlicher Robe zu gepflegter Musik tanzen, und endet in einer heruntergekommenen Spelunke. Im ersten Lokal umschmeichelt die sanfte Beleuchtung die sich bewegenden Körper, sanft schimmert Seide, die Haare glänzen, der Sekt prickelt, die Gläser leuchten und die Schmucksteine funkeln. Der ganze Raum ist von einem verzaubernden Leuchten erfüllt. Die Ausgelassenheit des Augenblicks wird von der Kamera verstärkt. Gläser stehen schräg im Bild, Großaufnahmen wechseln mit Totalansichten im Takt der Musik, extreme Ober- und Untersichten verzerren die reale Objektwelt und lösen die geometrische Ordnung auf. Die ganze Umgebung scheint in Bewegung.
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Von Lokal zu Lokal wird die Musik scheppernder, die Tänze vulgärer und der Durst größer. Alkohol enthemmt und vernebelt die Wahrnehmung. Die Bilder wirken nun verschwommener. Das Licht ist gedämpft. Am Ende geht der Freund mit der Kellnerin nach Hause. Der Alkohol hat seinen Blick derart getrübt, dass er ihre Hässlichkeit nicht sieht. Der Lichtschweif um ihren Hinterkopf erzeugt einen goldenen Schein und verklärt das Gesicht im Halbdunkel.
Abb. 1
Schließlich steht der Student alleine auf der Strasse, da zeigt sich die Kehrseite. Noch wischt kein Sonnenstrahl die Spuren fort, stattdessen glänzt das feuchte Pflaster schmierig und dreckig. Eine alte Hure klaubt ein paar Geldscheine aus ihrem Strumpf. In diesem Augenblick hat die Nacht ihre Illusion verloren.
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Der Schrecken wohnt im Schönen. Wie ein Leitmotiv zieht sich dieser Satz durch die fiktionalen Aufklärungsfilme. In “Feind im Blut“ ist er mit einem einzigen Schnitt initiiert. Die Montage, das Aneinanderfügen einer Bildfolge an die nachfolgende, ordnet nicht nur das Bildmaterial zur Chronologie der Erzählung, sondern setzt einen bestimmten Lektüremodus voraus. Im Prozess des Sehens verbindet der Zuschauer die Einzelbilder semantisch zu einem kohärenten Sinnganzen. Dies ist die Bedingung für den Erkenntnisgewinn nachfolgender Sequenz. Der Medizinstudent verlässt früh am Morgen seine Geliebte, um einer Vorlesung über Geschlechtskrankheiten beizuwohnen. Der Dozent spricht gerade über den Primäraffekt und lässt dazu eine Moulage durch die Reihen der Studenten wandern. Während dieser weiter von den ersten Hautveränderungen an Mund oder Geschlechtsteilen spricht, versenkt der Protagonist seinen Blick tief in das wächserne Antlitz. Aus seiner Perspektive bewegt sich der Unterkiefer des Halbgesichts dem Zuschauer entgegen. Aschgrau glänzen die ebenmäßigen Wangen, leicht und dunkel geschwungen liegt der Mund dazwischen, auf dessen Unterlippe ein großes schwarzes Mal prangt. Das warzige Geschwulst, erläutert der Professor aus dem Off, ist ein Primäraffekt, der hervorgerufen wurde – durch einen Kuss.
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Wie ein Signal wirkt das letzte Wort, und das Bild springt von der Moulage zur Kinnpartie der jungen Frau. Sie sitzt leicht schräg vor uns und dreht den Kopf anmutig zur Mitte. Ihre Konturen sind milchig unscharf verwischt. Die linke Wange ist hell beleuchtet, während Kinnspitze und rechte Wange im geheimnisvollen Dunkel versinken. Licht und Schatten umschmeicheln das Gesicht, lassen es verzaubernd und makellos erscheinen. Darauf setzt eine gefällige Tanzsaalmusik ein. Ganz langsam tastet die Frau mit der Zunge über die Lippen, sucht nach verborgenen Knötchen. Sofort verbinden wir in unserer Vorstellung den gewölbten Affekt des Wachsmodells mit ihrem Mund. Obschon nichts deutlich zu sehen ist, steckt der Keim der Krankheit nun in ihren Lippen.
Sequenz 1
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Der Übergang vom Anschauungsobjekt zur Frau markiert nicht nur eine örtliche und zeitliche Verbindung vom Hörsaal zum Schlafgemach, wo der junge Medizinstudent die Nacht verbracht hat. Zugleich leitet er auch narrativ vom Lehrvortrag in die Handlung über und deutet an, dass die junge Frau wahrscheinlich krank ist. Die Bildbewegung suggeriert die Ansteckung durch den Kuss. Die Montage löst eine Reihe von Assoziationen aus, die sich mit dem Geschehen auf der Leinwand vermischen. Noch sitzt die Frau vor dem Spiegel, zieht sich die Lippen nach, in wenigen Jahren aber wird die Syphilis ihre Schönheit zerstören.
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Tatsächlich, indem die Kamera immer mehr von der Frau zurückweicht, kommt ihr ‘wahres’ Gesicht zum Vorschein. Noch schauen wir ihr zu, wie sie sich zurechtmacht. In schnellen Wechseln ist ihr Gesicht mit dem Porträt des Studenten montiert, um die enge Verbundenheit der beiden anzudeuten. Doch als die Frau im Brustbild im Spiegel erscheint, eine Zigarette rauchend, ist die geheimnisvolle Aura aus Licht und Schatten von ihr gewichen. Nachdenklich hält sie die Fotografie des Studenten in ihren Händen und packt sie dann energisch weg, um sogleich das Porträt eines anderen Mannsbildes hinzustellen. Mit diesem Bildertausch, der zugleich den Männertausch expliziert, deklariert sie sich selbst als ‘leichtes Mädchen’ oder als Prostituierte.
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Hinter dem Bild der Schönen, deren Antlitz sich als Maske entpuppt, lauert bereits die Fratze des Todes. Diesbezüglich erinnert der Wechsel an Illustrationen von vanitas und memento mori. Die vanitas (Nichtigkeit, Eitelkeit) thematisiert die Vergänglichkeit des irdischen Lebens. Verkörpert wird sie durch eine schöne Frau, die sich eine Maske mit ihrem reinen Konterfei vor das Gesicht hält. Hinter der Maske lauert der Totenkopf. Die Darstellung soll die Gläubigen ermahnen, gottesfürchtig zu leben und sich noch im Diesseits auf den Tod vorzubereiten. Ruttmann verwendet dieses Motiv der ‘Entlarvung’ und erzielt damit einen zweifachen Effekt: der Schreck im Moment des Erkennens, der zugleich die moralisch-religiösen Normvorstellungen wachruft. Die evozierten Assoziationen wirken im Rezeptionsprozess auf die Bilder zurück und modifizieren deren Aussagegehalt.
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Die Ansteckungssituation, der Sexualakt, ist in den Filmen auf den Kuss reduziert. Obwohl die Infektion in den meisten Fällen sexuell erfolgt und die Zahl der von ihren Männern infizierten geschlechtskranken Hausfrauen in der im Auftrag der Schweizer Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten durchgeführten Erhebung von 1921 sogar größer ist als die der infizierten Prostituierten [21], existiert in den fiktionalen Filmen nur ein einziges Ansteckungsszenario: der promiskuitive Kuss. Damit fungiert er als Synekdoche des Geschlechtsverkehrs, was für den französischen Filmhistoriker Thierry Lefèbvre inakzeptabel ist, da die Filme ja einen pädagogischen Zweck verfolgten. [22] “Statt den auf dem Penis oder in der Vagina ausgebreiteten Schanker zu zeigen, rücken die Filme das Geschwür am Mund ins Bild – eine Stelle, die gerade 0.5 Prozent der möglichen Befallorte ausmacht.“ [23] Doch dem Konzept der Explizität waren hier Grenzen gesetzt. Aufgrund einer repressiven Bildpolitik konservativer Kreise durfte Nacktheit nur als kranker Körper gezeigt werden. Der Spielfilm musste folglich auf eine expressive Bildsprache zurückgreifen. Immerhin bleibt dem Kuss die sexuelle Implikation inhärent und somit auch das Kippmoment von Genuss zum Ekel. Er markiert den Initiationsmoment, in dem der Keim der Krankheit von der Dirne oder der flüchtigen Bekannten auf den Mann übertragen wird. In stets gleichender Weise wiederholt, ist dieses Szenario zu einem narrativen Stereotyp der Aufklärungsfilme geronnen.
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Besonders wirkungsvoll ist der Kuss in “Le baiser qui tue“ inszeniert. [24] Der fiktionale Aufklärungsfilm des Genfer Filmemachers Jean Choux erzählt die Geschichte des Matrosen Le Goff, der sich, obwohl bereits mit der schönen Anne-Marie liiert, während eines Landurlaubs von einer anderen Frau betören und verführen lässt. Die Szene ist als Flashback realisiert. Zurück auf dem Schiff sorgt sich Le Goff nach dem ‘Abenteuer’ um seine Gesundheit und informiert sich via Lexikon über die Syphilis. Plötzlich erinnert er sich an jenen Abend, als er nach anfänglich schroffer Zurückweisung der jungen Frau aufs Zimmer gefolgt ist. Auch er hatte viel getrunken, bevor er sich überhaupt mit ihr eingelassen hat. In der Folge liegt Le Goff auf dem Bett, die Schöne beugt sich über ihn und küsst ihn. Da ‘verwandelt’ sie sich unmittelbar in ein Skelett.
Sequenz 2
Statt von weichen Lippen wird der Matrose von einem Totenkopf geküsst. Zuerst ist die Szene in der Halbnahen aufgenommen, sodass sich der Schädel bedrohlich über dem Gesicht des Mannes hin- und herbewegt, dann in die Halbtotale geschnitten. Bei dieser Imagination weicht Le Goff – und mit ihm der Zuschauer – angewidert zurück.
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Diese Sequenz reflektiert die Beziehung zwischen Männern und Frauen im vor- und außerehelichen Kontakt, die sich nach den immer gleichen stereotypen Mustern der Infektion entwickelt, wie sie “Le baiser qui tue“ vorführt: An erster Stelle stehen die jungen, verführerischen Frauen, die sexuell fordernd und aggressiv auftreten wie die junge Prostituierte. Sie stellt offensiv ihre Reize zur Schau, was Le Goff zuerst verärgert, doch schließlich erliegt er ihnen. Zweitens sind es immer die Frauen, die die Geschlechtskrankheit in sich tragen. Drittens lassen sich die Männer nur aufgrund jugendlicher Unbekümmertheit oder verminderter Zurechnungsfähigkeit mit diesen Frauen ein. Auch Le Goff war betrunken, als er der Frau aufs Zimmer folgte, wo er sich, unwissend und unerfahren, prompt ansteckte. Viertens verankern Unwissenheit und Unerfahrenheit das Geschehen im jungen Mannesalter und insbesondere im Militärdienst, wobei Matrosen offensichtlich als besonders gefährdet präsentiert wurden. Einen Augenblick lassen sie sich gehen, danach müssen sie ein Leben lang dafür büssen, lautet die unterlegte Botschaft. Obwohl die Männer auch einen aktiven Part in diesem Beziehungsgefüge spielen, werden sie in den Filmen stets als Opfer dargestellt. Kommt es vor, dass einem Patienten, wie in “Falsche Scham“, die rechtliche Lage und seine Pflichten vorgelesen werden, bleibt es ohne Folgen.
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Dagegen stempelt die mediale Zuschreibung die Frau zur Täterin. Noch zwanzig Jahre später setzte sich diese Rollenverteilung zwischen Frau und Mann fort. So markiert in „La Syphilis enemie No 1“, [25] einem weiteren französischen Film aus dem Jahre 1943, wiederum die Kussszene das Moment der Infizierung. Erklärt wird die Übertragung mithilfe von animierten Zeichnungen. Während des Kusses, die Lippen der Partner berühren sich, treten die Erreger aus dem Mund der Frau in den des Mannes. Winzige weiße Würmchen, schematisch für Spirochaeta pallida, die Syphilis-Erreger, schlängeln sich von ihr zu ihm. Die Bewegung erfolgt von der Frau zum Mann, nie umgekehrt. Obwohl es nirgendwo explizit steht, schreibt die Bewegung die Übertragungsrichtung fest.
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Der Kuss, der Analogie folgend, versinnbildlicht nicht nur den Austausch der Säfte des Sexualakts, sondern auch die Übertragung der Bakterien. Aber es sind nicht die männlichen Protagonisten, in deren Leib sich die zerstörerische Kraft der Erreger offenbart. In den fiktionalen Filmen – im Gegensatz zu den Aufklärungslehrfilmen, in denen vorwiegend Patienten auftreten – strotzen die Männer vorerst noch vor Kraft und Vitalität. So will sich der junge Bauer Jacques in „Il était une fois trois amis“ [26] partout nicht behandeln lassen, denn noch nie habe er sich so kraftvoll und gesund gefühlt. Auch seinem Freund Charles ist die hereditäre Syphilis nicht anzumerken, die er von seinem Vater geerbt hat. Den Frauen dagegen umso mehr. Auf und in ihren Körpern breitet sich die Krankheit zuerst aus. Entweder wird ihre zuvor reine Haut von einem Ausschlag entstellt wie bei Anne-Marie, der Frau von Le Goff. Dunkle Ringe unter den Augen und ein immer bleicher wirkendes Gesicht lassen sie bald gespenstisch aussehen. Oder sie lösen sich allmählich im Nichts auf, wie bei Leonie, der Frau des Malers Paul Hartwig in „Dürfen wir schweigen?“. [27] Ihr Gesicht ist bald so weiß wie das Laken, der Körper formt sich kaum mehr darunter. Im Moment des Todes scheint es, als ob sie im Licht entschwindet.
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Die Krankheit erfasst die ‘guten’ Frauenfiguren. Allerdings weisen sie nicht die entstellenden Papeln, Geschwüre und Hautwucherungen auf wie die Patientinnen und Patienten in den medizinischen Aufklärungsfilmen. Dennoch ist ihre ‘Auflösung’ kein ästhetischer Genuss, im Gegenteil. Sie sterben viel zu jung oder bringen sich um wie die Frau des Arbeiters in “Feind im Blut“. Ihr Schicksal ist als Diskrepanz aufgebaut zwischen ihren Erwartungen als junge Bräute und ihrem tatsächlichen Schicksal. Immerhin erregen sie das Mitleid der Zuschauer.
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Trotzdem haftet auch den Ehefrauen die Schuld der (Mit-)Täterin an. Denn sie sind die Überträgerinnen der Erreger und infizieren wiederum ihre Kinder. Über ihre Körper, obwohl unwissend und unschuldig, werden die Säuglinge angesteckt. Am Ende dieser fortgesetzten Übertragung stehen die Kinder. Sie sind die Leittragenden, die Opfer der Fehler ihrer Väter: Neugeborene mit von Schorf verklebten Lidern (Tripper) oder Kleinkinder, deren Arme und Beine mit den Krankheitsmalen des zweiten Syphilisstadiums überzogen sind. Deformationen der Gliedmassen, Sattelnase, Zahnstummel, Wasserkopf und Idiotie. Es gibt kaum eine körperliche oder geistige Behinderung, die in diesen Filmen nicht ursächlich der Syphilis zugeschrieben wird. Auf den Leibern der Kinder tritt schließlich zutage, was das blendende Licht der Tanzlokale zu verbergen suchte.
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Genau diese Verschiebung wird in der Eingangssequenz von “Feind im Blut“ lanciert, die vorgibt, wie die nachfolgenden Bilder zu verstehen sind: Weiße Rosenblüten leuchten im Sonnenlicht, gefolgt von prächtigen Äpfeln, die sich rund und mit glänzenden Wangen aneinanderreihen, dazwischen erscheinen die lachenden Gesichter von Kleinkindern, auch sie mit runden Backen und strahlendem Lachen. Doch plötzlich wird die Serie unterbrochen durch welke, verdorrende, schrumpfende und verfaulende Äpfel. Neben die strahlenden Augen drängen sich die wirren Blicke behinderter Kinder, sodass ein vorher fröhlich wirkender Säugling seinen Mund zum Weinen verzieht. Am Ende wimmeln und krabbeln, winden sich und zucken die Würmer im verfaulten Obst (s. Sequenz 1). Die Montage provoziert eine assoziative Übertragung und verbindet die gesunden Früchte und Kleinkinder mit dem fauligen Obst und den syphilitischen Kindern. Denn der Sinn einer Einstellung hängt von den Bildern ab, die ihr vorangehen, “und ihre Aufeinanderfolge schafft eine neue Realität, die nicht die schlichte Summe der verwendeten Bestandteile ist“ [28]. So stellt im fiktionalen Aufklärungsfilm die Montage einen inneren Zusammenhang her zwischen Ekel und Verhalten, zwischen Krankheit und christlicher Moral: Der Apfel impliziert Evas Versuchung und verbindet so die Geschlechtskrankheiten mit dem biblischen Sündenfall.
Sequenz 3
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Über die Analogien von Apfel und Kinderkopf, von gesund und krank, von Verführung und Zeugung werden die Geschlechtskrankheiten explizit moralisch aufgeladen. Abweichendes Sexualverhalten führt, gemäß dieser Argumentation, unweigerlich zur Infektion. Auch “Le baiser qui tue“ operiert, was typisch für die meisten Aufklärungsfilme ist, explizit mit einer biblischen Ikonografie, die zum zeitgenössischen Kulturhintergrund gehört und für die Zuschauer leicht zu erkennen ist. Zugleich rufen die religiösen Bilder das Norm- und Wertesystem auf, nach dem moralisch-ethisches Verhalten beurteilt wird. Statt seiner kranken und gebärenden Frau beizustehen, entflieht Le Goff in eine Spelunke, wo er sein schlechtes Gewissen – die durch ihn verschuldete Ansteckung seiner Frau – im Alkohol zu ertränken sucht. Doch die Schwiegermutter holt den frisch gebackenen, völlig betrunkenen Vater ans Bett der Wöchnerin. Vom Ereignis überwältigt kniet er zu ihr nieder. Das Bild ist analog zur Heiligen Familie aufgebaut: Maria und Josef, zwischen ihnen das Christkind wie im Stall zu Bethlehem. Über ihnen hängt das Kreuz an der Wand, Licht umfängt die Szene mit einer ‘göttlichen’ Aura. Gemessen am biblischen Vorbild wirkt Le Goffs Verfehlen freilich umso schändlicher. Der Körper des Neugeborenen ist mit syphilitischen Geschwüren übersät. Hier kann keine Aussöhnung (zwischen Zuschauer und Figur) stattfinden, vielmehr wird durch die Diskrepanz zwischen moralisch-religiöser Wertung und vorgeführten Folgen Le Goffs Handeln stigmatisiert.
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Der Rückgriff auf sittlich-moralische Normen stellte einmal mehr die Prostituierten und mit ihnen die Frauen überhaupt ins Zentrum der Betrachtung. Durch die fiktionalen Episoden, in denen das Ansteckungsszenario in den verschiedenen Aufklärungsfilmen nach immer ähnlichem Muster erzählt wurde, bildeten sich Stereotypen der Narration, der Figurenkonzeption und der Darstellungsweisen heraus. Bestärkt wurde die mediale Rollenzuschreibung durch die biblische Ikonografie, die das filmische Geschehen assoziativ mit einem religiösen Kontext verband. Dadurch wurde die Täter-Opfer-Relation zementiert und das weibliche Begehren negativ konnotiert.
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Die Wertungen, die den Figuren und Ereignissen zugeschrieben sind, eruieren sich nicht allein aus der Narration, sondern vielmehr über die filmästhetischen Gestaltungsmittel. Kenntnisse über die Ansteckung, das Übertragen der Krankheiten, angemessenes versus deviantes Verhalten erschlossen sich auf drei Ebenen: der narrativen, der (audio-)visuellen und der perzeptiven. Der Schnitt bzw. die Montage ordnete die einzelnen Handlungselemente in einen Ablauf der Ereignisse und verband disparate Teile wie die Moulage im Hörsaal mit der Geliebten im Schlafzimmer. Dagegen wurde die Gefährlichkeit der Ansteckungssituation als visuelles Ereignis inszeniert, um die Sinne des Publikums zu affizieren. Auf perzeptiver Ebene überlagerten die assoziativ aufgerufenen Bedeutungen die filmische Aussage. Die evozierten Vorstellungen zur biblischen Eva und dem Sündenfall kontaminierten die weibliche Sexualität, die sich in den Deformationen der syphilitischen Kinder offenbart.
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Die Intention der an Filmen beteiligten Ärzte und Institutionen war es, die Geschlechtskrankheiten möglichst objektiv darzustellen, um die Kranken von der Stigmatisierung zu befreien. Doch der doppelte Auftrag der Aufklärungsfilme, Belehrung und Erziehung, stand dieser Absicht entgegen. Die Belehrungssequenzen sowie die medizinischen Patientenbilder grenzen sich zwar klar von der Spielhandlung ab, dennoch kommt es zu einer Überlagerung der Interpretationsebenen. Besonders deutlich wird die Bedeutungsverschiebung in der ‘Kussszene’ in “Feind im Blut“. Die Interpretation der Geliebten-Sequenz basiert auf den Wissensinhalten der Vorlesung. Obwohl es keine Verbindung auf der Handlungsebene gibt, werden die beiden Einstellungen semantisch verknüpft, wodurch die Frau als geschlechtskrank klassifiziert wird. Dagegen evozieren die Ähnlichkeiten mit der biblischen Eva und dem Sündenfall in “Le baiser qui tue“ den moralisch-religiösen Kontext, dessen Werte und Normen reziprok auf die medizinisch-wissenschaftlichen Aussagen zurückwirken.
Liz. Phil. I Anita Gertiser
Seminar für Filmwissenschaft
Universität Zürich
Plattenstrasse 54
8032 Zürich
gertiser@fiwi.uzh.ch
[1] Dominique Puenzieux / Katrin Ruckstuhl: Medizin, Moral und Sexualität: Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten Syphilis und Gonorrhöe in Zürich 1870–1920, Zürich 1994, 125f.
[2] Ob die Zahl der Ansteckungen tatsächlich so dramatisch stieg, wie zahlreiche Ärzte damals behaupteten, muss im Nachhinein bezweifelt werden. Bereits in der Befragung von 1920/21, an der rund 90 Prozent der Schweizer Hautärzte teilnahmen, mussten die Zahlen nach unten korrigiert werden. Der Verfasser des abschließenden Berichtes, Hubert Jäger, warnte in seinem Kommentar denn auch vor aufgebauschten Hochrechnungen. Siehe Hubert Jäger: Die Geschlechtskrankheiten in der Schweiz, Bern 1922, 9.
[3] Puenzieux / Ruckstuhl: Medizin, Moral und Sexualität (wie Anm. 1), 129.
[4] Frauen wurden beispielsweise angeleitet, die Böden mit feuchten Lappen zu wischen, um das Aufwirbeln des Staubes zu verhindern. Dies, weil man befürchtete, der zu Staub getrocknete und zerriebene Auswurf Kranker könnte durch das Kehren aufgewirbelt werden und somit in die Lungen der Bewohner gelangen. Vgl. Augustine Widmer: Die Hüterin der Gesundheit: Die Rolle der Frau in der Hygienebewegung Ende des 19. Jahrhunderts. Dargestellt am Beispiel der deutschsprachigen Schweiz mit besonderer Berücksichtigung der Stadt Zürich, Zürich 1991.
[5] Vgl. hierzu: Jean Brocher: La famille Charbonnois, CH 1926.
[6] Eine der zentralen Aufgaben des Internationalen Institutes für Lehrfilmwesen in Rom, unter dem Patronat des Völkerbundes, galt dem internationalen Film- und Informationsaustausch. Unter dem Titel „Der Film im Dienste der hygienischen und sozialfürsorglichen Propaganda“ wurde jeweils in der Internationalen Lehrfilmschau, dem entsprechenden Publikationsorgan (1928-1934), über Angebot, Einsatzmöglichkeiten und Erfahrungen in den verschiedenen europäischen Ländern berichtet.
[7] Jürgen Kasten: Dramatische Instinkte und das Spektakel der Aufklärung. Richard Oswalds Filme der 10er-Jahre, in: Jürgen Kasten / Armin Loacker (Hg.): Richard Oswald. Kino zwischen Spektakel, Aufklärung und Unterhaltung. Wien 2005, 15–139, hier: 84.
[8] K[laus] Podoll: Geschichte des Lehrfilms und des populärwissenschaftlichen Aufklärungsfilms in der Nervenheilkunde in Deutschland 1895-1929, in: Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 68 (2000), 523–529, hier: 525.
[9] Vgl. zu den Konzepten der Sittlichkeitsvereine in der Schweiz: Puenzieux / Ruckstuhl: Moral und Sexualität (wie Anm. 1), 57-124; zu den Verhältnissen in Deutschland siehe: Lutz Sauerteig: Krankheit, Sexualität, Gesellschaft. Geschlechtskrankheiten und Gesundheitspolitik in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999.
[10] Puenzieux / Ruckstuhl: Medizin, Moral und Sexualität (wie Anm. 1), 129.
[11] Rudolf Biebrach: Falsche Scham, D 1926.
[12] Ramón Reichert: Im Kino der Humanwissenschaften. Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens, Bielefeld 2007, 14.
[13] Reichert: Kino der Humanwissenschaften (wie Anm. 12), 20.
[14] Peter Wuss nennt drei Strukturen der Wahrnehmung: perzeptions-, konzept- und stereotypengeleitete Strukturen. Vgl. Peter Wuss: Filmanalyse und Psychologie: Strukturen des Films im Wahrnehmungsprozess, Berlin 1999.
[15] Albert Hellwig: Schundfilme. Ihr Wesen, ihre Gefahren, ihre Bedeutung, Halle (a. d. Saale) 1911.
[16] Adolf Sellmann: Kino und Schule, Mönchenladbach 1914, 12ff.
[17] Martin Loiperdinger: Die Erfindung des Dokumentarfilms durch die Filmpropaganda im Ersten Weltkrieg, in: Ursula von Keitz / Kai Hoffmann (Hg.): Die Einübung des dokumentarischen Blicks. Fiction Film und Non Fiction Film zwischen Wahrheitsanspruch und expressiver Sachlichkeit 1895-1945, Marburg 2001, 71–79; Christel Taillibert: L’Institut International du cinématographe éducatif: Regards sur le rôle du cinéma éducatif dans la politique internationale du fascisme italien, Paris 1999, 11–28; Hans-Jürgen Brandt: Vom Lehrfilm zum Kultur- und Propagandafilm: Entwicklung und Kontroversen, in: Peter Zimmermann / Kai Hoffmann (Hg.): Triumph der Bilder: Kultur- und Dokumentarfilm vor 1945 im internationalen Vergleich, Konstanz 2003, 74–104.
[18] Siehe hierzu: Lisa Cartwright: Screening the Body: Tracing Medicine’s Visual Culture, Minneapolis / London 1997 (erste Auflage 1995); sowie: Ute Holl: Neuropathologie als filmische Inszenierung, in: Martina Hessler (Hg.): Konstruierte Sichtbarkeiten: Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit, München 2006, 217–239.
[19] Der Arzt Waldemar Schweisheimer argumentiert sogar, dass einzig die fiktionalen Filme das intendierte Ziel erreichten. Emotional gerührt liessen sich die Zuschauer zum Beispiel nach dem Besuch von “Dürfen wir schweigen?“ (Richard Oswald, Deutschland 1926) untersuchen, während die trockenen Lehrfilme langweilten und ihren erzieherischen Effekt verfehlten. Vgl. Waldemar Schweisheimer: Die Bedeutung des Films für soziale Hygiene und Medizin, München 1920, 16 und 51-52.
[20] Joseph Jadassohn, ein Schüler von Alfred Neisser und aus Schlesien stammend, war von 1896-1917 Professor für Dermatologie und Syphililogie sowie Direktor der Dermatologischen Klinik in Bern. Im Auftrag des Schweizer Bundesrates nahm er an den beiden Konferenzen in Brüssel teil und verfasste jeweils einen Bericht zuhanden des Bundesrates. Im Rahmen der Zweiten Konferenz von 1902 gab er dem Bundesrat Empfehlungen zur Prophylaxe in der Bevölkerung. Vgl. Joseph Jadassohn: Prophylaxie individuelle. II Conférence international pour la prophylaxie de la syphilis et des maladies vénériennes sous le patronage du gouvernement belge, Bern 1902; siehe auch: Puenzieux / Ruckstuhl: Medizin, Moral und Sexualität (wie Anm. 1), 308.
[21] Jäger: Geschlechtskrankheiten (wie Anm. 2), 73-74.
[22] Thierry Lefèbvre: Kino gegen die Syphilis. Aspekte der Entwicklung in Frankreich, in: Malte Hagener (Hg.): Geschlecht in Fesseln, München 2000, 47–62, hier: 55.
[23] Lefèbvre: Kino gegen die Syphilis (wie Anm. 22), 56.
[24] Jean Choux: Le baiser qui tue, F 1928.
[25] F.M. Roullet / Lucien Jame: La Syphilis ennemi public n° 1, F 1943.
[26] Jean Benoit-Lévy / Marie Epstein: Il était une fois trois amis, F 1929.
[27] Richard Oswald: Dürfen wir schweigen?, D 1926.
[28] Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, hg. von Christian Bermes, Hamburg 2003 (zuerst 1947), 39.
Empfohlene Zitierweise:
Anita Gertiser : Der Schrecken wohnt im Schönen: Darstellung devianter Sexualität in den Aufklärungsfilmen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten der 1920er-Jahre , in: zeitenblicke 7, Nr. 3, [2008], URL: https://www.zeitenblicke.de/2008/3/gertiser/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-16249
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