In der Ära der Verwissenschaftlichung des Reisens nimmt Alexander von Humboldts Amerikareise (1799-1804) eine zentrale Stellung ein. Humboldt wird in der Forschung wie auch bereits von den Zeitgenossen als souveräne Persönlichkeit beschrieben: sei es als Entdecker alten Stils mit kolonialistischem Narrativ, sei es als humanistischer Kosmopolit. Der Blick auf Humboldts Texte aus der Kontaktzone während seiner Reise zeigt jedoch ein Forscher-Ich, das sich irritiert-fasziniert und oft desorientiert durch das Dickicht der fremden Kulturen tastet. Humboldt kommuniziert dabei möglichst direkt und unmittelbar mit den Indigenen. Seine Beobachtungen lösen Selbstreflexionen aus. Er kritisiert europäische Stereotype über Amerika und testet selbst unterschiedliche Standpunkte. Die Sprachkompetenz ist für ihn ein Beleg für die Kulturfähigkeit der Indigenen. Andererseits erwägt er deren 'Zivilisierung' durch die Übernahme europäischer Sprachen. Trotz seiner dezidiert europäischen Ausgangspositionen sucht Humboldt in Amerika nicht nach dem kategorisch Anderen und insistiert nicht auf Differenz. Die Indigenen am Orinoko und in den Anden sind für ihn – nicht anders als Europäer – Menschen.
<1>
In einem langen Brief an den Berliner Botaniker Karl Ludwig Willdenow, datiert in Havanna am 21.2.1801, berichtet Alexander von Humboldt über die vielfältigen Erfahrungen seiner Reise auf dem Orinoko. Nach einer Schilderung der alltäglichen Widrigkeiten und Entbehrungen während der Fahrt – mit wenigen Begleitern in einem Einbaum durch den Urwald, geplagt von Insekten, bedroht von wilden Tieren – wird der Ton plötzlich allgemeiner. Humboldt zieht en passant ein Zwischenfazit seiner Reise:
<2>
"Aber dagegen auch welcher Genuß in diesem [sic!] majestätischen Palmenwäldern, dieser Verschiedenheit unabhängiger freier Indianischer Völkerschaften, diesem Rest Peruanischer Kultur unter Nazionen, die ihren Acker wohl bestellend, Gastfreundschaft ausübend, sanft und menschlich scheinend, wie die Othaheiter, wie sie, – Anthropophagen sind. Ueberall, überall, im freien Süd Amerika (ich rede von dem Theil südlich von den Katarakten des Orinoco, wo außer 5-6 Franciskaner Mönchen kein Weißer Mensch vor uns eindrang) fanden wir in den Hütten die entsetzlichen Spuren des Menschenfressens!!" [2]
<3>
Humboldts Orinokofahrt lag zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Zeilen bereits ein knappes Jahr zurück. Er überblickte von Kuba aus resümierend den ersten Teil seiner Amerikareise (1799-1804), und er konnte annehmen, dass sein Brief so wie viele andere, die er nach Europa sandte, umgehend in einem Journal veröffentlicht werden würde. Der Reiseautor und Ethnograph wird seine Worte also mit Bedacht gewählt haben. Umso frappierender ist, dass Alexander von Humboldt eine klare, eindeutige Bewertung der indigenen Kulturen in Spanisch-Amerika offenbar schwer fiel. Das vorgefundene Terrain hatte sich in der Nahperspektive des Reisenden aus Europa nicht nur als fremd, sondern auch als ausgesprochen komplex erwiesen. So konstatiert der Briefschreiber eine 'Verschiedenheit (…) Indianischer Völkerschaften'. Er findet Reste antiker Kulturen wie auch Ackerbau treibende Ethnien, die in der aufklärerischen Stufentheorie der Menschheitsgeschichte nach Gesellschaften mit Handelswirtschaft auf der zweithöchsten Entwicklungsstufe rangierten. [3] Die 'freien' Menschen, die in den Wäldern leben, sind gastfreundlich und wirken 'menschlich'.
<4>
Aber, nach einem Gedankenstrich, der die Peripetie der Aussage und dazu eine Grenzlinie zwischen zwei konkurrierenden Typen der Wahrnehmung außereuropäischer Kulturen markiert, kippt Humboldts vorläufiges Resümee ins Negative und Unfassbare. [4] Denn Kannibalismus stellte aus europäischer Sicht eine typische Sitte des unzivilisierten 'bösen Wilden' dar, die mehr als alles Andere Alterität, ja Feindschaft, bedeutete. [5] Indes finden sich dort im fernen Urwald nicht nur kulturelle 'Reste' und 'Spuren' sowie sehr lebendige Indigene. Erwähnt wird auch noch der 'Weiße Mensch' – konkret: einige missionierende 'Mönche' und Humboldt selbst mit seinen Begleitern –, der in zuvor unbekanntes Gebiet 'eindrang'. Bei der zweiten Lektüre dieses kurzen Textabschnitts stellt man fest, dass der Autor nicht zuletzt seine eigene Haltung mitteilt. Denn im Angesicht des 'Anderen' in Natur, Kultur und Gesellschaft schwankt das 'Reiseschriftsteller-Ich' irritiert zwischen ästhetischem Genießen und moralischem Entsetzen.
<5>
Seine Briefe aus Spanisch-Amerika machten Alexander von Humboldt in der gelehrten Öffentlichkeit Europas schnell berühmt und in einem jungen, optimistischen Jahrhundert zu einem bewunderten Akteur der international vernetzten Wissenschaft. Ob Humboldt die zentrale Position in diesem, in nuce, globalen Netzwerk und die Rolle als Galionsfigur der Aufklärung, die ihm schließlich zukam, selbst angestrebt hat, kann hier dahin gestellt bleiben. Festzuhalten ist, dass sich der europäische Interpret indigener Kulturen Südamerikas während seiner Reise vor große Herausforderungen gestellt sah und keinen Anstand nahm, Differentes und Widersprüchliches zu notieren, auch nicht in einem potenziell zur Publikation bestimmten Text.
<6>
Am Exempel Alexander von Humboldts lassen sich zentrale Fragen der Kulturwissenschaft an der Wende von eurozentrischen Kolonialgeschichten hin zu den post-kolonial informierten Global Studies diskutieren. Die Entdeckungsreisen ab Mitte des 18. Jahrhunderts von Cook, Bougainville, Forster, La Condamine und anderen hatten im Europa der Aufklärung ein großes Medienecho ausgelöst. Die Berichte über bis dato kaum bekannte Kulturen befeuerten den Diskurs der Aufklärung über die Frage nach dem Wesen des Menschen in seiner Verschiedenheit. [6] Das – wahrgenommene – Fremde in Übersee und die moderne europäische Selbstreflexion waren von Beginn an miteinander verknüpft. [7] Humboldts Amerikareise fällt zudem in eine Ära der Verwissenschaftlichung des Reisens, in der Einschätzungen durch empirische Beobachtungen abgestützt werden mussten, um Geltung zu beanspruchen. In den Berichten wurde explizit auf einen Stand des gelehrten Wissens rekurriert. Bekanntlich steht seit Edward Saids bahnbrechendem Werk 'Orientalism' die europäische Wahrnehmung außereuropäischer Kulturen auf dem kritischen Prüfstand. [8]
<7>
Handelt es sich bei diesem Textkorpus um einen Monolog, der stereotyp Differenz und Überlegenheit festschreiben will und dadurch die geistigen Voraussetzungen für die fortschreitende europäische Expansion im 19. Jahrhundert schafft? Oder lassen europäische Wahrnehmungen eine äquivalente Pluralität und Diversität der Kulturen zu? Zugespitzt formuliert: Ist der gelehrt-wissenschaftliche europäische Blick auf andere Kulturen um 1800 immer und per se eurozentrisch? Oder führt das Wissen über das Andere bereits unter den Zeitgenossen zu einer quasi post-kolonialen Selbstreflexion und damit zumindest der Erprobung von Perspektivwechseln, das heißt einer gedanklichen Operation, die Dipesh Chakrabarty in das Postulat des 'Provincializing Europe' kleidet? [9] Hinzu kommt die Neigung der Forschung, Alexander von Humboldt als eine kohärente Persönlichkeit zu beschreiben. Dieser Humboldt erscheint – ins Positive wie ins Negative gewendet – immer als äußerst souverän und wird gern auf eine spezifische Aussage oder Bedeutung festgenagelt. Erst die neueste Forschung argumentiert differenzierter und hebt auf Ambivalenzen in Humboldts Sichtweisen ab.
<8>
Bei einer Sondierung auch nur der wichtigsten Interpretationen in der Forschung treten sehr unterschiedliche Humboldt-Subjekte zutage. [10] Dies ist nur zum Teil durch dessen labyrinthische, kaum als Ganzes überschaubare Hinterlassenschaft erklärlich. Humboldts Texte, die unmittelbar vor der Ausdifferenzierung der modernen Wissenschaftsdisziplinen entstanden, bieten zweifellos Anknüpfungspunkte in ganz verschiedene Richtungen. Mehr noch aber wirken sich wohl konträre heuristische Vorannahmen aus. Alexander von Humboldt erscheint mal als ein Entdecker alten Stils, der durch topische, romantisierende Beschreibungen angeblich ursprünglicher Natur ohne menschliche Gesellschaft das optimale Narrativ für die fortgesetzte europäische Expansion und den Imperialismus des 19. Jahrhunderts schuf; [11] mal als humanistisch-liberaler Kosmopolit, Vordenker einer anderen Moderne und Europas gutes Gewissen im Prozess der Globalisierung. [12] In direkter Auseinandersetzung mit dem post-kolonialen Standpunkt wird Humboldt in den USA als erster ökologischer Denker gesehen, der grundsätzliche Kritik an der Ausbeutung natürlicher Ressourcen mit der Kritik an der Unterdrückung sozialer Gruppen verband. [13]
<9>
Im Hinblick auf die Schlüsselfrage nach der Bewertung fremder und eigener Kultur zwischen Eurozentrismus und Zulassung von Diversität sind in der deutschen Forschung zuletzt differenzierte Thesen formuliert worden. Zum einen scheint der Kompass des preußischen Privatgelehrten hier bei aller dialogischen Offenheit zugleich "am kulturellen Meridian der abendländischen Antike ausgerichtet"; [14] zum anderen lässt sich die Humboldt'sche Amerikareise als sukzessive Dekonstruktion eurozentrischer bzw. orientalistischer Ausgangsannahmen lesen, in deren Verlauf der schreibende Akteur aufgrund seiner Beobachtungen und Erfahrungen "einen Prozeß der Selbstkorrektur in Gang [setzt]". [15] Insgesamt wird das Bild Alexander von Humboldts durch das Kleinarbeiten der großen Thesen differenzierter und weniger holzschnittartig. Die insbesondere von Mary Louise Pratt offensiv formulierte post-koloniale Position hat die Debatte um Humboldt inspiriert, kann aber in ihrem apodiktischen Anspruch auf schmaler Textbasis als überholt gelten. Darüber hinaus ist allerdings auch mit Charakterisierungen wie 'Liberaler', 'Kosmopolit' oder allwissendes 'Großsubjekt' sicher nicht das letzte Wort gesprochen.
<10>
Im Folgenden geht es um eine Annäherung an Alexander von Humboldts Kommunikationspraxis und seine Wahrnehmungen der indigenen Bevölkerung in der Kontaktzone Südamerikas. Im Zentrum der Betrachtung steht zuerst die konkrete Praxis der Kommunikation, gefolgt von einer Analyse der Bemerkungen Humboldts über die einheimischen Sprachen. Ich werde quellennah argumentieren und mich dabei zunächst primär auf Aussagen während der Reise stützen. Insbesondere bei einer Lektüre der Tagebücher und Briefe Humboldts, aber durchaus auch unter Berücksichtigung seines später publizierten Reisewerks, erkennt man ein Forscher-Ich, das nicht nur vielseitig interessiert ist, sondern auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf außereuropäische Kulturen schaut. In Bezug auf seine eigenen Texte wirkt Humboldt gar nicht so souverän, wie man nach der Lektüre einschlägiger Studien über ihn erwarten könnte. Viel eher tastet und testet er sich durch das Dickicht der fremden Kulturen, die ihn mal beglücken, mal abstoßen, immer aber in all ihren Aspekten interessieren, herausfordern und faszinieren.
<11>
In ihrer Gegensätzlichkeit symptomatisch sind die beiden im Folgenden skizzierten Kontaktsituationen. Die entsprechenden Schilderungen finden sich in Humboldts Reisetagebüchern. Diese waren nicht unmittelbar zur Publikation vorgesehen, sollten aber als Material für den großen Reisebericht nach der Rückkehr nach Europa dienen. Die erste Situation beschreibt eine Exhumierung durch Humboldt und seine Begleiter. Am 31. Mai 1800 berichtet er über den Besuch einer Grabstätte der ausgestorbenen Atures-Indianer in einer Höhle auf einer Felseninsel im Orinoko:
<12>
"Wir suchten recht charakteristische Schädel für Blumenbach [16] und öfneten daher viele Mapire [Palmenkörbe, J. E.]. Armes Volk, selbst in den Gräbern stöhrt man deine Ruhe. Die Indianer sahen diese Operation mit großem Unwillen an, besonders ein Paar Indianer von Guaicia, welche kaum 4 Monathe lang weiße Menschen kannten. […] Die Nacht brach ein, indem wir noch unter den Knochen wühlten. Die Minen [sic!] unserer Indianischen Führer sagten uns, daß wir diese Grabstätte genug entheiligt hätten und den Frevel endlich endigen sollten. […] Wir schlepten unsere Skelette zu Wasser bis Angostura und von da zu Lande bis Barcellona durch die Missionen der Cariben. Dem Spürgeist der Indianer entgeht nichts. Die Knochen waren in doppelten Mapire und schienen uns völlig unsichtbar. Kaum aber kamen wir in einem Caribischen Dorfe an, und kaum versamleten sich die Indianer, um unsere Thiere […] zu sehen, so waren sogleich die Knochen ausgespürt. Man weigerte sich, uns mulas [Maultiere, J. E.] zu geben, weil der Cadaver sie töte." [17]
<13>
Die zweite Situation notiert Humboldt nach der Überquerung eines Bergpasses im Quindíu-Gebirge bei Ibagué im heutigen Kolumbien im Oktober 1801. Die überharten, unmenschlichen Arbeitsbedingungen der indigenen Unterschichten machte er in seinen Aufzeichnungen wiederholt zum Thema. Hier geht es um die bezahlten Lastträger (Cargueros) bzw. Stuhlträger, die nicht nur materielle Güter, sondern auch Menschen über unwegsames Gelände im Gebirge trugen. Humboldt schildert ausführlich die Arbeit der Lastträger, ordnet sie historisch ein und überlegt, wie man sie abschaffen könnte. Der folgende Ausschnitt aus einem mehrere Seiten langen Tagebucheintrag beschreibt einen Kontakt im wörtlichsten, nämlich körperlichen, Sinne:
<14>
"Ich wußte zum voraus, daß ich mich in Quindío weder der mulas noch der Sillero's [Stuhlträger, J. E.] bedienen würde. Doch zwang man mich, beide zu nehmen. Als Silleros ihren Contrakt schlossen (und so machen sie es immer) holten sie ihre Stühle und probirten unser Gewicht. Sie sind unbegreiflich geschikt, nach Augenmaaß schon im Voraus das Gewicht zu bestimmen. Diese Probe im Zimmer war das einzige Mal, daß ich mich tragen ließ. Als ich abstieg, bat ich den Sillero, mir den Stuhl zu geben und sich tragen zu lassen. Der Mensch machte große Augen und glaubte, ich sei verrükt. Er erfüllte indeß meine Bitte. Der Kerl war nicht schwer. Ich trug ihn leicht in den Armen, aber im Stuhl hatte ich Mühe, 3 Schritt weit mit ihm zu gehen." [18]
<15>
Anschließend trägt Humboldt einen Knaben, um die Funktionsweise des Tragestuhls weiter zu erkunden. Seine detaillierten Informationen stammen vor allem von den Cargueros selbst und er schließt bei seinen Ausführungen deren Sichtweise mit ein. Während er klar für die Lastträger Partei ergreift, beklagt er sich mehrmals über "weibische" Reisende, die sich auch noch ihrer christlichen Grundsätze rühmten. [19] Der Bericht mündet in Reflexionen über ein geeignetes "Gegenmittel", sei es ein staatliches Verbot oder die Verbesserung der Wege. "Die Cargeros [sic!] erzählen schändliche Geschichten von der Unmenschlichkeit der Reisenden. Sollte der Staat nicht fürchterliche Strafen auf solche Unthaten legen?" Zudem: "Mir, meinem Gefühl nach ist es unmöglich gewesen, auf Menschen zu reiten und ich habe mich selbst gefragt, ob in einer Republik nicht das ganze Tragen durch Geseze eingeschränkt werden sollte". Dagegen spräche jedoch, dass die Träger in der Regel "freie Menschen" seien und sich selbst gegen eine Verbesserung der Wege für Maultiere ausgesprochen hätten. [20]
<16>
Wir erkennen in beiden Situationen zwei recht unterschiedliche Humboldts. Im Fall der Exhumierung auf der Insel im Orinoko dringt der Reisende mit vollem Bewusstsein in einen sakralen Bereich der einheimischen Kultur ein; zum Zweck eines sehr europäischen Geschäfts, dem Fortschritt von Forschung und Wissenschaft. Konkret geht es um das Vermessen von Skeletten, vor allem Schädeln, aus unterschiedlichen Rassen durch den Anthropologen und Anatom Johann Friedrich Blumenbach, der Humboldt während seines Studiums an der Universität Göttingen beeinflusst hatte. Die Episode vom Quindíu-Pass zeigt dagegen Humboldt 'den Liberalen', der aufgrund der eigenen Beobachtung eines sozialen Missstands sofort über die beste Art der Reform nachdenkt. [21] Während Humboldt eins relativ rücksichtslos seinem Erkenntnisinteresse nachgeht, erprobt Humboldt zwei für einen Moment die Umkehrung der klassischen Rollenverteilung in der Kolonialgesellschaft. Ein weißer Europäer trägt einen 'Indianer', dazu ein Adliger einen Lastenträger aus der untersten Schicht.
<17>
Gibt es etwas, das diese beiden verschiedenen Humboldts verbindet? Drei Punkte können bereits hier festgehalten werden: Erstens ist Alexander von Humboldt weder ein Philologe im Elfenbeinturm noch ein 'Lehnstuhlreisender' am heimischen Ofen. Er spekuliert nicht wie die meisten europäischen Gelehrten des 18. Jahrhunderts über die Beschaffenheit und die Zukunft des 'neuen Kontinents' Amerika – und er exotisiert die Indigenen nicht aus der sicheren Distanz als 'edle Wilde'. Vielmehr kommuniziert er direkt und gezielt vor Ort in der Kontaktzone. [22] Er geht ohne jede Berührungsängste ganz nah heran an die Objekte, seien es materielle Dinge oder Menschen. Dabei mutet er anderen einiges zu, wie auch sich selbst. Dominant sind, zweitens, der Blick und das Interesse des Forschers. Der Moment, in dem Humboldt indigene Cargueros trägt, gleicht einer Versuchsanordnung in der Lebenswelt unter Einschluss des Forschersubjekts. Als eine Art 'teilnehmender Beobachter' protokolliert der Ethnograph Humboldt, drittens, nicht nur grosso modo 'sachliche' Informationen, sondern auch feine, unscheinbare Reaktionen der indigenen Akteure bis hin zu Mimik und Mienenspiel. [23]
<18>
Um Antworten auf seine hochgesteckten Fragen zu erhalten, war Humboldt auf die Kooperation mit Ortskundigen angewiesen. Konkret konnte seine Reise unmöglich exakt nach einer zuvor en detail geplanten Route erfolgen. Diese war im großen Design wie im Alltag eher eine Abfolge von ungeplanten Richtungswechseln, ad hoc mit seinem Partner Aimé Bonpland getroffenen Entscheidungen und nicht zuletzt von Zufällen. [24] Unweigerlich hatte der Natur- und Kulturforscher dabei immer den Stand des europäischen Wissens im Kopf und war auf die Infrastruktur des spanischen Kolonialismus angewiesen. So übernachtete er auf Haziendas und in Missionsdörfern, indes auch in Hütten der Einheimischen oder unter freiem Himmel. Am liebsten maß, sammelte, beobachtete und verglich Humboldt das Gesehene selbst. Dazu führte er allerlei Instrumente auf dem neuesten Stand der Technik mit sich. [25] In den Städten suchte er Bibliotheken und Archive auf, was seinen Berichten vielfach eine historische Dimension verlieh. Zur Erforschung der amerikanischen Kulturen wie auch zur alltäglichen Orientierung blieben aber die mündlichen Informationen der Einheimischen unabdingbar. Für Humboldt war prinzipiell jeder Mensch ein möglicher Informant, unabhängig von Stand und Hautfarbe, egal ob Gouverneur oder Carguero. So basierten auch seine Ausführungen zu den indigenen Gesellschaften im Orinoko-Gebiet vor allem auf drei Arten der Information: eigene Beobachtungen, Einschätzungen der Missionare in den Missionsdörfern und direkter Kontakt mit den Indigenen (in unterschiedlichen Rollen).
<19>
Die Einträge in den Reisetagebüchern zeigen, wie buchstäblich desorientiert und deshalb auch unzufrieden sich Humboldt oftmals durch unbekanntes Gelände tastet. Vor allem schimpft er über die Unzuverlässigkeit der angeblich Ortskundigen, unabhängig davon, ob sie Indigene oder Spanier, aufdringliche Händler oder wundergläubige Mönche sind. Die Auskünfte der Führer über Wege und Reiseziele beruhten – so die Einsicht des Reisenden – in der Regel nicht auf Wissen, sondern auf Hörensagen und entpuppen sich immer wieder als falsch.
<20>
"Dazu wie schwierig, Reisepläne in Gegenden zu machen, wo die Karten nichts lehren, wo die, welche sich prácticos del camino nennen, genau alles wissen, was man nicht zu wissen wünscht, wo niemand sich zu orientiren versteht und man in der Nähe nur das Nächste kennt! So findet man im Tappen, und für uns war dies Tappen bisher noch sehr glüklich, aber man ertappt meist, was man gar nicht erwartet und erlangt nicht, was man zu verfehlen unmöglich hielt." [26]
<21>
Für die Praxis des Kontakts ist die Frage zentral, wie der preußische Privatgelehrte, der zwar Spanisch beherrschte, nicht aber die indigenen Sprachen, überhaupt mit den Indigenen kommunizieren konnte. Im direkten Austausch war Humboldt auf Dolmetscher angewiesen, zum Beispiel bezahlte Wegbegleiter oder christianisierte Indigene in den Missionsdörfern, oder aber auf Zeichensprache. In den Missionen im Orinoko-Gebiet machte Humboldt oft die Erfahrung, dass die christianisierten indigenen Dolmetscher auf seine Fragen nur äußerst lakonisch in "ihrer trägen Gleichgültigkeit" antworteten. [27] Charakteristisch für Humboldt ist, dass er die durch Dolmetscher vermittelte Kommunikation als defizitär empfand und den direkten Austausch mittels Zeichensprache höher schätzte. Dies wird von ihm folgendermaßen erläutert:
<22>
"(…) um nicht allen Vorteil, der aus dem Umgang auch mit den rohesten Indianern gezogen werden kann, zu verlieren, haben wir bisweilen die Zeichensprache vorgezogen. Sobald der Eingeborene wahrnimmt, daß man sich keines Dolmetschers bedienen will, sobald man ihn durch Hinweis auf die Gegenstände unmittelbar fragt, legt er seine gewohnte Gleichgültigkeit ab und verrät eine nicht gewöhnliche Gewandtheit, sich verständlich zu machen. Er wechselt mit den Zeichen ab, spricht die Wörter langsam aus und wiederholt sie auch, ohne dazu aufgefordert zu werden. Seine Eigenliebe scheint sich durch die Achtung geschmeichelt zu fühlen, die ihm dadurch bezeugt wird, daß man sich von ihm unterrichten läßt. Diese Leichtigkeit, sich verständlich zu machen, ist besonders beachtlich beim unabhängigen Indianer und in den christlichen Ansiedlungen; ich empfehle den Reisenden, sich vorzugsweise an die seit kurzem erst bekehrten Eingeborenen oder an solche zu wenden, die von Zeit zu Zeit in die Wälder zurückkehren, um ihre vormalige Freiheit zu genießen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß der unmittelbare Verkehr mit den Eingeborenen belehrender und sicherer ist als der mit Dolmetschern, vorausgesetzt, daß man seine Fragen zu vereinfachen weiß und sie mehreren Individuen nacheinander wiederholt." [28]
<23>
Relevant ist in dieser Textpassage nicht nur die an zukünftige Reisende gerichtete Empfehlung der direkten Kontaktaufnahme mit den 'Eingeborenen', mit der Humboldt sich nicht zuletzt als glaubwürdiger Forscher darstellt, sondern auch die Unterscheidung zwischen Indigenen in 'Freiheit' bzw. 'unabhängigen Indianern' und den schon länger christianisierten in den Missionen. [29] Humboldt äußert seine hier nur angedeutete Kritik an den Verhältnissen in den Missionen an anderer Stelle sehr viel drastischer, auch in seinem publizierten Reisewerk. [30] Dies ist hier jedoch nicht das Thema. Umschreibungen wie 'roheste Indianer', die sich durch 'träge' oder 'gewohnte Gleichgültigkeit' auszeichnen, sind auf den ersten Blick Ausdruck einer grundlegenden Differenzkonstruktion. Der Versuch der Kontaktaufnahme des Wissenschaftlers erinnert unwillkürlich an Michel Foucaults Schilderung der asymmetrischen, wenn nicht absurden, Situation, in der "'der Mürrische'" zum Erkenntnisobjekt "des Psychiaters" wird. [31] Zugleich zeigt Humboldts Skizze aber, dass diese negativen Zuschreibungen nicht wesenhaft gemeint, sondern kontextgebunden sind. Der Erfolg des Dialogs mit den Indigenen hängt nach Humboldts Einschätzung vor allem von der Bereitschaft des europäischen Akteurs ab, sich auf einen unvermittelten Kontakt mit dem Gegenüber einzulassen. In diesem Zusammenhang ist es nicht unerheblich, dass Humboldt ihm nahestehende Indigene mitunter namentlich nennt. [32] Es ist gleichwohl nachvollziehbar, dass die alltäglichen Probleme der Kommunikation im Verlauf der Reise immer wieder zur Reflexion von Differenz führten. Salopp gesagt, lautete die Frage: Wieso ticken die anders als wir – wenn sie denn anders ticken? In demselben Tagebucheintrag, in dem Humboldt die unzuverlässigen Auskünfte der einheimischen sogenannten Wegekundigen beklagt, äußert er sich in einer Fußnote zum unterschiedlichen Umgang mit Zeit und Raum bei Europäern und Tropenbewohnern:
<24>
"Der hastige, alles erzwingende, durch hunderterlei Combinationen bestimmte Wille des Europäers ist der ruhigen, alles vom Zufall erwartenden, Gleichmuth des Tropenbewohners sch[n]urstraks entgegengesetzt. Der Contrast zwischen der Hastigkeit, dem Mühlradwesen der Europäer und der Gleichmuth des Indianers war mir am auffallendsten in Llano de Barcellona bei Caris. Wir hatten nach einer langen Tagesreise, von Sonne und Staub gequält, den Weg verloren. Der Indianer, der als Wegweiser diente, kündigte uns dies selbst an. Er setzte hinzu, wir würden ein 6 Meilen vergeblich gemacht haben und müßten unter freiem Himmel übernachten. Ich ward sehr ungeduldig, that dem Indianer (ein Caribe, der gut spanisch sprach) tausend Fragen über den verlorenen Weg, er antwortete kein Wort, sah starr auf einen Baum hin, und als ich ausgewüthet, zeigte er mir (eben als sei gar nichts vorgefallen), eine fette Iguana [essbarer Leguan, J. E.], die von Zweig zu Zweig hüpfte. Was liegt dem Indianer daran, ob er hier in der Savanna oder 40 Meilen davon, heute oder in 3 Monathen in seiner Hütte schlafe. Er lebt außer Zeit und Raum, und wir Europäer scheinen ihm unerträglich, unruhige, von Dämonen geplagte Wesen." [33]
<25>
Die Differenzkonstruktion wirkt auf den ersten Blick stereotyp und quasi orientalistisch: dort der Gleichmut, die statische Zeiterfahrung und Orientierungslosigkeit des Indigenen, hier die Zielstrebigkeit, das dynamische Zeitbewusstsein und der rationale Kontrollwille des Europäers. Der Dialog zwischen dem Kariben und dem Preußen scheitert. Nur, wer ist schuld? Im Rückblick und mit etwas Abstand – der Text wurde später auf der Überfahrt von Kuba nach Kolumbien notiert – wird als Grund für das Problem keineswegs von vornherein eine defizitäre Mentalität 'des Indianers' in Anschlag gebracht. Vielmehr ist Devianz auf beiden Seiten zu finden. Humboldt macht die Gegenrechnung auf und kehrt die Perspektive um: Wie erscheinen 'wir Europäer' eigentlich den 'Indianern'? Nicht nur an dieser Stelle führt die Erfahrung des Anderen, die ja im Scheitern eines Dialogs besonders prägnant ist, zu Selbstbeobachtung und Selbstreflexion. So erscheint Humboldt in seiner eigenen Beschreibung explizit als 'sehr ungeduldiger' und aufbrausender Mensch ('ausgewütet'), dem der ruhig und gelassen bleibende Eingeborene womöglich etwas voraus hat. Zu diesem Stil der Reflexion passt durchaus auch die eingangs zitierte Beschreibung der Exhumierung der Skelette der Atures-Indianer im Orinoko-Tagebuch. Humboldts Versuch des Blickwechsels hin zur Sicht der Indigenen lässt das eigene Handeln als 'Frevel' und Akt der 'Entheiligung' erscheinen. In den Formulierungen seines Berichts wird das schlechte Gewissen greifbar, wenn auch letztlich das dem europäischen Gelehrtendiskurs verpflichtete Erkenntnisinteresse handlungsleitend bleibt.
<26>
Nicht nur in der beschwerlichen Alltagspraxis des Reisens durch Urwald und Savanne tastet und testet sich Alexander von Humboldt vorwärts. Darüber hinaus führt die Notwendigkeit – bzw. besser: die Herausforderung – der diskursiven Bewältigung, das heißt der kohärenten Einschätzung und Einordnung, all des Wahrgenommenen auf einer solchen Reise für das schreibende Ich zu einem Ausprobieren unterschiedlicher Standpunkte. Große Teile des Humboldtschen Oeuvres können geradezu als ein lebenslanges Experimentieren mit verschiedenen Darstellungstechniken und Schreibweisen auf der Suche nach der besten Verarbeitung der Amerikareise verstanden werden. [34] Im Folgenden geht es um Humboldts Einschätzung der Kulturfähigkeit der amerikanischen Ureinwohner am Beispiel der Sprachpraxis und seine Perspektive auf die Zukunft der amerikanischen Sprachen.
<27>
Im Hinblick auf die Bewertung der prähispanischen Kunst Amerikas ist herausgearbeitet worden, dass Alexander von Humboldts Einschätzungen zwischen zwei Positionen changierten. Einerseits lassen sich einige Textpassagen dergestalt resümieren, dass die indigene Kunst zwar relevant sei, aber in erster Linie nur als ein historischer Parameter zur Analyse der Entwicklungsstadien der Menschheit und nicht im ästhetischen Sinne; in ästhetischer Hinsicht bliebe demnach die griechisch-römische Antike das Maß aller Dinge. Andererseits erscheinen die prähispanischen 'Monumente' in Humboldts Texten dann aber auch als ästhetisch wertvoll und damit nicht grundverschieden von den Kunstwerken der europäischen Antike. Oliver Lubrich hat mit Blick auf das Arrangement der Texte in den erstmals 1810-1813 auf Französisch publizierten 'Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas' die These formuliert, dass Humboldt seine Amerikafahrt mit einer eurozentrischen Haltung begonnen, diese dann aber im Verlauf der Reise selbst revidiert habe, was sich in der ästhetischen Aufwertung der indigenen Kunst und damit in der Anerkennung der Ästhetikfähigkeit der amerikanischen Völker niederschlug. [35] Sind Humboldts Äußerungen zum Thema Sprache kohärenter? Oder lässt sich eine ähnliche Entwicklungslinie aufzeigen?
<28>
Sowohl für die Aufklärung als auch für die Romantik war die Sprache eines Volks ein wichtiger Indikator. Die Komplexität einer Sprache galt als Maßstab für den Entwicklungs- und Kulturstand eines Volks. Zwischen Sprache und Denken bestand für die Aufklärer ein enger Konnex und die Geschichte der Sprache galt dementsprechend als Geschichte des menschlichen Verstands. [36] Etwas später sollten die Romantiker Sprache als organisch 'wesenhaft' für ein Volk betrachten. Ein global ansetzendes Forschungsinteresse für Sprachen wird man eher bei 'dem Philologen' Wilhelm von Humboldt annehmen. Für Wilhelm konstituierte Sprache das Denken und nicht umgekehrt. Aber erneut erweisen sich Alexanders Erkenntnisinteressen als ausgesprochen multidisziplinär, unter Einschluss des unter den Zeitgenossen hoch rangierenden Themas der Sprachenvielfalt. Der Amerikareisende ordnet seine Beobachtungen nach dem Schema 'wilde' bzw. 'freie Indianer' versus beherrschte 'Indianer' in den christlichen Missionen. Keineswegs nebensächlich ist die Vorgehensweise: Alexander von Humboldt protokolliert zunächst einmal additiv einzelne Beobachtungen, konstatiert durch Vergleich Unterschiede und legt sich nicht von vornherein fest. Meistens tendiert sein Gedankengang dann zur Typenbildung. Dergestalt differenziert er zwischen einer stark ausgeprägten Lernfähigkeit der 'Sauvages', die ihn fasziniert, und genau gegenteiligen Beobachtungen in den Missionsdörfern. So notiert er über die 'Sauvages Xibaros' in seinem Reisetagebuch:
<29>
"die enorme Leichtigkeit, mit der sie alle Sprachen aussprechen. […] Ich habe ihnen Sätze von 4 bis 5 Worten auf Deutsch, Französisch und Englisch vorgesprochen, sie wiederholten sie beim ersten Versuch mit einer Deutlichkeit, daß man glauben mußte, daß sie an diese 3 Sprachen gewöhnt waren. […] Sie haben die gleiche leidenschaftliche Sucht, ihre eigene Sprache zu lehren. Beginnt man einmal, ihnen Worte durch Zeichen abzufragen, um ein Vokabular zusammenzustellen, so bestürmen sie einen, fortzufahren." [37]
<30>
Den Gegenpol zu dieser Begeisterung bilden die Erkundungen unter den 'Chaimas' in den Missionsgebieten: "Nur mit äußerster Schwierigkeit erlernen die Indianer die spanische Sprache. Sie ist ihnen verhaßt, solange sie, ohne nähere Verbindung mit den Weißen, den Ehrgeiz nicht kennen, für zivilisierte Indianer gehalten oder, wie man in den Missionen sagt, lateinische Indianer, Indios muy latinos, genannt zu werden." [38] Als ein Indikator für die Komplexität einer Sprache und damit auch des Denkens einer Ethnie galt das Spektrum der Zahlen in der Sprachpraxis. Vor diesem Hintergrund ist folgende Feststellung Humboldts zu lesen: "Alles, was auf Zahlenverhältnisse Bezug hat, wird von den Chaimas nur äußerst schwer begriffen. Ich traf keinen einzigen an, den man nicht veranlassen konnte zu sagen, er sei 18 oder 60 Jahre alt." [39] Diese 'Indianer' antworteten auf alle möglichen Fragen stets nur stereotyp und stupid mit 'Ja' oder 'Nein'. Solche Bemerkungen passen gut zu dem von Humboldt andernorts skizzierten Bild der Indigenen unter der Herrschaft der Missionare.
<31>
Vielleicht spielt bei der Wiedergabe inhaltlicher Unterschiede ebenfalls eine Rolle, dass die negativen Feststellungen nicht aus dem ad hoc während der Reise geführten Tagebuch stammen, sondern aus dem auf Deutsch erstmals ab 1815 nach der Rückkehr aus Amerika publizierten Werk 'Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents' (Relation Historique), das sich gezielt an die europäische Öffentlichkeit wandte? Das Medium und der Adressat könnten den Diskursinhalt mitbestimmt haben. Eine eingehende Analyse des Humboldt'schen Werks unter diesem Gesichtspunkt steht noch aus und wäre weiterführend. Aus dem hier gewählten Blickwinkel ist die Frage allerdings zu verneinen. Denn so defizitär, wie Humboldt die Bereitschaft der Indigenen in den Missionen, Spanisch zu erlernen, bewertet, so angetan äußert er sich in der 'Reise in die Aequinoctial-Gegenden' zu den rhetorischen Fähigkeiten auch von Indigenen der Chaimas außerhalb der Missionen. [40]
<32>
Trotz des Desinteresses der Chaimas an Zahlen resümiert Humboldt dann: "Ich bin weit entfernt, die amerikanischen Sprachen mit den schönsten Sprachen Asiens und Europas in die gleiche Reihe zu stellen; aber keine dieser letzteren übertrifft an Klarheit, Regelmäßigkeit und Einfachheit ihres Zahlensystems die Ketschua- und Aztekensprache, deren man sich in den großen Reichen von Cuzco und Ánahuac bediente." [41] Über die Kritik an der durch Reiseberichte verbreiteten "seltsamen Meinung, daß so viele amerikanische Völker nur bis zu 5, 10 oder 20 zählen" gelangt Humboldt in für ihn typischer Weise zu einer kritisch-selbstreflexiven Einbeziehung eines Aspekts der europäischen Kultur: "Wer würde behaupten, daß die Zahlen der Europäer nicht über 10 reichen, weil wir, nachdem eine Gruppe von 10 Einheiten gebildet ist, eine Pause machen?" [42] Der durch seine Reise und deren Vermarktung Weltruhm erlangende Gelehrte aus Berlin hängt seine prima facie unspektakulären Erkundungen über die Zahlenkompetenz der amerikanischen Völker recht hoch, indem er sie als Argument in der zeitgenössischen Debatte über den neuen Kontinent Amerika benutzt. An hervorgehobener Stelle, nämlich in der 1813 publizierten Einleitung der 'Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas', führt er aus:
<33>
"Was einige Gelehrte, abstrakten Theorien folgend, über die angebliche Armut aller amerikanischen Sprachen und die äußerste Unvollkommenheit ihres Zahlensystems vorgebracht haben, ist ebenso unbegründet wie die Behauptungen über die Schwäche und die Beschränktheit der menschlichen Gattung auf dem neuen Kontinent, über die Verkümmerung der lebenden Natur und die Degeneration der Tiere, die von einer Hemisphäre in die andere gebracht wurden." [43]
<34>
In einem Brief aus Lima an seinen Bruder Wilhelm äußert er sich auch mit einer dezidiert ästhetischen Bewertung der Sprache der Kariben im nördlichen Südamerika: "Je me suis beaucoup occupé aussi de l'étude des langues américaines, et j'ai vu combien ce que La Condamine dit de leur pauvreté est faux. La langue Caribe est à la fois riche, belle, énergique et polie; elle ne manque point d'expressions pour les idées abstraites; on y parle de postérité, d'éternité, d'existence, etc.". [44] Im gleichen Atemzug erwähnt Alexander von Humboldt den Reichtum und die Feinheiten in der von ihm verfolgten Sprachpraxis der Inkas, die für ihn einen Beleg dafür darstellt, dass "l'Amérique a possédé autrefois une plus grande culture que celle que les Espagnols y trouvèrent en 1492." [45]
<35>
Humboldts in verschiedenen Medien und Textsorten getätigte Äußerungen über den Spracherwerb und die Sprachpraxis der unterschiedlichen indigenen Ethnien lassen keinen Zweifel zu, dass er von der Kulturfähigkeit und damit auch der Vernunftfähigkeit der Einwohner Süd- und Mittelamerikas ausgeht. [46] Die amerikanischen Menschen waren für ihn nicht grundverschieden oder wesenhaft anders als Europäer. Damit stellt sich indes die Frage, welche Schlussfolgerungen der in vieler Hinsicht global denkende Humboldt für die Zukunft der indigenen Kulturen zieht. Auch bei seiner wiederholt geäußerten Kritik am Kolonialsystem schwingt immer die Frage nach der Alternative, dem besten Zukunftsweg, für den Kontinent mit. Dass eine bessere Zukunft und mithin Fortschritt hin zu einer Gesellschaft mit "unseren Begriffen von bürgerlicher Freiheit" [47] prinzipiell möglich sei, davon ist Humboldt ebenso fest überzeugt wie von dem dazu unabdingbaren Beitrag der Wissenschaft. In punkto Sprachenpolitik bleibt Humboldt in seiner 'Reise in die Aequinoctial-Gegenden' jedoch abwägend und unentschieden, indem er zwei grundverschiedene Entwicklungsvarianten reflektiert.
<36>
Variante A knüpft an eine erfolgreiche Akkommodationsstrategie der Jesuiten an, die "bei ihren Neubekehrten statt der spanischen einige besonders reiche, regelmäßige und weitverbreitete indianische Sprachen wie die Ketschua- und Guaranísprache einführten. Sie suchten diese Sprachen an die Stelle von ärmeren, weniger gebildeten und in ihren Wortfügungen weniger regelmäßigen Idiomen zu bringen." [48] Die Indigenen, von denen selbst "die rohesten" im Orinoko-Urwald mitunter "zwei bis drei Sprachen redeten", [49] hätten diese Sprachen motiviert und leicht gelernt und so wurden nicht die Sprachen der Kolonialherren, sondern "diese allgemein verbreiteten amerikanischen Sprachen ein leichtes Mittel des Austausches zwischen den Missionaren und ihren Neubekehrten." [50] Deshalb sei folgende Entwicklung denkbar:
<37>
"Wäre das System der Jesuiten befolgt worden, würden Sprachen, die bereits schon weit verbreitet sind, fast allgemein geworden sein. In Tierra Firme und am Orinoco würde gegenwärtig nur die caribische oder tamanakische Sprache gebraucht werden; in den südlichen und südwestlichen Ländern die Ketschua-, Guaraní-, Omagua- und araucanische Sprache. Im Besitz dieser Sprachen, deren grammatische Formen sehr regelmäßig und fast ebenso genau bestimmt sind wie die des Griechischen und des Sanskrit, würden die Missionare mit den Eingeborenen, die von ihnen beherrscht werden, in vertrauteren Verhältnissen stehen." Und nicht zuletzt: "Der Indianer würde durch Beibehaltung eines amerikanischen Idioms auch seine Individualität und seine Nationalphysiognomie erhalten." [51]
<38>
Die regelmäßige Grammatik der indigenen Sprachen wird in dieser Einschätzung durch den Vergleich mit den klassischen indoeuropäischen Sprachen gleichsam geadelt. Einheimische Sprachen mit einem geringeren Verbreitungsgrad würden zwar in einem Prozess der Vereinheitlichung zugunsten dieser regelmäßigen Sprachen verschwinden. Aber eine eigenständige kulturelle Entwicklung mit einem starken autochthonen Akzent ist für Humboldt denkbar und wünschenswert. Nicht die Indigenen mussten notwendigerweise Spanisch lernen, was sie eben in den Missionen offensichtlich höchst unwillig taten; vielmehr sollten die Missionare die Sprachen der Einheimischen lernen, um auf diese Weise aktiv die Beziehungen zu diesen zu verbessern.
<39>
Im unmittelbaren Anschluss an diese Option präsentiert Humboldt eine Variante B, die ebenfalls von dem Befund ausgeht, dass die indigenen Völker in den Missionsgebieten kaum Fortschritte beim Erlernen der spanischen Sprache machten. Dies sei jedoch angesichts der geringen Zahl der Missionare und des Mangels an guten Dolmetschern kein Wunder. Nun erwähnt Humboldt abrupt eine andere Option:
<40>
"Wenn es gelänge, an die Stelle der Herrschaft der Missionare ein anderes zivilisatorisches Mittel zu setzen […]; wenn man die weißen Menschen, statt sie entfernt zu halten, mit den jüngst in Dörfern versammelten Eingeborenen mischen könnte, so würden die amerikanischen Sprachen bald von den europäischen ersetzt sein, und die Eingeborenen empfängen mit diesen den reichen Vorrat neuer Begriffe, welche die Frucht der Zivilisation sind." [52]
<41>
Der Niedergang der amerikanischen Sprachen erscheint bei dieser eurozentrischen Alternative nicht als Verlust. Entscheidend ist die Zivilisierung der Indigenen mittels europäischer Sprachen, Konzepte und Vorstellungen. Anstelle einer autochthonen Entwicklung tritt Anpassung. Humboldts Ausführungen bleiben letztlich ambivalent und nicht frei von Widersprüchen, ohne dass dies für ihn ein Problem darstellt. In einer kurzen Diskussion der beiden Optionen wird die kulturelle Diversität befürwortende Variante A für erfolgsträchtiger gehalten; jedoch vor allem deswegen, weil sich die Missionsherrschaft mit ihren Vor- und Nachteilen in Spanisch-Amerika nicht so schnell abschaffen ließe. Nach einem interepochal weit ausgreifenden Vergleich mit der Ausbreitung des Lateinischen im Römischen Reich doziert der Weltreisende skeptisch: "In allen Jahrhunderten und in allen Klimaten leitet ein natürlicher Antrieb den Wilden Menschen, den zivilisierten Menschen zu fliehen." [53] Indes demonstriert Humboldt anschließend wiederum sein großes Interesse und seine Wertschätzung für die indigenen Sprachen, indem er seitenlang detailliert auf Morphologie und Grammatik der Sprachen im Orinoko-Gebiet eingeht. Auch in seinen großen Publikationen, die sich an die gebildete Öffentlichkeit in Europa richten, tastet und testet sich Humboldt entlang unterschiedlicher Positionen.
<42>
Alexander von Humboldt ist in vielerlei Hinsicht ein Mittler und Anwalt der indigenen Ethnien Spanisch-Amerikas und ein Kritiker der Kolonialherrschaft. Dass er sich allerdings im Rahmen des kolonialen Netzwerks bewegt und davon profitiert, ist ebenso klar. Dies vorausgesetzt, verdeutlicht der Blick auf die konkrete Praxis der Kommunikation in der Kontaktzone, dass Humboldt den Fokus der Betrachtung in einer besonderen Weise auf indigene Gesellschaften richtet. Sein ethnologischer Ansatz vor Ort überschreitet in vieler Hinsicht Grenzen. Als tastender Grenzgänger bewegt er sich nicht nur zwischen Europa und Amerika, Kolonisatoren und Kolonisierten, Bürgerlichen und 'Indianern', sondern auch zwischen den entstehenden wissenschaftlichen Disziplinen, zwischen Schreibtechniken und Interpretamenten, zwischen Rationalisierung und Ästhetisierung 'des Anderen', zwischen Fortschrittsdenken und Verzauberung des Exotisch-Fremden.
<43>
Die Probleme der Kommunikation im Alltag der Reise setzen Selbstreflexionen in Gang. Humboldt begreift sich dabei keineswegs als 'Herr' oder allwissendes Subjekt. Auch die irritierende Aneignung der Skelette auf der Insel im Orinoko veranlasst ihn dazu, die Perspektive der indigenen Begleiter zu integrieren und die eigene Handlung als 'Frevel' zu kommentieren. Humboldts Selbstreflexionen betreffen sein Handeln als Forscher wie auch das Europäische allgemein. Mittels Tasten und Testen korrigiert er sich immer wieder selbst, aber auch etablierte stereotype Vorstellungen über Amerika in der europäischen Gelehrtenwelt. Dies verdeutlichen seine Analysen der indigenen Sprachen und der Fähigkeit der indigenen Menschen zum Spracherwerb. Indes schwanken seine Überlegungen zur 'Reform' der Sprachen zwischen gleichberechtigter kultureller Diversität und einem einseitigen Zivilisierungsprojekt unter europäischen Vorzeichen.
<44>
Auch Tastende und Tester müssen sich irgendwann festlegen und Grenzgänger stoßen unweigerlich an ihre Grenzen. Ein 'going native' kommt für Humboldt nicht ernsthaft in Frage; dies übrigens im Gegensatz zu seinem wichtigsten Begleiter Aimé Bonpland, der 1816 nach Südamerika zurückkehren sollte und dort schließlich verarmt starb. Alexander von Humboldt ist und bleibt primär ein europäischer Forscher, der anstatt zuhause zu spekulieren empirisch arbeitet und vor Ort mit den Menschen intensiv kommuniziert. Seine Fragen, Methoden und Kategorien sind europäischer Provenienz und er geht klar von einem Zivilisationsgefälle aus. Dies kann vor dem Hintergrund der typologischen Entwicklungsmodelle der europäischen Aufklärung nicht erstaunen. In seiner Sicht auf die 'Indianer' Amerikas gibt es allerdings einen zentralen Unterschied zu vielen Wahrnehmungen vorher wie auch nachher. Denn Humboldt sucht in Südamerika nicht nach dem kategorisch Anderen. Er insistiert nicht auf Differenz, etwa um eine mögliche – aber ungewollte – Affinität zu den 'Indianern' radikal von sich zu weisen. [54] So konstruiert er auch keine 'Rohen' oder 'Eingeborenen', die sui generis entwicklungsunfähig wären, auch wenn er diese Etikette durchaus verwendet. Vielmehr werden die Indigenen Amerikas als kultur- und vernunftfähig in die Geschichte der Menschheit hineingeholt. Die rückwirkenden Folgen sind fatal: Menschenfresser sind nicht nur die fernen Anderen. Verbrieft ist, dass "die Span[ier] aus Hunger oft die Indianischen Lastträger aßen." [55]
Prof. Dr. Joachim Eibach
Universität Bern
Historisches Institut
Länggassstr. 49
CH-3000 Bern 9
eibach@hist.unibe.ch
[1] Für die produktive Diskussion von Texten von und über Alexander von Humboldt danke ich meinen Studierenden an der Universität Bern, vor allem Cécile Huber.
[2] An Karl Ludwig Willdenow, 21.2.1801, in: Ulrike Moheit (Hg.): Alexander von Humboldt: Briefe aus Amerika: 1799-1804, Berlin 1993, 122-131, hier: 126. Der Brief wurde am 18.7.1801 in der Spenerschen Zeitung publiziert. Im Hinblick auf die Tahiter (Othaheiter) hatte Humboldt falsche Informationen.
[3] Vgl. Thomas Nutz: 'Varietäten des Menschengeschlechts'. Die Wissenschaften vom Menschen in der Zeit der Aufklärung, Köln 2009, 162ff.
[4] Vgl. allgemein Joachim Eibach: Annäherung – Abgrenzung – Exotisierung: Typen der Wahrnehmung 'des Anderen' in Europa am Beispiel der Türken, Chinas und der Schweiz (16. bis frühes 19. Jahrhundert), in: ders. / Horst Carl (Hg.): Europäische Wahrnehmungen 1650-1850. Interkulturelle Kommunikation und Medienereignisse, Hannover 2008, 13-73.
[5] Vgl. zum "rituellen Kannibalismus" als "das vollkommene Gräuel", das in der europäischen Wahrnehmung "absolute Differenz" konstruiert Stephen Greenblatt: Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, Darmstadt 1994, 201; vgl. auch ebd., 207 f.; allgemein Heidi Peter-Röcher: Mythos Menschenfresser. Ein Blick in die Kochtöpfe der Kannibalen, Berlin 1998.
[6] Nutz: Varietät (wie Anm. 3), 7ff.; vgl. Sergio Moravia: Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung, München 1973.
[7] Vgl. grundlegend, aber mit unterschiedlichem Ansatz, neben Greenblatt: Besitztümer (wie Anm. 5), Justin Stagl: Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550-1800, Wien 2002; Almut Höfert: Den Feind beschreiben. 'Türkengefahr' und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450-1600, Frankfurt a. M. 2003; zuletzt zu Berichten über Südamerika vor der Ära der Aufklärung Susanna Burghartz: Mehrdeutigkeit und Superioritätsanspruch. Inszenierte Welten im kolonialen Diskurs um 1600, in: zeitenblicke 7, Nr. 2 (2008), http://www.zeitenblicke.de/2008/2/burghartz <16.3.2012>; dies.: Vermessung der Differenz. Die Magellanstraße als europäischer Projektionsraum um 1600, in: Historische Anthropologie 19 (2011), 4-30.
[8] Edward W. Said: Orientalism, London 2003 (zuerst 1978).
[9] Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000.
[10] Vgl. zum Schillernden an der historischen Figur Humboldt und zur Polyphonie der Rezeption zuletzt den Essay von Andreas W. Daum: Die Ironie des Unzeitgemäßen. Anmerkungen zu Alexander von Humboldt, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 4 (2010), 5-23. Die folgenden Hinweise zur Forschungsliteratur über Humboldt erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es geht hier nur um das Aufzeigen von Leitlinien der Forschung. Vgl. zur Konstruktion der verschiedenen 'nationalen Humboldts' in der Rezeption seit der Bismarckzeit Nicolaas A. Rupke: Alexander von Humboldt. A Metabiography, Chicago 2008.
[11] Mary Louise Pratt: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London 1992, 111ff.
[12] Jürgen Osterhammel: Alexander von Humboldt: Historiker der Gesellschaft, Historiker der Natur, in: Archiv für Kulturgeschichte 81 (1999), 105-131; Ottmar Ette: Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne, Weilerswist 2002.
[13] Aaron Sachs: The Humboldt Current: Nineteenth-century Exploration and the Roots of American Environmentalism, New York 2006; ders.: The Ultimate 'Other': Post-Colonialism and Alexander von Humboldt's Ecological Relationship with Nature, in: History and Theory 42 (2003), 111-135; vgl. zu Humboldts Beitrag zur Herausbildung US-amerikanischer Kultur emphatisch Laura Dassow Walls: The Passage to Cosmos. Alexander von Humboldt and the Shaping of America, Chicago 2009.
[14] Ottmar Ette: Die Ordnung der Weltkulturen. Alexander von Humboldts Ansichten der Kultur, in: Hansjörg Bay / Kai Merten (Hg.): Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen 1750-1850, Würzburg 2006, 357-380, hier: 379.
[15] Oliver Lubrich: 'Überall Ägypter'. Alexander von Humboldts orientalistischer Blick auf Amerika, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 54 (2004), 19-39, hier: 34; vgl. ders.: Stufen, Keime, Licht. Alexander von Humboldt als Ethnograph und Anthropologe, in: ders. (Hg.): Alexander von Humboldt: Ueber die Urvölker von Amerika und die Denkmähler welche von ihnen übrig geblieben sind. Anthropologische und ethnographische Schriften, Hannover 2009, 167-190, hier: 176f.; vgl. ferner allgemein ders.: Das Schwinden der Differenz. Postkoloniale Poetiken: Alexander von Humboldt – Bram Stoker – Ernst Jünger – Jean Genet, 2. Aufl., Bielefeld 2009.
[16] Der Göttinger Anatom Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840) gilt als Begründer der wissenschaftlichen Anthropologie.
[17] Atures (Venezuela), 31. Mai 1800, in: Margot Faak (Hg.): Alexander von Humboldt: Lateinamerika am Vorabend der Unabhängigkeitsrevolution. Eine Anthologie von Impressionen und Urteilen aus seinen Reisetagebüchern, 2. Aufl., Berlin 2003, 173f.; vgl. auch den publizierten Bericht Humboldts in: Hanno Beck (Hg.): Alexander von Humboldt: Studienausgabe, Bd. V: Ansichten der Natur, Darmstadt 1987, 141-143; allgemein zum Verlauf der Reise zuletzt Werner Biermann: 'Der Traum meines ganzen Lebens'. Humboldts amerikanische Reise, 2. Aufl., Berlin 2010.
[18] Am Quindíu-Paß bei Ibagué (Kolumbien), Oktober 1801, in: Faak: Lateinamerika (wie Anm. 17), 223; vgl. die Interpretation der Darstellung durch Oliver Lubrich: Vom Guckkasten zum Erlebnisraum. Alexander von Humboldt und die Medien des Reisens, in: Figurationen 2 (2007), 47-66, hier: 59.
[19] Am Quindíu-Paß bei Ibagué (Kolumbien), Oktober 1801, in: Faak: Lateinamerika (wie Anm. 17), 223f.
[20] Alle Zitate bei Faak: Lateinamerika (wie Anm. 17), 224; siehe dort auch die näheren Erläuterungen von Humboldt.
[21] Auch nach der Rückkehr nach Europa stellte die harte, unmenschliche Arbeit der 'cargueros' in den Anden für Humboldt eine Art Schlüsselerfahrung dar; siehe die Abbildung der Stuhlträger und die Ausführungen dazu in: Alexander von Humboldt: Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas, hg. von Oliver Lubrich / Ottmar Ette, Frankfurt a. M. 2004, (zuerst französisch 1810-1813), 34-39.
[22] In der Art und Weise der Kommunikation liegt ein zentraler Unterschied bei der Wahrnehmung 'des Anderen'; vgl. näher: Eibach: Annäherung (wie Anm. 4), besonders 20ff.
[23] Vgl. zu Humboldts Vorläufern Anthony Pagden: The Fall of Natural Man. The American Indian and the Origins of Comparative Ethnology, Cambridge 1982.
[24] Vgl. Margot Faak (Hg.): Alexander von Humboldt: Reise durch Venezuela. Auswahl aus den amerikanischen Reisetagebüchern, Berlin 2000, Einleitung: 11-31, hier: 17.
[25] Vgl. Lubrich: Guckkasten (wie Anm. 18).
[26] Während der Überfahrt von Kuba nach Cartagena (Kolumbien), zwischen der Mündung des Río Sinú und Cartagena, März 1801, in: Faak: Lateinamerika (wie Anm. 17), 175f., hier: 176.
[27] Hanno Beck (Hg.): Alexander von Humboldt: Studienausgabe, Bd. II/2: Die Forschungsreise in den Tropen Amerikas [= Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents], Darmstadt 1997, Bd.II/2 (zuerst deutsch 1820), 231; im französischen Originaltext: Relation historique du voyage aux régions équinoxiales du nouveau continent, Bd. 2, Paris 1819, 277, steht: "leur indolente indifférence".
[28] Beck: Humboldt (wie Anm. 27), Bd. II/2, 231f.; vgl. die in einigen Begriffen abweichende, von Humboldt autorisierte Übersetzung von Hermann Hauff, zugänglich über Paul Kanut Schäfer (Hg.): Alexander von Humboldt. Die Wiederentdeckung der Neuen Welt, München 1992, 112f., zum Beispiel anstelle von "mit den rohesten Indianern" dort "mit dem versunkensten Indianer" (ebd.); im Originaltext: Relation historique (wie Anm. 27), Bd. 2, 278: "avec les Indiens les plus abrutis".
[29] Zur Problematik der Begriffe bemerkt Humboldt allerdings an anderer Stelle: "Ich benutze das Wort 'Wilder' mit Bedauern, indem es zwischen dem unterworfenen, in den Missionen lebenden und dem freien und unabhängigen Indianer eine Verschiedenheit der Kultur andeutet, die durch Beobachtung öfters widerlegt wird." Beck: Studienausgabe (wie Anm. 27), Bd. II/1, 308.
[30] Siehe zum Beispiel Beck: Studienausgabe (wie Anm. 27), Bd. II/2, 223f. (Auspeitschung durch Missionare); ebd., 228 (gewaltsame "entradas" in die Missionen durch Soldaten).
[31] Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, 10. Aufl., Frankfurt a. M. 1993, 129.
[32] Zum Beispiel: Beck: Studienausgabe (wie Anm. 27), Bd. II/2, 223: "Es war Zerepe, ein überaus verständiger Indianer, der uns in der Folge sehr nützlich wurde"; Relation historique (wie Anm. 27), Bd. 2, 269: "C'étoit Zerepe, Indien très-intelligent"; näher dazu: Beck: Studienausgabe (wie Anm. 27), Bd. II/2, 223f. Wie Humboldt dort berichtet, war Zerepe von einem Missionar ausgepeitscht und auf das Ansuchen von Bonpland und ihm hin begnadigt worden. Für den Hinweis auf die Frage der namentlichen Nennung von Indigenen danke ich Roberto Zaugg (Universität Basel).
[33] Während der Überfahrt von Kuba nach Cartagena, März 1801 (wie Anm. 26), 175f.
[34] Oliver Lubrich: Spaltenkunde. Alexander von Humboldts ungeschriebenes Programm, in: Martin Mittelmeier (Hg.): Ungeschriebene Werke. Wozu Goethe, Flaubert, Jandl und all die anderen nicht gekommen sind, München 2006, hier besonders 49f.; vgl. allgemein Bettina Hey'l: Das Ganze der Natur und die Differenzierung des Wissens. Alexander von Humboldt als Schriftsteller, Berlin 2007.
[35] Lubrich: Stufen (wie Anm. 15), 175ff.
[36] Vgl. auch zum Folgenden: Andreas Gahrdt: Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland, Berlin 1999, 212ff., besonders 214, 220; zu Wilhelm von Humboldt: ebd., 234f.; zur Romantik: ebd., 245ff.
[37] Tomependa (Peru), 23.-31. August 1802, in: Faak: Lateinamerika (wie Anm. 17), 197-200, hier: 200.
[38] Beck: Studienausgabe (wie Anm. 27), Bd. II/1, 320; Kursivsetzung in der Quelle; Relation historique (wie Anm. 27), Bd. 1, 1814, 474: "ils n'ont pas l'ambition d'être appelés des Indiens policés".
[39] Beck:Studienausgabe (wie Anm. 27), Bd. II/1, 321.
[40] Beck:Studienausgabe (wie Anm. 27), Bd. II/1, 320 f.
[41] Beck:Studienausgabe (wie Anm. 27), Bd. II/1, 321 f.; Bei Ketschua bzw. Quechua handelt es sich um eine Sprachfamilie im Andenraum.
[42] Beide Zitate: Beck: Studienausgabe (wie Anm. 27), Bd. II/1, 322.
[43] Humboldt: Ansichten der Kordilleren (wie Anm. 21), 11.
[44] An Wilhelm von Humboldt, 25.11.1802, in: Moheit: Briefe (wie Anm. 2), 207-214, hier: 212. Ein Auszug aus diesem Brief wurde von Wilhelm an die 'Annales du Muséum National d'Histoire Naturelle' sowie an die 'Neue Berlinische Monatsschrift' geschickt und dort jeweils 1803 veröffentlicht; vgl. dazu die ähnlichen Bemerkungen im Reisetagebuch: Faak: Venezuela (wie Anm. 24), 346.
[45] An Wilhelm von Humboldt (wie Anm. 44), 212.
[46] Zur Frage der Vernunftfähigkeit des 'rohen Menschen' vgl. die Debatte über Immanuel Kant: Daniel Carey / Sven Trakulhun: Universalism, Diversity, and the Postcolonial Enlightenment, in: dies. (Hg.): The Postcolonial Enlightenment. 18th-century Colonialism and Postcolonial Theory, Oxford 2009, 240-80, hier: 254ff.
[47] Beck: Studienausgabe (wie Anm. 27), Bd. II/1, 324; Relation historique (wie Anm. 27), Bd. 1, 1814, 479: "nos idées de liberté civile"; vgl. zum Komplex der Entstehung des neuen Bürgertums, des Freiheits- und Individualitätsstrebens sowie des Vorbilds der Griechen mit Bezugnahme auf Alexanders Bruder Stefan Rebenich: Einsamkeit um der Freiheit willen. Wilhelm von Humboldt, die Griechen und das Bürgertum, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 4 (2010), 24-38.
[48] Beck: Studienausgabe (wie Anm. 27), Bd. II/1, 322; vgl. zur jesuitischen Strategie der Akkommodation die Beiträge von Antje Flüchter und Sven Trakulhun in dieser Ausgabe.
[49] Beck: Studienausgabe (wie Anm. 27), Bd. II/1, 323; Relation historique (wie Anm. 27), Bd. 1, 1814, 478: "j'ai vu les Indiens les plus abrutis parler deux ou trois langues."
[50] Beck: Studienausgabe (wie Anm. 27), Bd. II/1, 322.
[51] Beck: Studienausgabe (wie Anm. 27), Bd. II/1, 324; Relation historique (wie Anm. 27), Bd. 1, 1814, 478: "conserveroit son individualité, sa physionomie nationale."
[52] Beck: Studienausgabe (wie Anm. 27), Bd. II/1, 324; siehe ebd. zum Ziel der "sittlichen Mäßigung"; Relation historique (wie Anm. 27), Bd. 1, 1814, 478: "un autre moyen de civilisation, disons plutôt d'adoucissement de mœurs".
[53] Beck: Studienausgabe (wie Anm. 27), Bd. II/1, 325.
[54] So der Tenor zu den Entdeckern des 16. Jahrhunderts bei Greenblatt: Besitztümer (wie Anm. 5), besonders 205f.; vgl. zur Behauptung der Differenz unter Einbeziehung der machtpolitischen und konfessionellen Konkurrenz zwischen den Kolonialmächten um 1600 Burghartz: Mehrdeutigkeit (wie Anm. 7); dies.: Vermessung (wie Anm. 7).
[55] Tagebucheintrag "Menschenfressen", ohne Ort und Datum, in: Faak: Venezuela (wie Anm. 24), 346; Unterstreichung im Text entsprechend der Kopie der Originalschrift ebd., 347; näher dazu und zu dem Umstand, dass sich die Spanier – obendrein "gewöhnlich" – während einer Expedition auch gegenseitig aßen: ebd., 346.
Empfohlene Zitierweise:
Joachim Eibach : Tasten und Testen. Alexander von Humboldt im Urwald , in: zeitenblicke 11, Nr. 1, [07.11.2012], URL: https://www.zeitenblicke.de/2012/1/Eibach/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-33828
Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Beitrags hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse. Zum Zitieren einzelner Passagen nutzen Sie bitte die angegebene Absatznummerierung.
Lizenz
Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch übermitteln und zum Download bereitstellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html