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Stefan Haas studierte Geschichte, Germanistik, Musikwissenschaft und Philosophie in Mainz und Münster. Nach Gastdozenturen und -professuren in Konstanz, Bielefeld und Nimwegen und an der Universität Toronto ist er seit 2008 Professor für Theorie und Methoden der Geschichtswissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit liegt in der Erforschung der medialen Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis.
 

 

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Eine Geschichte der Geschichtswissenschaft muss, so haben Sie in einem Ihrer Aufsätze formuliert, die "wirklichkeitsgenerierende Bedeutung" ihrer Medien reflektieren. [1] Dabei verweisen Sie auf externe und wissenschaftsimmanente Gründe für das gewachsene Interesse an der Medialität von Kommunikation. Können Sie Ihren Argumentationsgang kurz zusammenfassen?

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Bevor ich anfing, über das Thema Medien und Geschichtswissenschaft nachzudenken, bestand bereits ein Interesse an Neuen Medien, das sich eher aus der Begeisterung für neue Kunstformen einerseits speiste, andererseits aus den Möglichkeiten, die Computerspiele für eine Simulation von Wirklichkeiten boten. Nach und nach wurde mir bewusst, dass dieses Interesse zeitintensiv war, und ich kam auf eine Idee, die einer der großen Vorteile ist, wenn man in einer Wissenschaft arbeitet, die ein sich beständig ausdehnendes Gegenstandsfeld bearbeitet: ich machte aus einer Freizeitaktivität eine berufliche Aufgabe. Vordergründig gab mir dies eine Legitimation, mich mit der in den frühen 1990er Jahren noch sehr jungen digitalen Welten auseinanderzusetzen. Aber nach und nach begann ich, intensiver danach zu fragen, warum ich die Digitalisierung unserer Lebenswelt eher als spannend und nicht, wie viele meiner Kollegen und Kolleginnen, als bedrohlich erlebte. In den frühen 1990er Jahren veränderte sich unsere Lebenswelt grundlegend. Einerseits war der Kalte Krieg zu Ende und mit ihm die Evidenz eines von vielen lange gepflegten bipolaren Weltbildes. Andererseits änderten sich unsere Berufs- und Alltagswelt durch, das was wir heute unter dem Stichwort "Digitalisierung" zusammenfassen. Die Welt, in der wir lebten, geriet in einen Medienumschwung, bewegte sich weg von einer text- und sprachorientierten hin zu einer visuellen Kultur. Das war nochmals ein ganz anderer Schritt, als er mit der Fotografie und dem Film Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts eingesetzt hatte. Auch die Wissenschaften standen unter dem Druck, sich zu positionieren. Dieser gesellschaftliche Druck äußerte sich beispielweise in der Befürchtung, dass diejenigen, die sich den Entwicklungen nicht anzupassen und diese zu nutzen vermögen, an Attraktivität für jüngere Generationen, die mit den Neuen Medien aufwuchsen, verlieren würden. Auch in der Geschichtswissenschaft machten sich Sorgen breit. Daher gab es früh auch bei denjenigen, die methodisch und theoretisch eher konservativ aufgestellt waren, eine gewisse Bereitschaft, nicht allzu laut gegen eine Öffnung der Wissenschaften gegenüber den digitalen Medien zu argumentieren. Sicher war diese Forderung nach Reaktion auf gesamtgesellschaftlich relevante technische Entwicklungen ein gutes Argument, aber es war nicht hinreichend, um in diese Richtung tatsächlich tätig zu werden. Bei der Suche nach einem Argument, das eine stärkere Berücksichtigung von Medialität in der Geschichtswissenschaft tatsächlich legitimieren konnte, half mir die Frage weiter, warum ich mich eigentlich als ein junger Historiker, der sich mit Theoriebildung, dem Gegensatz von Moderne und Postmoderne sowie dem Cultural Turn beschäftigte, selbst für digitale Medien interessierte und welche Hoffnung sich mit diesem Interesse für mich verband.

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Ich habe dann gemerkt, dass mein Interesse an den neuen digitalen Medien nicht aus einem äußeren Druck resultierte, aus einer oberflächlichen Faszination für Bilder, sondern daraus, dass es bestimmte Probleme innerhalb der Wissenschaftsentwicklung selbst gab, die für mich wichtig waren. Ich hatte das Gefühl, dass sich jene Probleme vielleicht mit Hilfe der Neuen Medien lösen ließen. Dazu gehörte etwa, dass im Kontext von Postmoderne und Poststrukturalismus die Pluralisierung von Wissenschaften und von Wissensgenerierung ein wichtiges Thema geworden war. Ebenso gehört auch eine sehr viel stärkere Reflexion dazu, was eigentlich Wissensgenerierung ausmacht. Ich merkte nun, dass für bestimmte Lücken, die die klassische, noch von mir erlernte Art und Weise, Geschichtswissenschaft zu betreiben, offen gelassen hatte, vielleicht Antworten geben könnte aus dem Bereich der neuen, digitalen Medien. Zum Beispiel die geforderte Pluralisierung, die man eigentlich kaum im klassischen linearen Text abbilden kann, die aber vielleicht in einem multimedialen Kontext darstellbar ist. Das waren die Ausgangsüberlegungen, die mich dahin geführt haben, über die Thematik nachzudenken, nicht so sehr also eine Reaktion auf gesellschaftlich-technische Veränderungen, als die Hoffnung, Probleme in der wissenschaftlichen Theoriebildung lösen zu können.

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Wenn ich eine Zusatzfrage stellen darf: Wieweit ist Wissenschaftlichkeit in den Neuen Medien überhaupt möglich? Geschichtswissenschaft hat im Laufe der Zeit spezifische Textsorten, spezifische Textanordnungen entwickelt, die ein hohes Maß von Überprüfbarkeit und Nutzbarkeit gewährleisten. Wir haben im Moment aber noch keine Vorstellung davon, wie die Neuen Medien in einer vergleichbaren wissenschaftlichen Form eingesetzt werden können. Was unterscheidet den wissenschaftlichen Film, das wissenschaftliche Computerprogramm von einem Film, von einem Programm, das gerade nicht wissenschaftlich ist? Wissen wir das schon?

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Das wissen wir noch nicht. Wir sind gerade dabei, darüber nachzudenken. Eins der zentralen Argumente gegen die Medialisierung der Geschichtswissenschaft ist, dass mit der Sprache eine bestimmte Rationalität verbunden ist und diese Rationalität nicht aufgegeben werden dürfe. Daran gebunden ist der ganze Bereich des Geschichtsdenkens, insofern behauptet wird, dass erst mit der textlichen Reflexion über Geschichte die eigentliche Geschichtsbetrachtung anfängt. Reflexivität von Geschichte und damit auch eine gewisse Form von Rationalität werden im klassischen Geschichtsverständnis an die Entstehung von Schriftlichkeit und damit an Textmedien angebunden. Das merkt man an solchen Begriffen wie "Vorgeschichte". Dass es so etwas wie "Vorgeschichte" gibt, ist für mich persönlich nicht wirklich denkbar. Gemeint ist, dass "Geschichte" erst in dem Moment anfängt, wo sie verschriftlicht wird, und dadurch der Reflexionsprozess an Rationalität gewinnt. Darin zeigt sich ein typisches Denken des 19. Jahrhunderts. Das andere Argument, Schriftlichkeit nicht leichtgläubig aufzugeben, ist, dass Überprüfbarkeit und Diskutierfähigkeit wissenschaftlicher Ergebnisse an Sprache als dem klassischen Medium rationaler Selbstkritik gekoppelt zu sein scheinen. Das ist ein sehr bedeutender Punkt bei der Frage, ob sich die Geisteswissenschaften von Text- zu visuellen Wissenschaften entwickeln sollen. Es wird zu überlegen sein, wie man Aussagen noch überprüfbar und kritisierbar machen kann? Wie kritisiert man beispielsweise einen Geschichtsdokumentarfilm im Fernsehen? Muss man dazu selber wiederum einen Film generieren, um die Rationalitätsebene zu halten? Ist das tatsächlich eine andere Form von Rationalität? Oder kann man auch sprachlich darauf reagieren. Wie kritisiert man beispielsweise einen "visuellen Ausdruck" von Geschichte wie beispielsweise eine Mindmap, deren Sinn es gerade ist, nicht lineare Abhängigkeiten einzelner Elemente abzubilden, sondern deren komplexe Vernetzung? Geht das in einem Text – oder muss eine andere visuelle Organisationsform kreiert werden, um adäquat auf einen solchen Vorschlag und den mit ihm verbundenen Anspruch auf Erkenntniszuwachs reagieren zu können? Das ist sicherlich eines der zentralen epistemologisch-medialen Probleme, die in diesem Segment zu lösen sein werden.

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Könnte ein Blick auf die Naturwissenschaften und deren Umgang mit Bildern und Visuellem eine Hilfe sein?

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Es gibt sehr spannende Forschungen von Karin Knorr-Cetina über Viskurse in der Physik, wo sie feststellt, dass in den naturwissenschaftlichen Laboren die Aushandlungsprozesse zunehmend über visuelle Darstellungsformen, über Organigramme oder ähnliche visuelle Darstellungen erfolgen [2] Sie schreibt, wer nicht in der Lage ist, seine Hypothesen visuell zu präsentieren, habe beinahe keine Chancen mehr, sich wirklich durchzusetzen. Da scheint inzwischen eine Komplexität im wissenschaftlichen Diskurs erreicht zu sein, die gar nicht mehr sprachlich abbildbar ist, so dass wir also schon überlegen müssen, ob wir so eine Art von Komplexität als Komplement zur Rationalität nicht tatsächlich besser in visuellen Medien repräsentieren können. Noch gibt es keine Forschung zu der Frage, wie solche Aushandlungsprozesse in den Geistes- und Sozialwissenschaften passieren, zumal wir nicht eine ähnlich abgeschlossene Arbeitssituation wie das Labor haben. Aber auch im Konferenzalltag macht sich diese Tendenz zur Visualisierung auch in diesen Wissenschaft zunehmend bemerkbar und die aus der Praxis – weniger aus theoretischen Erwägungen – stammende Suche nach neuen Repräsentationsformen für das Wissen, das wir generieren, scheint auch hier zunehmend habituell prägend zu sein.

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Gleichzeitig beobachten Sie den Wandel der abendländischen Medienlandschaft der Neuzeit von einer primär schriftlichen zu einer visuellen Kultur. [3] Wie hat sich der Wandel vollzogen und was bedeutet er für die Geschichtswissenschaft?

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Es ist für mich immer noch erstaunlich, dass Rainer Wohlfeil in den 1980er Jahren einen Text über das Bild als historische Quelle geschrieben hat und dieser Text ausführlich begründen musste, warum man sich innerhalb der Geschichtswissenschaft mit Bildern als Quelle beschäftigen kann oder besser gesagt: darf. [4] Das ist heute kaum mehr nachvollziehbar, ist aber sicherlich ein Resultat der Textfokussierung der Geschichtswissenschaft und ihrer Präferenz einer spezifisch textlichen Rationalität. Andere Medien wie Bilder, Filme, multimediale Anwendungen oder Hypertexte haben durchaus eine eigene Rationalität. Um diese in unserer Arbeit fruchtbar zu machen, sowohl in Hinsicht auf ihre Verwendung als Quellen als auch als Ausdrucksmedien für Erkenntnis, müssen wir zeigen, dass sie eine eigene Form von Diskursivität haben, die es erlaubt, sie kritisch zu diskutieren. Das stellt eine besondere Herausforderung für Historiker und Historikerinnen dar. Denn sie müssen ihre klassische Kompetenz für Textmedien erweitern und Fachwissen über die Funktionsweise anderer Medien sich aneignen – eine Herausforderung, die sich erst langsam an der Entstehung neuer Kurseinheiten im Universitätsstudium niederzuschlagen beginnt. Doch die Einsicht, dass es einen Unterschied macht, ob man einen Text oder ein visuelles Medium wie Bild oder Film interpretiert, ist mittlerweile weit verbreitet.

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Dann gibt es mit dem "linguistic turn" einen spezifischen Kontext, der die Diskussion in 80er und 90er Jahren mit der Aussage, dass eigentlich alles ein Text sei und man alles wie einen Text behandeln müsse, nicht eben einfacher gemacht hat. Es gab damals so wunderbare Aufsätze wie "The City as Text", in denen versucht wird, die Stadt wie einen Text zu lesen und mit textwissenschaftlichen Methoden an das Thema heran zugehen. [5] Für sich genommen brachte dieser Ansatz einen zentralen Erkenntnisgewinn, indem die Aneignung einer Sache, in diesem Fall der Stadt, und damit auch ihre Vieldeutigkeit thematisierbar wurden. Er war nahezu universell anwendbar. Alles konnte entlang der Textmetapher interpretiert werden – auch Bilder, denen man sich im Kontext des linguistic turn mit texthermeneutischem Werkzeug nähern konnte. Spannend wird es dann dort, wo im Kontext eines visual turn, dem Bild eine Eigenmächtigkeit und Eigenartigkeit zugeschrieben wird, die es vom Text unterscheidet. Diese konnten sich wiederum an Textauffassungen orientieren, die bereits in den 1960er und 70er Jahren entwickelt worden waren:
An der klassischen Vorstellung, der Text spiegele die Intention eines Autors, und diese Intention könne von einem Leser oder einer Leserin eins zu eins nachvollzogen und durch Hineinfühlen verstanden werden, an diesem klassischen hermeneutischen Zirkel also, sind zunehmend Zweifel aufgekommen. Dieser Öffnungsprozess ist wesentlich verantwortlich dafür, dass auch bei Bildern nicht mehr die Autorenintention gesucht wird, sondern das Bildliche selbst in den Fokus gerät. Heute haben wir angefangen zu verstehen, dass selbst Texte Mehrdeutigkeiten produzieren und diese eineindeutige Rationalität nicht haben. Von dort aus ist es nur noch ein kleiner Schritt, die anderen Medien zu akzeptieren, weil man dann die Verlusterfahrungen nicht mehr so sehr verspürt. Zusammenfassend bedeutet dies für Historikerinnen und Historiker, sich medial in ihrer Arbeit weniger festzulegen und die medientheoretisch begründete Ausweitung des Quellenbegriffs wie der praxeologischen Arbeitsweisen als Herausforderung anzunehmen.

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Bedeuten die beschriebenen Veränderungen nicht einen Verlust an vertrauter Arbeitsumgebung? Wenige Bibliotheken sind auf die neuen Herausforderungen vorbereitet, wenige private Arbeitszimmer entsprechend eingerichtet. Ausgeglichen wird es zum Teil durch das Internet, wo man Graphiken, Karten, Bilder, Musik, Filme findet. Doch bestätigt das nicht umso mehr, dass Historikerinnen und Historiker heute anders arbeiten als früher und dass sie sich anders einrichten müssen als früher?

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Das ist so. Einen meiner ersten öffentlichen Vorträge hielt ich zum Thema "Die Sprache des Historikers". Ich unterlegte meinen Beitrag mit einer Präsentation, in der ein Gremlinmonster eine Grafik, die das klassische Verständnis der Geschichtswissenschaft repräsentierte, auffraß. Das war aber nur der Einstiegsgag. Zentral war eine Animation, in der durch Bewegung der Wörter lineare Textlogik aufgebrochen und eine Gleichwertigkeit von Elementen in einer pluralen Situation adäquater repräsentiert werden sollte. [6] Der Beamer, den die Universität Münster für den Tag, die erste hauseigene Tagung für Nachwuchswissenschaftler und –wissenschaftlerinnen, ausgeliehen hatte – festinstallierte gab es noch nicht -, mussten zwei Möbelpacker tragen. Das war 1997. Die Praxis, die ich in einem Studium als typischer Gastvortragsstil kennen gelernt hatte, zu einem Vortrag nur ein paar handbeschriebene Zettel mitzubringen und sich hinter ein Pult zu kauern, verlor zunehmend an Attraktivität. Mit der Möglichkeit stieg auch die Nachfrage nach dem Einsatz neuer technischer Apparatur. Mittlerweile werden die Apparate zunehmend kleiner. Sie unterliegen fast einer Entkörperlichung, sicher meines Erachtens aber einer Enträumlichung. Ich selbst kaufe kaum noch physische anfassbare Bücher. Ich bestelle sie mir als Files und habe sie ständig auf meinem Computer verfügbar. Egal, wo ich hingehe, ich habe ständig meine komplette Bibliothek bei mir. Angewöhnt habe ich mir diese Arbeitsweise in Kanada, wo ich als Leiter des DAAD Büros viel unterwegs war und dennoch gewährleisten musste, dass Forschung und Lehrvorbereitung an häufig wechselnden Arbeitsplätzen möglich war. Insofern kann man dies eine Enträumlichung nennen, als das Wissen nicht an einen Arbeitsplatz und eine Bibliothek gebunden ist.

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Das Visuelle ist durch Ausdifferenzierung innerhalb des wissenschaftlichen Systems aus der Geschichtswissenschaft ausgelagert worden. Zu nennen sind hier z.B.: die Kunstgeschichte, die Filmgeschichte, die Fernsehgeschichte, aber auch die Museen. Was bedeutet das für die geschichtswissenschaftliche Forschung und Lehre?

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Hier haben wir ein Grundproblem der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Die Ordnungskriterien, nach denen wir die Disziplinen über Jahrzehnte hinweg auseinandergehalten haben, sind brüchig geworden, brüchig geworden durch das, was wir als "cultural turn" bezeichnen können. Wenn ich mir meinen eigenen Arbeitsalltag anschaue, welche Kooperationen sich ergeben, dann sind das Kooperationen mit sehr unterschiedliche Fächern: Ethnologie, Soziologe, aber auch Germanistik, Amerikanistik und Kunstwissenschaft. Fächer, die eigentlich alle sehr ähnlich arbeiten. Man kann durch die methodische Ähnlichkeit die Unterschiede zwischen den einzelnen Disziplinen manchmal kaum mehr richtig festmachen. Dies liegt nach meinem Eindruck daran, dass die Theoriebildung die Herausbildung einer Metasprache ermöglicht hat. Wir können uns heute über die Ergebnisse der verschiedenen Disziplinen unterhalten und sind anschlussfähig, weil wir diese Ergebnisse mit einer theoretischen Metasprache erfassen. Selbst Einzelergebnisse sind diskutierbar, da wir sie vor dem Hintergrund von theoretischen Überlegungen reflektieren. Im Ergebnis macht das die Zusammenarbeit sehr intensiv und sehr eng, und man spürt gar nicht mehr so sehr die disziplinären Differenzen, die ich eigentlich noch von meinen akademischen Lehrern kenne. Sie sagten noch: Hier ist die Geschichtswissenschaft, dort die Literaturwissenschaft, da hinten ist die Theologie, die ist wiederum etwas ganz Anderes, und dort die Soziologie; da kann man vielleicht hinschauen und etwas von dort rezipieren, mehr aber nicht. Heute sind die Möglichkeiten zur Kooperation sehr viel klarer konturiert. Dadurch aber verliert man natürlich auch Gegenstands- oder Objektbereiche, die "einem bestimmten Fach gehören". Ein ganz klassisches Feld, das ich als jemand, der im Kontext von Alltags- und Kulturgeschichte groß geworden ist, durchaus überblicke, ist das Verhältnis von Europäischer Ethnologie und Alltagsgeschichte. Beide lassen sich tatsächlich kaum noch voneinander unterscheiden.

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Mittlerweile sind wir aber schon dabei, die disziplinären Unterscheidungen neu zu sortieren. Für die Medien bedeutet das, dass wir die Kompetenzen für bestimmte Medien neu sortieren. Wir sagen nicht mehr, dass die Kunst oder der Film ein Expertenwissen erfordere, das nur die Kunst- bzw. Filmwissenschaftler haben, sondern dass wir diese Medien in ganz unterschiedlichen Kontexten diskutieren und eine entsprechende Expertise entwickeln können. Die Geschichtswissenschaft hat ohnehin eine Sonderstellung, weil sie ein Fach ist, das sich mit allem und mit jedem beschäftigen kann und dann im spezifischen Fall auch eine entsprechende Fertigkeit entwickeln muss. Wir Historiker und Historikerinnen arbeiten in einem Fach, das kaum noch über eine wirklich eigene Expertise verfügt, außer der historischen Kontextbildung. Da merkt man dann häufig in Auseinandersetzung mit sehr formal aufgestellten Literaturwissenschaften, welche Schwierigkeiten sie haben, eine historische Kontextualisierung vorzunehmen - die sie aber auch nicht als ihre Aufgabe begreifen, wenn sie formal argumentieren. Da liegt sicherlich ein Teil unserer Kernkompetenz. Aber ansonsten sehe ich diesen Auflösungsprozess von medialer Expertise als einen Vorteil an.

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Ein wichtiger Punkt, in dem die Geschichtswissenschaft noch wirklich einmalig ist und auf den sie in der Ausbildung auch Wert legen sollte, ist das historische Kontextualisieren. Damit meine ich ganz konkret die Fähigkeit, einzelne Quellen, einzelne Ereignisse, einzelne Geschehnisse, wie wir sie in den Quellen repräsentiert finden, tatsächlich in einer methodisch sehr ausdifferenzierten, feinsinnigen Art in einen Kontext einzuordnen.

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Wenn Geschichtswissenschaft keine eigenständige Methode hat, nur durch eine spezifische Perspektive auf den Gegenstandsbereich gekennzeichnet ist, was bleibt dann von der Geschichtswissenschaft als Fach übrig? Wird die Geschichte in Bindestrichhistorien, von denen Sie auch gesprochen haben, aufgehen, also in Literaturgeschichte, historische Ethnologie, geschichtlich orientierte Politikwissenschaft, Wirtschaftsgeschichte usw.?

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Die Geschichtswissenschaft besitzt noch eine ganz andere Kompetenz: da sie nicht auf einen Objektbereich festgelegt ist, kann sie Synthesen bilden. Um bei den Medien zu bleiben: Geschichtswissenschaft spricht verschiedene Medien an, kann verschiedene Medien integrieren, ist in der Lage, die intermedialen oder die interkulturellen Bezüge in jeweils anderen Kontexten zu thematisieren. Weil sie keine Regionalwissenschaft ist, kann sie als Wissenschaft die Beziehungen zwischen verschiedenen Regionen untersuchen, mögen diese räumlich, thematisch oder methodisch definiert sein. Ich habe immer das Gefühl, dass die Geschichtswissenschaft eine der wenigen Synthesedisziplinen ist, die überhaupt darüber nachdenken kann, ob es so etwas wie eine Einheit des Wissens oder Universalität des Wissens gibt. Sie kann versuchen aufzuzeigen - auch wenn dies sicherlich eine schwierige Aufgabe ist ‑, dass Wissen nicht in lauter kleine Wissensinseln und kleine Geschichten zerfällt, wie das bei Lyotard noch heißt. [7] Vielmehr gibt es durchaus noch eine große Geschichte, die die vielen kleinen Geschichten integriert. Das sollte nicht in der Art einer Metaerzählung erfolgen, sondern sollte sich ergeben als Art und Weise einer spezifischen disziplinären Praktik, als Resultat eines kooperativen, kommunikativen Miteinanderarbeitens. Denn ein Einzelner kann dieses Ziel nicht mehr alleine realisieren. Da löst sich tatsächlich der Person- und Werksbegriff auf. Es kann nicht mehr eine Person oder ein einzelnes Werk geben, das das Wissen zusammenfasst. Aber es kann eine bestimmte partizipative Praktik sein, die diese Zusammenhänge noch thematisiert, ohne sich damit in Einzelfelder zu verlieren.

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Dazu gehört auch die Forderung, dass die Geschichtswissenschaft sich medial offenhält und versucht, angemessene Repräsentationsformen für diese Form des Wissens zu finden. Gerade deshalb ist die Beschäftigung mit Medien in der Geschichtswissenschaft zentral. Nicht nur, weil Medien ein zentrales Phänomen der Geschichte sind, sondern weil sie für uns als Ausdrucks- oder als Erkenntnismedium wichtig sind. Wir benötigen ein Medium, das die erforderliche Komplexität einfangen und darstellen kann. Hier spielt mein anderes zentrales Interesse an den Medien hinein: die Frage, wie ich ein irgendwie geartetes synthetisches, umfassendes, aber gleichzeitig in sich pluralistisches und heterogenes Wissen zum Ausdruck bringen kann. Dies funktioniert gewiss nicht mehr in Form einer Metaerzählung, die immer auch ein Text ist. Aber ich habe die begründete Hoffnung, dass sich für uns die Möglichkeit schaffen lässt, dies mit Hilfe der Neuen Medien zu erreichen.

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Während es relativ wenig Widerspruch zu der Aussage gibt, dass die Geschichtswissenschaft auch bildliche Quellen auswerten solle, plädieren Sie also dafür, das Bildliche auch als Medium zur Formulierung und Vermittlung von Erkenntnis zu nutzen. Dies hat eine ganze Reihe von Implikationen. Zunächst einmal: Gibt es für Sie gelungene Beispiele einer visuellen Darstellung geschichtswissenschaftlicher Einsichten?

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Leider kenne ich kein Beispiel, das den beschriebenen Ansprüchen bereits genügt. Ich selbst bin mit meinen eigenen Versuchen in diese Richtung auch noch keineswegs zufrieden. Es gibt natürlich Versuche in dieser Richtung, beispielsweise Derridas Buch Glas (Totenglocke), in dem er versucht, verschiedene Textformen aufeinander prallen zu lassen und dadurch Sinnverschiebungen zu evozieren. [8] Natalie Zemon Davies hat durch fiktive Dialoge versucht, eine Form zu finden, ihre Auseinandersetzung mit den drei Protagonistinnen eines ihrer Bücher zu repräsentieren. [9] Faszinierende Versuche, die aber nicht systematisch in der Geschichtswissenschaft aufgegriffen werden. Insgesamt scheint mir die Gegenwart in dieser Richtung weniger experimentierfreudig zu sein, als noch die 1990er Jahre. Wenn man sich aber die ungelösten Probleme in der wissenschaftstheoretischen Reflexion anschaut, dann könnten es genau solche medialen Experimente sein, die uns einer Lösung ein Stück näher bringen.

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Man könnte Ihnen vorhalten, dass Sie etwas einfordern, von dem zur Zeit die Verwirklichungsfähigkeit noch nicht erwiesen ist. Wie würden Sie sich gegenüber einem solchen Vorwurf behaupten?

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Mit zwei Argumentationssträngen. Der erste Argumentationsstrang ist der Verweis darauf, dass wir zunächst den Versuch machen müssen, den Ort klar herauszuarbeiten, an dem die Lücke zu finden ist, die geschlossen werden muss, an dem also das Defizit der klassischen Art und Weise liegt, Geschichte zu schreiben. Hier muss man dann das Ganze theoretisch durchdenken und formulieren. Das ist erst einmal eine Aufgabe, die es auch erlaubt, genau zu überlegen, in welche Richtung dann eine Realisierung gehen könnte. Das ist das, was ich versucht habe zu tun, nämlich eine geschichtstheoretische Argumentation zu entwickeln, die formuliert, warum es sinnvoll sein kann, darüber nachzudenken, dass wir uns über neue mediale Ausdrucksformen für Wissen unterhalten, das wir generieren.

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Die andere ist eine rein praktische Sache, man braucht natürlich bestimmte Ressourcen. Und diese Ressourcen sind nicht billig. Ich habe das Glück, dass ich jetzt seit 2008 den Lehrstuhl für Theorie und Methoden der Geschichtswissenschaft in Göttingen innehabe, und dieser Lehrstuhl lässt mir nun die Möglichkeit, daran zu arbeiten, die Lücke zu schließen. Es bedarf einer Medienausrüstung und des Aufbaus von Methoden- und Medienkompetenz in einem Team, ohne dass sich ein solches Vorhaben nicht realisieren lassen lässt. Und man braucht junge, dynamische, begeisterungsfähige Studierende, die sich auf diese Arbeit einlassen. Derzeit arbeiten wir an einer multimedialen Repräsentationsform der Bedingungen postmodernen Geschichtswissens, die wir als paradigmatische Produktion in den genannten Kontexten ansehen. Wir gehen davon aus, dass wir dies in den nächsten zwei Jahren vorlegen können.

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In Ihrer Arbeit zur Verwaltungsgeschichte der preußischen Reformzeit [10] interessieren Sie nicht die Intentionen der Handelnden, sondern die Kultur des Verwaltungsalltags, das Herstellen von Sinn durch Symbole und soziale Praktiken, das Umschreiben der Texte. Wie haben Sie dort gearbeitet? Welche Hilfsmittel haben Sie genutzt? Und welche Rolle spielte das Visuelle?

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Ich schreibe gerne Texte. Und ich halte auch sehr gerne Vorträge. Ich lege Wert darauf, dass die Vorträge, die ich halte, nicht als Text ausgearbeitet sind. Ich glaube schon, dass es wichtig ist, dass wir diese beiden Medien, den mündlichen Vortrag und den schriftlichen Text, beibehalten, dass wir sie nicht austauschen, verwechselbar machen, denn die haben einen jeweils eigenen Reiz, eigene Qualitäten. Und sie machen nicht nur Spaß bei der Erzeugung, sondern sie haben ihre je eigene Bedeutung. Dasselbe gilt für andere Darstellungsformen. Es geht nicht um die Entscheidung, ob man wissenschaftliche Filme produzieren oder wissenschaftliche Hypermedien verwenden und dafür die Textmedien aufgeben sollte. Es geht darum, für eine sich thematisch ausdehnende Geschichtswissenschaft Medien zu finden, die die Komplexität des generierten Wissens zu repräsentieren in der Lage sind.

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In meiner Arbeit zur preußischen Verwaltung ging es auch um die Frage, wie die preußische Verwaltung als eine textgenerierende Organisation, die versucht, sich selbst einer ganz strikten Rationalität zu unterwerfen, an ihre Grenzen stößt. Wo liegen die Punkte, an denen diese Rationalität aufgebrochen wird? Wir können erkennen, dass die preußische Verwaltung bei weitem nicht so rational war, wie sie sich selber und wie Max Weber sie gesehen hat. Sie funktionierte in vielen Bereichen sogar sehr irrational. Diese Irrationalität resultierte vielfach aus der Verwendung visueller Medien in der preußischen Verwaltung selbst. Was ich sehr intensiv untersacht habe, war das Phänomen der Ziviluniform, besonders der Sinngenerierung, die über die Ziviluniform erzeugt wurde. Ziviluniformen sind ein bestimmtes Zeichensystem, das signalisiert, welcher Behörde jemand zugehört und welche Entscheidungskompetenzen jemand hat. Sie suggerieren damit eine bestimmte Eindeutigkeit im Kommunikationsprozess an der Schnittstelle von Verwaltung und Gesellschaft. Aber man kann auch in den Akten dafür Beispiele finden, dass dieser Kommunikationsprozess nicht funktionierte, dass nicht die erwünschte Eindeutigkeit der Lesbarkeit des "Beamten"-Körpers hergestellt wurde. Das ist prinzipiell der Mehrdeutigkeit von Medien geschuldet, die man bei visuellen Medien vielleicht noch eher spürt als bei Texten, obwohl sie dort auch vorhanden ist. In gewisser Weise gibt es eine Kongruenz zwischen den thematischen Interessen und der eigenen Arbeitsweise: wie ich mich empirisch für visuelle Medien interessiere, so ist auch mein eigenes Arbeit sehr visuell ausgelegt. Ich arbeite weniger mit linear textlichen Entwürfen einer Argumentationslogik für einen Aufsatz oder ein Buch als mit einer visuellen Darstellung. Ich benutze Mindmaps und ähnliche Organigrammformen, um Argumentationskontexte zu entwerfen und Vorträge oder Publikationen zu planen. Auch wenn das Ergebnis später meist ein Text ist, ist das Entwurfsstadium doch sehr visuell ausgerichtet.

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Welche Konsequenzen haben Ihre Überlegungen für die Ausbildung in der Geschichtswissenschaft? Der Anspruch ist, so scheint mir, außerordentlich groß, weil er mediale Kompetenzen auf der Ebene der Quellen, der Ordnungssysteme und der Darstellungsformen einfordert.

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Ja, der Anspruch ist sehr groß, weil er so unglaublich viele Kompetenzen umfasst. Ich habe einmal, schon in den 1990er Jahren, eine Folie für meine Lehrveranstaltung entworfen, die zeigt, welche Fähigkeiten klassische Historiker und Historikerinnen brauchen: Textrecherche, Textgenerierung, Textverständnis müssen als Fähigkeiten erworben werden. Wenn man das einfach multipliziert mit den vielen neuen Medien, mit denen wir uns heute befassen müssen - Film, Bild, Multimedia, Hypermedia und anderen medialen Formen - dann wird das dermaßen komplex und anspruchsvoll, dass man das in einem kurzen Studium nicht mehr bewältigen kann. Das ist vergleichbar mit der thematischen Vielfalt, die wir heute haben. Diese thematische Vielfalt, die wir in der Geschichtswissenschaft als Forschungsfelder haben, lässt sich auch nicht mehr in ein Studium packen. Was wir also den Studierenden vermitteln müssen und wobei wir ihnen helfen müssen, ist, bestimmte Grundfähigkeiten zu entwickeln in der Sensibilisierung im Umgang mit Medien und der Fähigkeit, sich in Medien auszudrücken, der Fähigkeit, sich selbst und Wissen zu organisieren. Das sind relativ neue Anforderungen, die neben klassische Fertigkeiten treten, Erkenntnisse aus Quellen herauszuarbeiten und diese zu kontextualisieren. Das Studium verschiebt sich sozusagen weg von der Geschichte, in dem Sinne des Wissens um die Vergangenheit, hin zu einer Art methodologischer Toolbox. Dann kann jeder Studierende selbst die thematischen, aber eben auch die medialen Schwerpunkte legen. Ich selber bin gar nicht einmal so davon überzeugt, dass wir Masterstudiengänge über historische Filmproduktion brauchen, weil es dafür vielleicht auch nicht den Arbeitsmarkt gibt, jedenfalls gibt es ihn nicht so, dass man sich schon nach dem Bachelor dafür festlegen könnte. Es gibt auch Arbeitsbereiche, die multimediale Fähigkeiten benötigen, wie etwa das Museum. Das Museum ist von je her ein multimedialer Ort gewesen. Wir müssen daher unsere Studierenden so stark machen, dass sie das Gefühl haben: 'Auch wenn ich nicht alles beherrsche, nicht alles kann, kann ich mich im Rahmen dessen, was es an Möglichkeiten gibt, für etwas entscheiden, was meinen eigenen, individuellen Interessen entspricht.' Wir sollten versuchen, ihnen zu helfen, in dem großen Möglichkeitsraum, den die Geschichtswissenschaft bietet, selbstbewusst ihren eigenen Standort zu finden.

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Damit gelangen wir allerdings in einen Widerspruch der Erwartungen: zum einen den Erwartungen, die an uns von außen herangetragen werden, und denen, was wir an der Hochschule wirklich leisten können. Unsere Lehramtsstudierenden, um ein Beispiel anzuführen, sollen das "Grundhandwerk" der Historiker beherrschen wie etwa geschicktes Recherchieren, Quelleninterpretation, Kontextualisierung und Darstellungsformen. Sie sollen also über einordnendes Handbuchwissen verfügen, Lehrkompetenzen besitzen und die verschiedenen Diagnoseverfahren zur Eigenbeobachtung des Unterrichts kennen, ohne dass diese Auflistung vollständig wäre.

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Es ist auch schwer, vor allem weil die Studierenden es nicht so erleben, wie es ich formuliert habe. Aus meiner Perspektive kann ich natürlich leicht sagen: 'Wir erwarten nicht mehr von euch, dass ihr euch ein bestimmtes historisches Wissen aneignet, sucht euch selber Schwerpunkte aus, und wir helfen euch, diese Schwerpunkte so gut es geht weiterzuentwickeln'. Sie selbst erleben sich aber in einer Situation, in der, wenn sie eigene Schwerpunkte setzen und entsprechende Seminare und Vorlesungen belegen, ganz viele Lücken im Wissen bleiben. Sie selber entwickeln leider nicht unbedingt das Gefühl von Sicherheit. Für die Studierenden ist es ein großes Problem, dieses Selbstbewusstsein aufzubauen: Auch wenn ich nicht alles weiß und nicht alles beherrschen kann, bin ich trotzdem gut qualifiziert und kann mich sicher im Fach bewegen. Meine Lösung, diese Unsicherheit zu verringern, besteht darin, auf Theorie zu verweisen. Theorie ist übersichtlicher. Es gibt nicht so unendlich viele Theorien wie es Themen und historische Phänomene gibt. Wenn man also Orientierungswissen hat und wenn man gut organisiert ist, kann man eine gewisse Form von Sicherheit erreichen. Mit dem einen Dutzend Theorien, die es gibt, kann man schon einmal die Wissensbestände, auf die man stößt, sortieren. So hat man eher den Eindruck, dass man das Wissen beherrscht‑ und nicht, dass man sich von der überbordenden Fülle von Büchern, die in der Bibliothek stehen, erdrückt fühlt. Das ist das, was wir in Göttingen versuchen.

Gesprächspartner:

Prof. Dr. Stefan Haas
Georg-August-Universität Göttingen
Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte
Platz der Göttinger Sieben 5
37073 Göttingen
Email: stefan.haas@phil.uni-goettingen.de

Prof. Dr. Armin Heinen
Historisches Institut der RWTH Aachen
Theaterplatz 14
52056 Aachen
Tel.: +49 (0) 241-80-2-6036
E-Mail: Armin.Heinen@post.rwth-aachen.de



[1] Stefan Haas: Designing knowledge. Theoretische und pragmatische Perspektiven der medialen Bedingungen der Erkenntnisformulierung und -vermittlung in den Kultur- und Sozialwissenschaften, in: Fabio Crivellari / Kay Kirchmann / Marcus Sandl / Rudolf Schlögl (Hg.): Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004, 211–236, hier 216.

[2] Klaus Amann / Karin Knorr-Cetina: The fixation of (visual) evidence, in: Human Studies 11 (1988), 133-169; Karin Knorr-Cetina: Viskurse der Physik, in: Bettina Heintz / Jörg Huber (Hg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich 2001, 305-320.

[3] Haas, Designing knowledge (wie Anm. 1), 216.

[4] Rainer Wohlfeil: Das Bild als Geschichtsquelle, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), 91-100; siehe auch: Brigitte Tolkemitt / Rainer Wohlfeil (Hg.): Historische Bildkunde. Probleme - Wege - Beispiele, Berlin 1991.

[5] Michel de Certeau: The practice of everyday life, Berkeley 1984; James S. Duncan: The city as text. The politics of landscape interpretation in the Kandyan kingdom, Cambridge 1990; James Donald: Metropolis. The city as text, in: Robert Bocock / Kenneth Thompson (Hg.): Social and cultural forms of modernity, Cambridge 1992, 417-470.

[6] Gedruckt als Stefan Haas: Die Sprache des Historikers. Multimediale Perspektiven interkultureller Verständigung, in: Forschungsjournal der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 1 (1997), 18-20.

[7] Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen, 5. Aufl., Wien 2006.

[8] Jacques Derrida: Glas, Paris 1974.

[9] Natalie Zemon Davies: Drei Frauenleben, Berlin 1996.

[10] Stefan Haas: Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800-1848, Frankfurt a.M. 2005.

Empfohlene Zitierweise:

Stefan Haas / Armin Heinen : Visualität und Geschichtswissenschaft oder Über die Anstrengungen, eine Synthese humanwissenschaftlicher Perspektiven und Methoden herzustellen. Ein Interview mit Stefan Haas , in: zeitenblicke 10, Nr. 1, [09.08.2011], URL: https://www.zeitenblicke.de/2011/1/Interview/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-30875

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