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Man hat sich angewöhnt, König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen als "Romantiker auf dem Thron" zu bezeichnen und ihm damit gewissermaßen die Befähigung zur Realpolitik abzusprechen. Seine hochfliegenden und teilweise irrational anmutenden Bauambitionen scheinen mit dieser Charakterisierung ganz konform zu gehen. Wo sehen Sie das Leben und die Regierung König Friedrich Wilhelms IV. zwischen Realität und Irrationalität?
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Mit seiner Zuneigung zu einem ideologisch verklärten Bild vor allem des europäischen Mittelalters war Friedrich Wilhelm IV. durchaus ein Kind seiner Zeit und seines Jahrhunderts, zumindest dessen erster Hälfte. Das 19. Jahrhundert war nicht nur das Jahrhundert des technischen Fortschritts, des Rationalismus, des Parlamentarismus und der Säkularisierung, sondern auch der Reaktion gegen diese Entwicklungen, insbesondere zwischen etwa 1814 und 1840/1848, im Zeitalter der Restauration. Es war nicht nur eine Frage der Romantik, denn "Romantiker" konnten auch republikanisch gesinnte Systemkritiker sein: Man denke etwa an Shelley. Vielmehr ging es im Fall Friedrich Wilhelms IV. um eine Mischung aus Romantik und einem neuen, ideologischen, den Tendenzen des 19. Jahrhunderts angepassten Konservatismus, einer ideologischen Reaktion auf ein zunehmend ideologisches Zeitalter. Deswegen kann ich das Leben und Wirken dieses Mannes nicht als ein Leben "zwischen Realität und Irrationalität" bezeichnen, sondern vielmehr standen sein Leben und seine Regierung im Dienste eines konsequent ausgeführten ideologischen Projekts, das heißt eines "monarchischen Projekts", das vor allem gegen den Einfluss und gegen die Werte der Französischen Revolution gerichtet war. Wenn man ihn im Kontext seines Zeitalters betrachtet, wirkt er nicht so seltsam, auch wenn er in der Tat ein sehr hochfliegender Mensch war.
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Der künstlerische Nachlass Friedrich Wilhelms IV., der nach 1861 in der Königlichen Hausbibliothek zusammengetragen wurde, umfasst etwa 4.500 Blätter, was etwa 7.200 Seiten entspricht, die mit Zeichnungen versehen worden sind. Welche Geltung messen Sie diesem im Umfang und im Charakter weltweit völlig einmaligen Konvolut von Zeichnungen eines regierenden Monarchen zu?
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Friedrich Wilhelm IV. war ein Mann, der seine Welt vor allem als Bild konzipierte, auch wenn er wortgewandt war und Tausende von Briefen schrieb. Er war eine Künstlernatur mit einem ausgeprägten Sinn für Architektur. Durch seine Zeichnungen lassen sich einmalige Einblicke in seine Vorstellungswelt gewinnen, zumal die Objekte, die er entwarf, keineswegs "nur" Traumbilder darstellten (auch wenn sie nicht realisiert wurden), sondern ideologisch-propagandistische Schaubilder seines monarchischen Projekts. Sie sollten Zweckobjekte sein und zur Verherrlichung seiner antirevolutionären Politik beitragen.
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War der König eher ein Künstler und erst dann König oder umgekehrt? Oder stellt gar beides eine untrennbare Einheit dar?
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Beide Aspekte waren absolut untrennbar. Er war ein Musterbeispiel des Künstlers als Ideologe und als Politiker.
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Wie politisch waren die architektonischen Projekte des Kronprinzen und Königs?
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Sie waren hochpolitisch. Friedrich Wilhelm IV. strebte ein Preußen und ein Deutschland an, die Bollwerke gegen den "verderblichen", "mechanistischen", "absolutistischen" und "satanischen" Einfluss des Parlamentarismus, des bürgerlichen Individualismus und des aufkommenden Liberalismus bilden sollten. Außerdem lehnte er den monarchischen Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts ab. So entwarf er ein idealisiertes, mythologisiertes Bild des deutschen Mittelalters, das angeblich von den Impulsen einer ständisch gegliederten sozialen Ordnung getrieben wurde. Es galt, den Geist dieser ständischen Ordnung zu rekonstruieren, aufgrund monarchischer Treue, christlicher Demut und der Zugehörigkeit zu traditionell gebildeten sozialen Gruppen. Er hoffte auch, den Geist des frühen Christentums neu aufleben zu lassen. Ferner strebte er im Zeitalter des aufkommenden Nationalismus ein alternatives Deutschland an: ein Deutschland nach den – angeblich – monarchisch-ständischen Prinzipien des alten Reichs. So sind seine architektonischen Entwürfe, vor allem seine Dom- und Kirchenentwürfe, durchaus (wenn auch nicht nur) politisch zu verstehen.
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Welchen Wert könnten für ihn Architektur und vor allem das Planen von Architektur jenseits politischer Implikationen gehabt haben?
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Ein Leben ohne Kunst wäre für Friedrich Wilhelm IV. nicht denkbar gewesen. Seelisch unruhig wie er war, stellte die Architektur eine Art Trost für ihn dar, aber sie als eine Flucht in die Phantasie zu beschreiben wäre übertrieben und wohl auch anachronistisch.
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Wie bewerten Sie den Umstand, dass Friedrich Wilhelm IV. offensichtlich zu jedem Zeitpunkt – während der Abendunterhaltung genauso wie beim Vortrag von Ministern und Beamten – gezeichnet hat?
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Viele Politiker und andere Menschen machen das. Ich messe diesem Tatbestand keine große Bedeutung bei, außer dass Friedrich Wilhelm IV. eine leidenschaftliche Künstlernatur war.
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Wie erklären Sie sich die Diskrepanz, die sich aus der Tatsache ergibt, dass Friedrich Wilhelm IV. einerseits als politisch schwach gilt und er den Zeitereignissen mit einer gewissen Hilflosigkeit und einem Zaudern entgegentrat und auf der anderen Seite in seinen Zeichnungen eine sprühende Phantasie und Energie ablesbar sind?
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Es gibt keine Diskrepanz, denn jetzt wissen wir anhand neuerer Forschungen, dass Friedrich Wilhelm IV. nicht ganz so schwankend, hilflos und zauderhaft war, wie frühere Historikergenerationen ihn so oft darstellten. In meiner eigenen Untersuchung beschreibe ich ihn als den konsequentesten und wichtigsten deutschen Herrscher im ganzen Jahrhundert zwischen dem Tod Friedrichs II. 1786 und dem Regierungsantritt Wilhelms II. 1888. Wir wissen zum Beispiel, dass sein Verhalten zwischen Februar 1848 und dem Sommer 1849, wenn in der Tat auch oft schwankend und unentschlossen (insbesondere zwischen März und September 1848), so doch letztendlich klarer und konsequenter war als das Verhalten vieler seiner Zeitgenossen, unter anderem seines Bruders und Thronnachfolgers, des späteren Wilhelms I.
Interview vom August 2009
Prof. Dr. David E. Barclay
Margaret and Roger Scholten Professor of Internatonal Studies
Kalamazoo College
Executive Director
German Studies Association
Publikationen (Auswahl):
Rudolf Wissell als Sozialpolitiker 1890-1933. (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 44), Berlin 1984.
Frederick William IV and the Prussian Monarchy 1840-1861, Oxford 1995 (erweiterte deutsche Ausgabe: Anarchie und guter Wille. Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie, Berlin 1995).
mit Elisabeth Glaser-Schmidt: Transatlantic Images and Perceptions: Germany and America since 1776, New York / Cambridge 1997.
mit Eric D. Weitz: Between Reform and Revolution: German Socialism and Communism from 1840 to 1990, New York / Oxford 1998.
Schaut auf diese Stadt. Der unbekannte Ernst Reuter, Übersetzung von Ilse Utz, Berlin 2000.
Dr. Catharina Hasenclever
Artur-Schnitger-Weg 26a
D-28355 Bremen
Dr. Jörg Meiner
Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg
Abteilung Schlösser und Sammlungen
Postfach 601462
14414 Potsdam
Empfohlene Zitierweise:
David E. Barclay / Catharina Hasenclever / Jörg Meiner : Friedrich Wilhelm IV. von Preußen: Politik und Architektur. Catharina Hasenclever und Jörg Meiner im Gespräch mit David E. Barclay , in: zeitenblicke 9, Nr. 3, [23.12.2010], URL: https://www.zeitenblicke.de/2010/3/Interview/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-27402
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