Matthias Bruhn
Fossilierung in Echtzeit
Die Kunstgeschichte hat seit ihrer Einsetzung
als universitäres Lehrfach auf eine Erweiterung ihrer Bestände
und Themengebiete hingearbeitet. Stärker als andere Disziplinen
war sie dabei bald auf die Möglichkeiten der Bildreproduktion
angewiesen. Sie kommuniziert und popularisiert ihre Inhalte durch
Lichtbilder und Kataloge und hat auch an der Entwicklung entsprechender
Medien, vom Bilderalbum bis zur Fotodokumentation, mitgewirkt. Mittlerweile
erwirbt ein Kunsthistoriker immer mehr Kenntnisse auch auf der Basis
reproduzierter, mobiler Aufnahmen von Kunstwerken entlegenster Orte
und verdichtet diese zu einem abstrakten Kanon kulturellen Erbes.
Im digitalen Raum könnte nun die Gefahr bestehen, dass die
bloße Fortschreibung dieser Praxis, zumal an eine anonyme Öffentlichkeit
gerichtet, zu einer Verkrustung überkommener Sehweisen führt;
der Einsatz von digitalen Medien würde dann keine methodische
Innovation darstellen, sondern vielmehr das Gegenteil bewirken.
Auf der anderen Seite vollziehen sich Wissenstransformationen nicht allein
durch die Anwendung bahnbrechender Technologien; sie bedürfen auch der
entsprechenden institutionellen Einbettung. Der Aufbau simpler
Kommunikationswege wie E-Mail, der Einsatz erprobter Techniken wie der
3-D-Visualisierung oder die Gestaltung kostspieliger Datenbanken und
Informationssysteme verändert - graduell, aber dauerhaft - die bestehenden
Fachstrukturen und Denkgewohnheiten. Nur ein Bruchteil der Fragen, die mit dem
Einsatz des Computers einhergehen, sind primär technischer Natur. Die
Diskussion neuer Medien könnte zu einem professionelleren Selbstverständnis
der kunstgeschichtlichen Forschung beitragen, wenn Fragen des Managements, der
Projektgestaltung oder der Einwerbung von Drittmitteln nicht länger als
Nebensachen abgetan werden; auch sie gehören zu einer wissenschaftlichen
Methodik.
<1>
Das heutige Studienfach ‚Kunstgeschichte’ ist eine Summe ganz
unterschiedlicher Diskursfelder. Klassische Ästhetik und höfische
Repräsentation, Sammlertum und Künstlerbiographik der frühen Neuzeit,
Archäologie und Geschichtsschreibung sind darin mit ihren je eigenen
Gegenständen und Schreibweisen aufgegangen; in Form von Reiseberichten,
Künstlerviten und Galerieführern war die Kunstgeschichte also schon
gegründet, lange bevor im 19. Jahrhundert entsprechende Lehrstühle in
Berlin, Bonn oder Paris eingerichtet wurden. Dies geschah zu einer Zeit, da
sich die allmähliche Demokratisierung und Industrialisierung des Geschmacks
in der Güterproduktion und an den Akademien ebenso wie in der staatlichen
Verwaltung abzeichneten. Die ersten berufenen Kunsthistoriker nahmen eine
Systematisierung und Neubesichtigung der Sammlungen, der Bauwerke und
Handwerke vor und zogen Bilanz, sei es zur Bewahrung der Tradition oder zur
Förderung der nützlichen Künste.
<2>
Um zu anderen universitären Disziplinen aufschließen zu können, bedurfte
die Kunstgeschichte nicht nur der Benennung von Fachleuten, sondern auch der
Entwicklung geeigneter Reproduktionsmedien, also fotografischen Abzügen,
Postkarten oder Buchillustrationen, mit denen man sich ein Bild von der
Geschichte machen und über den Hörsaal oder die Abgusssammlung hinaus
verständigen konnte.
<3>
Bedingt durch die gestiegene Bedeutung medienwissenschaftlicher Ansätze
ist in letzter Zeit wieder vermehrt darauf hingewiesen worden, welche Rolle
dem Fortschritt in der Bildreproduktionstechnik für den Aufstieg des Faches
zukam, da mit ihr nun auch Sehweisen und Vergleichsmöglichkeiten gestattet
waren, welche die ursprünglichen Diskurse überschritten [1].
Indem sich Ölgemälde als und wie Fotografien reproduzieren ließen, ließen sie sich vergleichen und einordnen, während sie im selben Augenblick einen neuen Platz
im Gesamtbereich öffentlicher Bildlichkeit zugewiesen bekamen. Dies ist
insofern mehr als eine historische Fußnote, als die Kunstgeschichte, welche
sich auf die Fotografie als Träger kunsthistorischer Information festlegte,
dieses Anschauungsmaterial nicht nur aufbewahrt und vorgeführt hat. Indem sie
in Diavortrag und Künstlermonographie ihren Gegenstand und dessen
Interpretation in höchst suggestiver Form in eins setzte, hat sie diesen
Gegenstand zugleich mitgeformt.
<4>
Das relativ junge akademische Fach Kunstgeschichte hat nun nicht nur aus
Versehen oder zögerlich, sondern gerade in seiner Frühzeit die Entwicklung
dieser Medien kritisch begleitet und mit deren Einsatz die Durchbrechung jener
Grenzen vorangetrieben, in denen sie einen ersten Umriss ihres
Interessengebietes zeichnete. Führende Autoren wie Kugler, Burckhardt,
Goldschmidt, Riegl, Ivins, Warburg oder Kristeller, welche von ihrer eigenen
Ausbildung her selbst noch nicht einmal Kunsthistoriker sein mussten, haben
das Elfenbeinrelief, die römische Keramik, die Medaillenkunst, die Fotografie
und den Holzschnitt, mithin lauter Exponate der Populärkultur, schon vor
längerer Zeit zu jenen interpretationswürdigen Werken erklärt, welche heute
ganz selbstverständlich zum Curriculum gehören. Mit der ersten
Verwissenschaftlichung der ästhetischen Betrachtung wurden sowohl die
Methoden und Begrifflichkeiten als auch die Arbeitsmittel und
Publikationsformen weiterentwickelt und verbessert.
<5>
Insbesondere über ihre Bildmedien trat die sich entfaltende
Kunstgeschichte zugleich in einen Dialog mit der sie umgebenden Gesellschaft,
der bis heute nicht unterbrochen ist; magisch leuchtende Diaprojektionen in
dunklen Hörsälen und farbige Kunstdrucke als populärer Wandschmuck haben
Kunst nicht nur in die Alltagskultur hineingetragen, sondern auch einen
Kunstbegriff konsolidiert, demzufolge Meisterwerke der Malerei, Skulptur und
Architektur als Solitäre gleichgesetzt werden können mit Kunst. Die
Popularisierung der Kunst in den immer zahlreicheren Publikationen hat ihren
akademischen Kommentatoren eine gesteigerte Aufmerksamkeit beschieden und
zugleich auf die inhaltliche Ausgestaltung des Studiums zurückgewirkt. In
Kunstverlagen arbeiten promovierte Fachvertreter, im Ausstellungswesen
begegnen sich Kuratoren, Sammler und Historiker als simultane Autoren und
Leser.
<6>
Hinsichtlich ihrer Bildbestände war die Kunstgeschichte von Anfang an ein
Fach, das sich durch die Ausdehnung seines Einzugsgebietes bestimmte, selbst
wenn es auf einem kanonisierten abendländischen Schönheits- und Bildungserbe
beruhte, das umso stärker verteidigt wurde, je unklarer der zu Grunde liegende
Kunstbegriff war. Dieser Kanon entsprang den Notwendigkeiten der Lehre ebenso
wie der Verunsicherung über die Erhaltbarkeit europäischer Kultur und gilt
trotz aller Anfechtungen noch heute, so dass wir selbst in Zeiten von
Geschlechterforschung und Virtueller Kunst keinen Zweifel am Rang etwa eines
Michelangelo aufkommen lassen, auch wenn wir seine Manier oder seine Bedeutung
individuell ganz unterschiedlich beurteilen. Ein zentraler Grund für den
Fortbestand eines Kanons dürfte aber auch sein, dass mit der Etablierung des
Faches Kunstgeschichte als eines illustrierten Wissenskompendiums etwas in
Gang gesetzt wurde, das sich mittlerweile in all seinen Medien erhält und
behauptet.
<7>
Viele der einmal entwickelten, technisch eher primitiven Speicher und
Displays, wie das Postkartenformat oder der Bildatlas, sind nun in Zeiten
hypertextueller Verknüpfbarkeit wieder aktuell geworden und haben eine
Verfügbarkeit geschaffen, auf die wir uns heute ganz selbstverständlich
verlassen. Sie geben zugleich Anlass, sich über die geschichtliche Bedeutung
der Arbeitsmedien erneut Rechenschaft abzulegen. So kann man - wie
beispielsweise das in München vorgestellte Anna-Oppermann-Projekt
der Lüneburger Kulturinformatiker - die verschiedenen digitalen
Arbeitsumgebungen auch dazu nutzen, die Freilegung von Entfremdungsstufen, die
mit der Einsetzung und dem Aufstieg der Kunstgeschichtsschreibung von Anfang
an verbunden waren, voranzutreiben, dem Fach also neue Medien zu verpassen mit
dem Ziel, es über diese wieder zu dekonstruieren.
<8>
Man könnte nun meinen, dass ein scharfer Blick auf die Arbeitsmittel
schnell erkennen ließe, welcher diskursive Wert einer neuen Technologie
zukommt, da die Art und Weise, Bildwerke in reproduzierter Form aufzubewahren,
auch bestimmte Inhalte und Ästhetiken begünstigt: Was die Kunstgeschichte in
ihren Fotoarchiven nicht verwalten kann (etwa Performances), kann sie zwar
verbal beschreiben oder in Form von stills simulieren, aber sie wird auf
dessen Diskussion häufig 'aus technischen Gründen' verzichten und damit auch
auf dessen Wahrnehmung Einfluss nehmen. Die anachronistische Beziehung von
privatgelehrter wissenschaftlicher Theorie und industriell betriebener
Bildreproduktion spiegelt sich selbst noch in der Terminologie, welche mit
Begriffen wie 'Stil', 'Einfluss', 'Nachleben" oder 'Original' die inneren
Zusammenhänge einer Kunstsprache untersucht, die sich auch in Bildreihen
anzeigen lässt. Um in das Format der Publikation oder des Vortrages zu
passen, werden Gebäudeansichten oder Skulpturen in zweidimensionale
Strukturen überführt, Deckenmalerei-Programme oder Rekonstruktionsmodelle zu
anschaulichen Zeichnungen verarbeitet; bewegte Bilder oder Comicstreifen aber
sind nach wie vor weniger beliebt. Zu ihrer Untersuchung bedarf es außerdem
einer sequentiellen Beschreibungsform, die man eher in den
Literaturwissenschaften antrifft.
<9>
Betrachtet man das Fach Kunstgeschichte aus dieser Perspektive, könnte man
sich zu dem Schluss verleiten lassen, dass mit dem Austausch der Recherche-,
Speicher- und Wiedergabetechniken eine Reform des Faches möglich wäre, wenn
dadurch die eingeübten Sehweisen durch komplexere Verfahren ersetzt würden.
Bewegliche Architekturmodelle am Rechner, hypertextuelle und flexible
Publikationsformen oder die Einbeziehung von Filmsequenzen und deren Tonspuren
verheißen neue Arbeits- und Denkweisen, mit denen zugleich neue Inhalte
möglich werden.
<10>
Schon die Genese des Faches Kunstgeschichte zeigt jedoch, dass die zugrunde
liegende Gegenüberstellung von 'alt und neu', 'analog und digital' womöglich
nicht aufgeht. Während sich die Technik des Diaprojektors oder des
illustrierten Buches immer weiter verbessert hat, wurden nicht automatisch
auch die Sehweisen des Faches verändert, sondern weiter eingeübt, und auch
universelle Medien wie der Computer bringen zwar alle möglichen neuen
Praktiken und Gewohnheiten mit sich, in den seltensten Fällen aber jene
Inhalte, die man sich eigentlich von ihnen verspricht. Die digitalen, so
genannten 'neuen' Medien unterliegen vielmehr demselben Prozess der Alterung
und Ausdifferenzierung je nach Interessenlage und Wissensgebiet wie ihre
analogen Vorläufer und haben mittlerweile ihre eigene Geschichte.
<11>
Diese Geschichte gestattet es so gesehen nicht länger, von 'den' digitalen
Medien zu sprechen (so wie es nicht mehr 'die' Kunstgeschichte gibt), wenn mit
diesem positiv besetzten Oberbegriff die vielen nicht-technologischen Aspekte
der Produktion und Anwendung ausgeblendet sind, die für seinen Erfolg wichtig
waren. Die digitalen Anwendungen und ihre Ziele sind zu verschieden, als dass
man mehr als eine diffuse Hoffnung auf Erkenntnisgewinn in sie setzen könnte.
<12>
Es wird hier daher für eine weniger avantgardistisch gestimmte Diskussion
des - seinerseits in die Jahre gekommenen - Computers als Arbeitsmittel
votiert. Die in München aufgegriffene Frage, inwieweit sich eine
'digitalisierte Kunstgeschichte' von einer 'digitalen Kunstgeschichte'
unterscheide, ist in medialer und technologischer Hinsicht noch relativ leicht
zu beantworten: Es gibt auf der einen Seite eine Kunstgeschichte, die den
Computer für ihre bisherigen Zwecke, insbesondere in den Bereichen
Bildarchivierung und Textproduktion, einspannen will - und es gibt auf der
anderen Seite einen Computer, der dem Fach Kunstgeschichte Optionen anbietet,
welche ihre bisherigen Recherche- und Darstellungsformen verändern würden
(insbesondere in Bereichen wie Bilderkennung, Raumrekonstruktion und
Kommunikation), welche sie aber vielfach auszuschlagen scheint [2].
<13>
Es wäre in der Tat zu kritisieren, wenn kunstwissenschaftliche
Multimediaprojekte lediglich die Sehweisen einer in die Jahre gekommenen
Disziplin in digitale Formate umgössen und visuelle Restposten
elektronisch duplizierten, während vielmehr eine Modernisierung
des Denkansatzes geboten wäre, um die Medien in einer ihnen angemessenen
Form für die Analyse und Interpretation von Kunstwerken einzusetzen
(etwa durch quantitative Analyse von Bildstrukturen in einer Datenbank,
das heißt auf einer breiten empirischen Basis). Mit den neuen
Instrumenten müssten also vor allem andere inhaltliche Zielsetzungen
verfolgt werden.
<14>
Für ein simples Digitalisierungsprojekt gilt nach Ansicht des Autors aber
in gleichem Maße wie für eine 'digitale Kunstgeschichte' auf neuer
methodischer Grundlage, dass ein Erfolg sich nur einstellt, wenn dabei die mit
der Institution oder dem System Kunstgeschichte verbundenen technischen und
personellen Alltagsprobleme nicht ignoriert werden. Wer für eine
konsequentere Revision von Arbeits- und Denkweisen auf der Grundlage neuer
Medien plädiert, muss auch berücksichtigen, welchen Gründen die
Kunstgeschichte als Forschungsgebiet ihren Aufstieg verdankt und welche
Spielregeln und Probleme sich im Laufe der Zeit eingestellt haben. Viele dieser
Probleme sind - und das ist der springende Punkt - nicht elektronischer
Natur.
<15>
Sobald man die Entscheidung gefällt hat, 'Kunstgeschichte mit dem
Computer' betreiben zu wollen, hat man bereits eine Summe von theoretischen
wie praktischen Vorgaben akzeptiert, die über Sinn und Zweck des
Arbeitsmittels mit entscheiden und die es zu bedenken gilt. Wenn jemand in
Kopenhagen oder Stuttgart das Bedürfnis verspürt, Kunstwerke aus Granada
oder Neapel zu studieren, so ist dies nicht zuletzt auch durch die pure
Möglichkeit verursacht, mit Hilfe von Büchern, Museen, Postkarten und
Internetangeboten ohne Mühe räumliche Begrenzungen zu überwinden, während
dies dem Bildungsbürger in früheren Jahrhunderten noch den Aufbruch zur
'Grand Tour' abverlangte. In den genannten medialen Angeboten aber hat sich
längst eine institutionalisierte Kunstgeschichte verwirklicht [3]. Wer sich für
den Einsatz eines Computers - etwa im Rahmen einer elektronischen
Bilddatenbank - ausspricht, trifft daher im Grunde noch keine
'Entscheidung', sondern folgt den Ansprüchen eines sich selbst tragenden
Betriebes, den es aufrechtzuerhalten und zu optimieren gilt, so wie man sich
nicht wirklich entscheidet, einen platten Autoreifen auszutauschen, wenn man
im Regen am Straßenrand steht.
<16>
Kunstgeschichte wäre in der Tat eine 'konservative' Veranstaltung, wenn
sie ihre historisch verbürgten Anschauungen lediglich auf die neuen Medien
und Gegenstände übertrüge; allerdings geschieht dies in ganz
unterschiedlichen Formen, Kompetenzbereichen und Personengruppen, die das so
heterogene Fach kennzeichnen und die man unterscheiden muss. Die
kunsthistorischen Klassifikationsregeln zum Beispiel verhalten sich sicherlich
'konservativ', wenn sie ihre Objektwelt nach Künstlernamen, Ikonographien und
Stilen sortieren und damit eingeübte Vorstellungen von der Integrität eines
Werkes, Ortes oder Namens fortschreiben. Eine noch so leistungsfähige
Datenbank würde hieran nichts ändern, und sie soll es auch nicht, wenn sie
damit den Konservator eines Landesdenkmalamtes unterstützt.
<17>
Nun haben sich die Künste jedoch von gewissen Vorstellungen des Werkes,
des Mediums und der Autorschaft so weit entfernt, dass in das vorhandene
Raster nur noch diejenigen passen, deren Objekte sich für die Erschließung
anbieten. Es mag Künstler geben, die sich durch Beschäftigung mit virtuellen
Räumen mit dem Nimbus des 'innovativen' Ingenieurs versehen möchten,
während sie ihre 'Werke' ganz herkömmlich mit Namen signieren, um den
Klassifikationsregeln eben dieses Betriebes zu genügen [4]. Eine Datenbank, die
dies nicht berücksichtigt, verhält sich jedoch weit sträflicher als der
Konservator, der genau weiß, dass jede Bewahrung der Vergangenheit ein
Eingriff in die Gegenwart ist. Wie eine sich reformierende Kunstgeschichte in
ihren elektronischen Archiven in Universität, Museum und Bibliothek um ihre
eigene Welt von Objekten kreist, hängt also nicht allein vom theoretischen
Anspruch oder den praktischen Erfahrungen einzelner Computerspezialisten ab,
sondern vom Arbeitsauftrag oder Reflexionsniveau des jeweiligen Fachgebietes,
für das hier gesprochen wird - genau so, wie der Einsatz des Dias in einer
Vorlesung mit ganz unterschiedlichem Bewusstsein für die Verfremdungsgrade
der Reproduktion erfolgen kann, auch wenn sich alle Beteiligten einig sind,
wie unerlässlich das Dia als Arbeitsmittel ganz allgemein ist.
<18>
Medientransformationen bleiben nicht ohne Auswirkungen auf die allgemeinen
Diskurse, so wie umgekehrt die Möglichkeiten neuer Medien durch die
faktischen Grenzen ihrer Bezahlbarkeit und Durchsetzbarkeit mitbestimmt
werden. Selbst eine noch so zeitgemäß gestaltete elektronische Ressource,
heiße diese nun Bildarchiv zur Kunst und
Architektur in Deutschland, VanEyck,
AMICO
oder Prometheus - Verteiltes
Bildarchiv für Forschung und Lehre, wird trotz zahlreicher
Interaktionsangebote vielfach passiv genutzt, das heisst rein zum Zwecke der
Bildbeschaffung, auch wenn das dahinter stehende Programm eine umfangreiche
und interaktive Funktionalität unterstützt.
<19>
Dementsprechend ist es keine Nebensache, dass Medien erst als erfolgreich
gelten dürfen, wenn sie auch quantitativen Kriterien der Nutzung genügen.
Überspitzt formuliert, ist auf dem Gebiet des Technologiewandels Quantität
oftmals Qualität, wenn sich mit so simplen Faktoren wie Beschleunigung,
Kostensenkung, Bestandserschließung usw. auch Veränderungen in den
Kommunikationsgewohnheiten oder in den Auswahl- und Entscheidungsprozessen
ergeben, unabhängig davon, ob die eingesetzte Technik nun revolutionär ist
oder nicht.
<20>
So hat sich, um zwei konkrete Beispiele aus der Erfahrung des Autors zu
geben, unter der Bezeichnung Warburg Electronic
Library in Hamburg im Jahre 1997 ein webbasiertes, multimediales
Archivprojekt konstituiert, das die Bestände der dortigen Forschungsstelle
Politische Ikonographie elektronisch zugänglich macht. Diese digitale
Bibliothek soll durch ihre flexible Gestaltung eine individuelle Recherche
unterstützen, indem jeder Nutzer über einen Internetbrowser die Sammlungen
nach eigenem Gutdünken umstellen und verschlagworten, also personalisieren
kann. Durch Anbindung an das Internet soll hieraus ein kollektives Unternehmen
werden. Seit einiger Zeit ist der Dienst daher auch allgemein im www
zugänglich.
<21>
Eine andere Art der elektronischen Kooperation an verteilten Standorten
stellt das Informationsnetzwerk ArtHist dar, welches ursprünglich das Ziel verfolgte, jene elektronische
Gemeinde überhaupt erst einmal zu ermitteln, welche solche Webangebote nutzen
oder bestücken würde und sich durch elektronische Medien tatsächlich
unterstützt fühlen könnte. Es stand also der langfristige Aspekt im
Vordergrund, wie mit den rein quantitativen Veränderungen schnellerer und
günstigerer Information auch ein qualitativer Wandel in der Arbeitsweise
herbeigeführt werden könnte, nämlich durch die erhöhte Transparenz der
wissenschaftlichen Diskussion und durch die Dynamisierung des fach- und
institutsübergreifenden Austauschs; auch hier ist die Akzeptanzförderung
neuer Medien bei den Nutzern weit nachhaltiger als die eingesetzte Technologie
innovativ. Auch ein ausgeklügeltes Bilderkennungsverfahren beispielsweise
bedarf der breiten empirischen Grundlage, um wissenschaftlich signifikant zu
sein. Technologisch anspruchsvolle Projekte, die nicht automatisch der
Erschließung massenhafter Inhalte dienen, brauchen diese, um dem Bedürfnis
der Fachöffentlichkeit nach einer Ausweitung von Informationsangeboten zu
genügen.
<22>
Die Kunst besteht daher nicht allein darin, völlig neuartige Geräte und
Anwendungen zu entwickeln, sondern das vorhandene technologische Repertoire
für die je eigenen Zwecke umzudefinieren. Da mit dem Computer verschiedene
Speicherungs- und Visualisierungsmöglichkeiten gleichzeitig gegeben sind und
so verschiedene Dienste, von der digitalen Diathek bis zur Beamer-Projektion,
integriert werden können, ist oftmals nicht die Entscheidung für eine neue
Technologie entscheidend, sondern die mit ihr verbundenen Nebeneffekte.
CAD-Anwendungen sind beispielsweise kein revolutionäres Medium, aber ihre
Nutzung in einer Lehrveranstaltung für Architekturgeschichte nötigt die
Anwender, vorhandene Architekturaufnahmen auf die Nutzbarkeit am Computer hin
neu zu überprüfen. Die überraschenden Einsichten, die sich hierbei ergeben,
gehören ebenso zum wissenschaftlichen Gesamtergebnis und sind im Einzelfall
sogar wichtiger als die Möglichkeit, den visualisierten Raum nun
dreidimensional vorführen zu können.
<23>
Dies ist gemeint, wenn die These aufgestellt wird, dass angesichts des
Vorhandenseins zahlreicher digitaler Basistechnologien die Masse durchaus auch
die Klasse machen kann. Dabei stellt sich heraus, dass viele der
Forschungsinteressen und Nutzungsformen, die man in die Gestaltung neuer
Medien einfließen lassen möchte, noch gar nicht definiert sind und man davon
ausgehen muss, dass mit jeder kleineren technischen Neuerung (etwa, wenn die
Auszeichnungssprache HTML durch XML ersetzt werden soll) auch die Diskussion
über Sinn und Zweck derselben wieder aufgeworfen wird.
<24>
Die erwähnten Projekte rechtfertigen sich demnach nicht allein durch
technische Innovation, sondern lassen erkennen, dass es bei aller
Unterschiedlichkeit der Anwendung gemeinsame und langfristige Parameter geben
muss, die die Forschungsrelevanz und den wissenschaftlichen Nutzen
kurzfristiger Vorhaben festlegen. Auch wenn Begriffe wie 'Synergieeffekt' oder
'Kompetenzgewinn' einen Experten für barocke Kirchenmalerei nicht mehr
sonderlich beeindrucken, so verbirgt sich hinter den Vokabeln doch eine
veränderte Wahrnehmung wissenschaftlicher Tätigkeit, die nicht als
Nebenwirkung angesehen werden sollte. 'Technologie' ist in diesem Zusammenhang
nur eines von vielen Problemen, die man gewöhnlich als Nebensachen der
Fachpraxis begreift, obwohl sie längst zu Kernproblemen avanciert sind.
<25>
Zu diesen unterschätzten Nebensachen, die über die gemeinsamen Inhalte
eines Faches bestimmen und die durch den Einsatz digitaler Medien neues
Gewicht erhalten, gehören bibliothekarische Regeln der Erschließung und
Recherche ebenso wie Bildarchivierung und Bildbeschaffung, Publikations- und
Verlagswesen, Personalführung, Projektmanagement, Öffentlichkeitsarbeit und
anderes: Online-Kataloge werden anders genutzt als Buchregale und ihren
Verschlagwortungsregeln kommt daher eine andere Bedeutung zu;
Internetauftritte eines Instituts mit Angabe von Telefonnummern oder privaten
Mailadressen verändern die Gesprächsregeln; Hausarbeiten und Dissertationen
verfügen über Illustrationen, deren Bildbearbeitung durch keinen Professor
überprüft wurde. Das Management eines kunstwissenschaftlichen Projektes,
welches fast automatisch ein Publikationsvorhaben ist, verlangt Kenntnisse auf
urheberrechtlichem Gebiet; Zielgruppen, Laufzeiten, Verstetigungspläne,
Arbeitsabläufe müssen geklärt sein, Budgets und Meetings geplant und
dokumentiert werden. Es ist ökonomisches, politisches und psychologisches
Gespür und Geschick erforderlich - sowohl nach innen, um Mitarbeiter,
Entwickler und Nutzer zu motivieren, als auch nach außen, um als Teil
übergeordneter Forschungsinitiativen (etwa des Bundes oder der Europäischen
Kommission) über eine Stimme an entsprechender Stelle zu verfügen.
<26>
Diese scheinbar 'rein' technisch-administrativen Aspekte beeinflussen auch
die Bestimmung von Inhalten und Zielsetzungen und werden damit zu
konstitutiven Faktoren der Methodenbildung. Es ist nicht entscheidend, dass
man im kunstgeschichtlichen Studium weder diese Fähigkeiten noch Kenntnisse
in Datenbankgestaltung oder digitaler Bildbearbeitung erwirbt; bedauerlich ist
lediglich, dass es noch immer als unschicklich angesehen wird, wenn jemand
über sie verfügt.
<27>
Je häufiger wir die Befürchtung äußern, dass die Elektronik unser Fach
ruinieren könnte, umso sicherer wird sie es tun. Die Belastung der Budgets
durch Systemupdates ist eine viel akutere Sorge als die, durch den Computer
unser kulturelles Wissen verlieren zu können. Der Umstand, dass die
Entwicklung, Anpassung und Betreuung elektronischer Werkzeuge in der Regel dem
XML-kundigen Nachwuchs überlassen wird, ohne dass diesem auch die
entsprechende Methodenhoheit offiziell eingeräumt würde, führt unterdessen
zu Sinnkonflikten und kontraproduktiven ‚Bastellösungen’, die wir
allerorten im Internet bewundern dürfen.
<28>
Entscheidend für das Gelingen eines multimedialen Unternehmens sind daher
auch Faktoren, die man oftmals als 'weich' bezeichnet. Viele Projekte sind zum
Scheitern verurteilt, weil sie Konfrontationen unter den Mitwirkenden aufgrund
dürftigen arbeitspsychologischen oder verfahrenstechnischen Gespürs geradezu
provozieren. Wenn ein Unternehmen aber aufgrund derartiger nebensächlicher
Streitigkeiten scheitert, so sollte man doch bedenken, dass Personalkosten die
Kosten für einen Server oder eine Softwarelizenz nach wie vor um ein
Vielfaches übersteigen.
<29>
Die Wissenschaft gewöhnt sich derzeit daran, ihre Planstellen und
Ankaufsbudgets mit Hilfe von Projekten durchzubringen. Nicht nur auf dem
Papier jedoch sollte ein Projekt einen Anfang und ein Ende haben. Einen Ersatz
für den laufenden Gesamtbetrieb können 'Projekte' nur als Summe aufeinander
abgestimmter Einzelvorhaben bieten, wofür es dann aber eines
Mentalitätswechsels im Wissenschaftsbetrieb bedürfte. Denn es gibt Projekte,
die unbefristet laufen sollen, aufgrund zunehmender Konkurrenz oder
schnellerer Systemwechsel aber aufgegeben werden; andere Vorhaben hingegen
werden nach einer bestimmten Laufzeit abgewickelt, weil sie schlichtweg
abgeschlossen sind (und sich in Nachfolgevorhaben integrieren lassen).
<30>
Angesichts dieser Situation, in der häufig die Befürchtung geäußert
wird, dass die zunehmende Zahl von Digitalisierungskampagnen zu endloser
Verwirrung führe, muss man sich vergegenwärtigen, dass digitale Dienste sich
wie Periodika verhalten, von denen es aufgrund verschiedener Methoden,
Leserkreise oder Sprachen ebenfalls stets mehr als eines gibt und die doch
gewisse publizistische Grundregeln befolgen. Trotz und wegen des Anspruches,
keine 'Insellösung' schaffen zu wollen, sind selbst die anspruchsvollsten,
exportfähigsten, skalierbarsten Modelle auf Konventionen und auf
medienpolitische Rahmenbedingungen angewiesen, um überleben zu können.
<31>
Setzt jemand auf öffentliche Förderung durch nationale oder
internationale Einrichtungen, muss er sich mit dem Geldgeber und -
entgegen der ursprünglichen Konzeption - oft auch mit unerwarteten
externen Projekten von andersartiger Zielsetzung abstimmen, welche
nicht immer unbedingt notwendig, wohl aber politisch wünschenswert
sind. Dies wird oft als 'Verwässerung' des ursprünglich
vorgelegten Konzepts abgetan, obwohl damit auch ein Entscheidungsprozess
forciert wird, vor dem man sich nicht mehr drücken kann.
<32>
Wegen des enger werdenden Marktes an digitalen Angeboten und Initiativen
ist es nämlich unvermeidlich, dass derartige politisch-strategische
Überlegungen allmählich einen höheren Stellenwert bekommen als bisher. Der
umfassende Wandel der Technik und Nutzungsgewohnheiten führt dazu, dass
jüngere Projekte ein schärferes Profil als professioneller Dienstleister
suchen und sich auch so bewerben. Projekte wie 'Prometheus', 'ArtHist' oder 'Server
Frühe Neuzeit' führen durch ihre Kosten- und Zeitersparnisfunktion nicht
nur zu einem veränderten Verhalten und Selbstverständnis der nachwachsenden
Forschergeneration, sondern versuchen dieses auch für ihre eigene Arbeit zu
nutzen.
<33>
Als Netzwerke oder Konsortien erkennen sie auch an, dass wissenschaftliche
Einrichtungen wie Universitäten und Bibliotheken allein nicht mehr für die
Langlebigkeit eines Dateiformats oder eines Datenstandards bürgen können,
weil die industrielle Entwicklung von Anwendungen ständig neue Richtungen
vorgibt und es daher darauf ankommt, erfolgreiche Modelle zu integrieren,
anstatt auf ein von höherer Stelle zu gründendes 'digitales Zentralinstitut
der Kunstgeschichte' zu hoffen.
<34>
Mit den so genannten neuen Medien dringen also die kurz- und
mittelfristigen Kriterien der Technologieentwicklung und der globalisierten
Wissenschaftspolitik in wesentliche inhaltliche Bereiche der Forschung ein und
lassen sich nicht länger als bloße Störfaktoren abtun. Die Forschung
antwortet teilweise mit entsprechenden Initiativen, die ein Abbild der
legislativen und antragstechnischen Bedingungen sind, sich diesen Umstand aber
nicht immer vor Augen halten. Es ist jedoch kein Zufall, wenn jüngere
Fachkollegen Initiativen starten, um auf aktuelle Förderprogramme zu
reagieren und damit jene Lücke schließen, die ihnen vom weniger
interessierten Kollegium gelassen wird. Projekte wie 'Prometheus' oder 'ArtHist'
stoßen nämlich auf Gehör, weil mit ihnen eine überfällige Baumaßnahme in
Angriff genommen wird, die in etwa so modern ist wie die Modernisierung eines
einsturzgefährdeten Altbauviertels.
<35>
Internet- und Datenbankprojekte sind infrastrukturelle Maßnahmen mit
zahlreichen Beteiligten und Betroffenen, so wie der Bau jeder Auto- oder
Wasserstraße eine infrastrukturelle Maßnahme mit entsprechendem Flurschaden
ist, die von sich wohl kaum behauptet, wegweisend zu sein, nur weil sie
Verkehrsströme umlenkt. Schon die Metapher der 'Datenautobahn' zeigt an, dass
auch im Bereich technologischer Exzellenz die entsprechenden finanziellen
Mittel, politischen Interessen und materiellen Bedingungen zusammenkommen
müssen, um einen theoretisch wünschenswerten Wandel auch tatsächlich
herbeizuführen.
<36>
Zu den oben erwähnten Fragen des internen Projektmanagements, welche für
das Gelingen eines Vorhabens verantwortlich sind, kommt daher noch die
institutsübergreifende Einbettung eines Projektes und seine politische
Unterstützung im Kultur- und Wissenschaftssektor. Dies hat Einfluss auf
sämtliche Prozesse der Antragstellung, welche mittlerweile ein eigenes
Studienfach mit dem Titel 'Antragswissenschaften' verdienen.
<37>
Dies ist insofern ein ernst gemeinter Vorschlag, da wir eine Verlagerung
von Langzeit- und Grundlagenwissenschaft in temporäre und förderungsbedingte
Projektwissenschaft erleben, die wir ebenso organisieren und definieren
müssen, wie wir die Frage zu klären haben, ob wir nun Linux oder Windows den
Vorzug geben. Die Probleme, die sich mit dem Einsatz elektronischer Medien in
der Kunstgeschichte ergeben, sind daher nicht nur ärgerliche Details
alltäglicher Problembewältigung. Das Management von Forschungsprozessen oder
die Ausbildung vielfältiger, unterschiedlicher Zuständigkeiten ist Teil der
Modernisierung des Wissenschaftsbetriebes und logische Folge seiner immer
wieder eingeforderten Professionalisierung.
<38>
Mit der Transformation unseres Faches werden immer mehr Berufe und
Zuständigkeiten involviert, die auch eine entsprechende Beachtung verdienen.
Das zuletzt wieder häufiger bemühte Wort 'Logistik' steht für ein
Management von Inhalten, welches insofern diskutiert werden muss, als mit
neuen Medien auch neue professionelle Erfahrungen und Sehweisen ins Spiel
kommen. Programmierer und Entwickler, Designer und Anwender haben ihre ganz
eigene Vorstellung von Nutzung, pädagogischer Qualität und technischer
Machbarkeit digitaler Dienste.
<39>
Wir haben uns noch nicht auf die veränderten Parameter der
Wissenschaftsförderung eingestellt, wenn derlei Dinge einigen Assistenten
überlassen bleiben, nur weil diese den Jargon der 'Techies' besser
beherrschen. Mit den technischen, ökonomischen und rechtlichen Bedingungen
der Digitalität treten Interessen der Verwertbarkeit und Nutzbarkeit in die
Kunstgeschichte ein, die in kürzeren Phasen gemessen werden als die
Interessen am Guten, Wahren und Schönen; mit Google als Recherchemittel kommt
unweigerlich auch das Information-Brokerage, mit der Wahl eines
Metadatenformats werden bestimmte Projektpartner gewonnen und andere
ausgeschlossen. Banal scheinende Infrastrukturmaßnahmen haben
wissenschaftspolitische Bedeutung. Bevor wir daher unseren Gesprächspartnern
in der Softwarebranche oder in der Forschungsförderung vorhalten, sie würden
von unserem Fach und seinen Anforderungen nichts verstehen, sollten wir uns
selbst noch einmal vergegenwärtigen, ob wir schon wissen, was wir von unserem
Fach in Zukunft wollen.
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