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König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen hat zeitlebens bei jeder sich bietenden Gelegenheit zum Stift gegriffen: um Briefe zu schreiben oder Zeichnungen zu Papier zu bringen. Häufig waren Schreiben und Skizzieren auch unmittelbar miteinander verbunden und aufeinander bezogen, er selbst hielt beides für wesensverwandt. Der Niederschlag dieser quecksilbrigen Aktivität, Vorstellungen und Ideen auf verschiedenen Wegen gedanklich zu verdichten – oder sich ihrer vielleicht auch zu entledigen –, besteht in einem immensen, nicht vollständig erschlossenen Nachlass. Zu jenen Quellen, die immer noch der Bearbeitung, wissenschaftlichen Auswertung und nicht zuletzt der geschlossenen Publikation bedürfen, gehört auch das ehemals in der Königlichen Hausbibliothek aufbewahrte Konvolut an eigenhändigen Zeichnungen des Königs. Zu diesem Bestand zählten vor 1945 insgesamt 14 Mappen mit im Ganzen vielleicht 4500 Blättern, von denen sich bis heute noch 10 Mappen im Besitz der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg erhalten haben. Die in ihnen versammelten rund 4300 Blätter summieren sich auf etwa 7200 mit Zeichnungen versehene Seiten, da auf vielen Blättern auch die Rückseite als Bildträger Verwendung fand. Hinzu kommen etwa 100 nach 1945 erworbene Blätter, die vor allem aus dem Nachlass des Architekten Ludwig Ferdinand Hesse stammen.
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Die Zeichnungen Friedrich Wilhelms IV. waren bereits kurz nach dem Tod des Königs dem Fachpublikum bekannt geworden. Friedrich August Stüler untermauerte 1861 in seinem umgehend publizierten Vortrag zum Schinkelfest seine Einschätzung des Königs als hochgradig kreativem Bauherrn mit einer Reihe von ausgestellten Zeichnungen. Eine um 1870 im Auftrag der verwitweten Königin Elisabeth herausgegebene Mappe vereinigt lithographierte Tafeln mit 42 Zeichnungen Friedrich Wilhelms IV., deren Auswahl aber lediglich ausgearbeitete Blätter zusammenführt. Sie zeigen figürliche Kompositionen, ideale Architekturlandschaften und einige Architekturentwürfe für Berlin und Potsdam. Es scheint, als hätte man damals der wuchernden Phantasie des Königs, seinen mitunter explosiv übersäten Flächen und den scheinbar irrationalen Ornamentteppichen auf den Blättern hilf- und verständnislos gegenüber gestanden. Offensichtlich wollte man auf keinen Fall Missverständnisse aufkommen lassen und mit den gleichsam schönen Blättern einen allumfassend auf das Ideale gerichteten Sinn und eine geordnete Geisteswelt des verstorbenen Königs ausweisen. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Zeichnungsnachlass setzte mit Albert Geyer ein, der die Blätter um 1890 nach Motiven und architektonischen Zusammenhängen ordnete und viele mit erklärenden Beischriften, gelegentlich auch Kommentaren, versah. Sein in der "Deutschen Bauzeitung" von 1922 erschienener Beitrag zu "Friedrich Wilhelm IV. als Architekt" fasste seine Forschungen zusammen. [1] Bezeichnend bei der frühen Beachtung der Zeichnungen Friedrich Wilhelms IV. über die engere preußische Architekturgeschichtsschreibung hinaus erscheint der Umstand, dass gerade das seinerzeit spektakuläre Werk Josef Pontens von 1925 über die "Architektur, die nicht gebaut wurde" den Architekturideen des Königs breiten Raum einräumte und ihn damit in die lange Reihe der leidenschaftlich entwerfenden, aber durch widrige Realitäten und Umstände gebremsten Künstler rückte. [2] Friedrich Wilhelms auf diese Zwangslage gemünzter Ausspruch "Das seind SchwereNothen", geschrieben auf ein Blatt mit einem Idealentwurf für die Berliner "Freistätte für Kunst und Wissenschaft", [3] diente Pontens Buch gar als Motto.
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Ludwig Dehio, der Leiter des Hohenzollernschen Hausarchivs, legte die Zeichnungen des Königs seinem vor 1945 erarbeiteten, aber erst 1961 publizierten Buch "Friedrich Wilhelm IV. von Preußen. Ein Baukünstler der Romantik" zugrunde. [4] Und Johannes Sievers sichtete den Zeichnungsnachlass laut eigenem Bekunden ein Dreivierteljahr lang im Zuge seiner Forschungen zu Karl Friedrich Schinkel. [5] Ihm und Ludwig Dehio sind die heutige Ordnung und Inventarisierung der Blätter zu verdanken.
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Die Forschungsarbeit, die den gesamten Bestand im Blick hatte, endete an dieser Stelle, denn eine zusammenfassende wissenschaftliche Publikation – auch nur der seit jeher besonders im Zentrum des Interesses stehenden architektonischen Zeichnungen – musste an der gewaltigen Materialmenge und dem äußerst heterogenen Charakter der Blätter scheitern. [6] Erst im Zeitalter der neuen Medien ließ sich nun ein Weg finden, dem Übermaß Herr zu werden und mithilfe einer modernen Bilddatenbank ein für den späteren Nutzer relativ leicht handhabbares Ordnungsgerüst in das Dickicht dieser mehr als 7000 Seiten einzuziehen. Das Gesamtkonvolut der Zeichnungen wird daher seit 2006 von einem mehrköpfigen Team aus Kunsthistorikern mit dem Ziel der Erstellung eines wissenschaftlichen Bestandskataloges erschlossen, der in naher Zukunft auf der Homepage der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg ( www.spsg.de ) frei zugänglich sein soll. Er wird alle für einen wissenschaftlichen Bestandskatalog üblichen Parameter erfüllen, bietet aber gegenüber einer herkömmlichen Publikation den großen Vorteil, dass die zum Teil sehr kleinen Zeichnungen auf den Seiten beliebig vergrößert werden können, dass sie besser zu betrachten und zu identifizieren sein werden. Zudem wird es möglich sein, über die Verschlagwortung aller Einzelmotive auf den Zeichnungsseiten das vollständige Spektrum eines Projektes oder Themas zu erschließen.
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Was aber macht den Wert dieses Zeichnungsnachlasses für die Kunstwissenschaft und andere geistesgeschichtliche Disziplinen aus? Oft heißt es ja, Zeichnungen eines Dilettanten – auch wenn er sozial so hoch gestellt gewesen ist wie Friedrich Wilhelm IV. – könnten kaum so wertvoll sein, dass ihnen mehr als eine Blütenlese gebühre. Doch die Zeichnungen des zukünftigen Königs und späterhin regierenden Monarchen Friedrich Wilhelm waren offensichtlich anderen Entstehungsgesetzen unterworfen und müssen daher auch anders beurteilt werden als Zeichnungen professioneller Künstler. Bei Zeichnungen aus seiner Hand spielen die Qualität der technischen Ausführung oder die künstlerische Eigenart des Striches kaum eine maßgebliche Rolle, denn die Blätter sind – einmal abgesehen von Lehrstücken aus der Kinderzeit und einigen figürlichen oder Landschaftskompositionen – zumeist mit anderen Intentionen verbunden als jenen, formal richtig oder stilistisch innovativ zu sein, neue Kompositionsweisen zu erkunden oder technische Perfektion zu erreichen – also das, wonach ein Künstler im Allgemeinen strebt. Vielmehr scheinen die Skizzen Friedrich Wilhelms IV. abbreviaturhafte Mitteilungen und Selbstreflexionen zu sein, die auf dem zufällig vorhandenen Papier zum prospekthaften Bild generiert werden. Mit dem Bleistift ordnet, bereichert und kommentiert der Kronprinz und König die Welt, seine Welt – durch Architekturen, Landschaften, Figuren, Ornamente oder Kostüme. Seine Zeichnungen sind ihm gleichsam ein Medium zur Vergewisserung seiner schöpferischen Existenz als umfassend für sein Volk und sein Haus tätiger und denkender Landesherr. In der Person Friedrich Wilhelms IV. und seinem zeichnerischen Werk spiegelt sich daher die traditionelle Auffassung, dass das Wesen des Künstlers mit dem Wesen des Souveräns im Hinblick auf den Prozess des Erschaffens konform oder zumindest stark verwandt sei. [7] Bedeutsam ist dieses Zeichnungskonvolut daher nicht nur, weil die Wissenschaft mit ihm erkunden kann, auf welche Weise die Skizzen Friedrich Wilhelms mit ausgeführten Bauten oder Kunstwerken im Zusammenhang stehen, sondern vor allem deshalb, weil sich mit den Zeichnungen dieses Königs dessen weltanschaulicher Kosmos und sein politisches Wirken verbinden und nicht zuletzt seine innere, von äußeren Bedingungen konstituierte Verfassung wohl genauer bis auf einen privaten Kern erhellen lassen, als dies aus wohlüberlegten Briefinhalten und anderen Schriftquellen zu erschließen ist.
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Die hier publizierten Beiträge des im Mai 2008 in Schloss Lindstedt bei Potsdam unter dem Titel "Die Zeichnungen Friedrich Wilhelms IV. von Preußen – Pläne, Utopien, Weltbilder" veranstalteten Kolloquiums sollen zur Bestimmung und Deutung dieser kompliziert angelegten Überlieferung einige neue Ansätze und Einblicke vermitteln.
[1] Albert Geyer: König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen als Architekt, in: Deutsche Bauzeitung 56 (1922), 525-542, 545-562. Darüber hinaus: Albert Geyer: König Friedrich Wilhelm IV. und seine Bauten, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 42 (1925), 81-88.
[2] Josef Ponten: Architektur die nicht gebaut wurde, 2 Bde., Stuttgart / Berlin / Leipzig 1925, I: 92-110, II, Abb. 234-276.
[3] SPSG, Handzeichnungen Friedrich Wilhelms IV., I-3-A-11.
[4] Ludwig Dehio: Friedrich Wilhelm IV. von Preußen. Ein Baukünstler der Romantik (= Kunstwissenschaftliche Studien 30), München / Berlin 1961.
[5] Berlin, GStAPK, BPH Rep. 50 F 2, Nr. 5a.
[6] Der 1995 anlässlich des 200. Geburtstages Friedrich Wilhelms IV. erschienene Ausstellungskatalog (Friedrich Wilhelm IV. Künstler und König – zum 200. Geburtstag, hg. von der Generaldirektion der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Frankfurt a.M. 1995) widmete den Zeichnungen ein eigenes, von Heinz Schönemann zusammengestelltes Kapitel ("Fritz – Siam – Butt. Die Zeichnungen", 233-250). In jüngster Zeit entstanden zudem Arbeiten, deren Thesen maßgeblich auf den Zeichnungen des Königs basieren: Catharina Hasenclever: Gotisches Mittelalter und Gottesgnadentum in den Zeichnungen Friedrich Wilhelms IV. Herrschaftslegitimation zwischen Revolution und Restauration (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 30), Berlin 2005; Rolf H. Johannsen: Friedrich Wilhelm IV. von Preußen. Von Borneo nach Rom – Sanssouci und die Residenzprojekte 1814 bis 1848, Kiel 2007.
[7] Vgl. Martin Warnke: Könige als Künstler, in: Gerda Henkel Stiftung (Hg.): 30-jähriges Stiftungsjubiläum und Verleihung des Gerda Henkel Preises 2006, Münster 2007, 43-77.
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Meiner : Der zeichnende König: Friedrich Wilhelm IV. von Preußen (1795-1861) , in: zeitenblicke 9, Nr. 3, [23.12.2010], URL: https://www.zeitenblicke.de/2010/3/Einleitung/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-27379
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