Hubertus Günther
Computer-Visualisierung für formale Analysen von
Kunstwerken
<1> Der Computer gibt neue Mittel an die Hand, um die Struktur von Kunstwerken zu
analysieren. Diese Möglichkeit gilt es, wie William Vaughan feststellt, zu
nutzen, und zwar gleichermaßen in der Lehre wie in der Forschung. Wie stark die
Kunstwerke am Ende auch in ihre historischen Zusammenhänge eingebettet werden,
am Anfang sollte stets die Auseinandersetzung mit ihnen selbst stehen. Sie
bildet nun einmal den Kern unserer Disziplin, und je gründlicher das Fundament
der formalen Analyse gelegt wird, desto sicherer lässt sich darauf der
historische Überbau setzen.
Wenn man nun in diesem Bereich nach sinnvollen Möglichkeiten für den
Einsatz des Computers sucht, so liegt es nahe, zunächst die Desiderata ins Auge
zu fassen, die schon längst unabhängig von der Erfindung neuer
Kommunikationsmedien in unserer Disziplin bestehen. Ich sehe da vor allem zwei
Bereiche.
<2> Der erste und grundsätzlichste Bereich betrifft die Didaktik der Analyse.
Die meisten Geisteswissenschaften behandeln Objekte oder Angelegenheiten, die in
erster Linie sprachlich fixiert sind. Wenn sie sich dazu äußern, bleiben sie
im gleichen Kommunikationsmedium. Sie sprechen über das, was sprachlich fixiert
ist. Die Kunsthistoriker haben es da schwerer. Ihre Objekte sind meistens rein
anschaulich gegeben. Bei der Beschreibung oder Analyse werden zwei Dinge auf
einmal verlangt: zunächst den anschaulichen Bestand zu erfassen und dann das,
was erfasst wurde, umzusetzen in ein anderes Medium, nämlich die Sprache.
Eigentlich ist es didaktisch ganz schlecht, beides zur gleichen Zeit
durchzuführen, wie es bisher üblich ist. Das gilt nicht nur theoretisch; die
Erfahrung lehrt, dass es meistens auch in der Praxis nicht recht funktioniert.
Daraus resultieren ja, zum Beispiel, die vielen Diskussionen um alte
Beschreibungen von Bildwerken oder Bauten, die inzwischen ihre Form verändert
haben oder verschwunden sind. Die Beschreibung ist normalerweise nicht so
eindeutig, dass sie das Sichtbare wirklich vor Auge führen könnte. Wer meint,
wir wären inzwischen über solche primitiven Zustände hinaus, kennt offenbar
die Pisa-Studie schlecht. Didaktisch vernünftiger ist, erst einmal anschaulich
- das heißt durch visuelle Vergegenwärtigung - die Form zu analysieren und danach
erst anzufangen zu reden.
<3> Das zweite Desideratum ist die Wiedergabe der dritten Dimension. Das betrifft
in erster Linie natürlich die Architektur, aber durchaus nicht sie allein.
Dreidimensionale Visualisierungen bereichern auch die Behandlung aller
Bildwerke, die eingebunden in Architektur konzipiert sind, und das waren die
meisten öffentlichen Werke. Wir wollen jedoch im Bereich der Architektur
bleiben. Zunächst sei am Beispiel des bayerischen Rokoko der sinnvolle Einsatz
einer Visualisierung aufgezeigt: Bernhard Rupprecht und andere haben darauf
hingewiesen, dass in bayerischen Rokoko-Kirchen oft mit den Blickpunkten der
Deckenfresken bestimmte Standpunkte fixiert sind, von denen aus die Räume
betrachtet werden sollen. Eine Beschreibung und Analyse der Architektur sollte
daher berücksichtigen, welche Formationen sich von diesen Standpunkten aus
ergeben. Wie schön wäre es, wenn wir das im Hörsaal tun könnten. Aber dazu
bräuchten wir die Hilfe einer Visualisierung.
<4> Ein anderes Beispiel bilden die Säulenordnungen. Man sollte sie nicht als
historisches Detail vernachlässigen: In der Renaissance und im Barock wurden
die Säulenordnungen als das entscheidende Element für die Gestaltung der
Architektur angesehen. Nur gab es ein grundsätzliches Problem dabei: Säulen
sind ihrer besonderen Eigenständigkeit wegen, im Unterschied zu
mittelalterlichen Wandvorlagen oder ‚Diensten’, im Grunde schlecht zum ‚Dienst
am Bau’, das heißt als untergeordnetes Element einer Wandstruktur, geeignet.
Leider gibt es bisher in der Kunstgeschichte auffällig wenig Beiträge zu der
Art und Weise, in der Architekten der Renaissance und des Barock Säulen
einsetzten. Ein Beispiel bildet die Diskussion von Volker Hoffmann und Christoph
Toenes über Brunelleschis Architektursystem [1]. Ein neues Beispiel von mir selbst
betrifft Bramantes Gestaltung des Tempietto [2]. Beide Beispiele haben den Nachteil,
dass sie zu unanschaulich bleiben. Ihnen fehlt die Visualisierung. Vielleicht
gibt es deshalb so wenige Untersuchungen der Frage, auf welche Weise die
Säulenordnungen eingesetzt wurden, weil bisher die Möglichkeit fehlte, die
Angelegenheit in geeigneter Weise zu veranschaulichen.
<5> In solchen Fällen eröffnet der Computer neue Möglichkeiten für die Lehre
und kann zugleich die Forschung vorantreiben. So wird die
Computer-Visualisierung im Zeitalter von Multiple Choice zum Hoffnungsträger:
Sie kann zur Rückbesinnung auf die Verbindung von Forschung und Lehre in der
Universität beitragen.
Eine Gruppe von Architekturstudenten der Universität Stuttgart hat unter
meiner kunsthistorischen Anleitung einen Plan Michelangelos für S. Giovanni dei
Fiorentini in Rom anhand einer Computer-Visualisierung analysiert [3]. Dabei ergaben
sich neue Aspekte für die Forschung, und der Effekt für die Lehre war, sowohl
was die Erweiterung des Sachwissens, als auch was das methodische Verständnis
betrifft, erfreulich groß.
<6> Es geht um eines der letzten Werke Michelangelos. 1559 zeichnete Michelangelo
fünf alternative Entwürfe für die Vollendung des Baus der Florentiner
Nationalkirche in Rom, S. Giovanni dei Fiorentini. Drei davon sind erhalten
(Casa Buonarroti, Florenz). Die Florentiner wählten zur Ausführung den Plan
mit einer Rotunde im Innern, an die acht tiefe Kapellen anschließen sollten.
<7> Allerdings wurde er verändert. Danach fertigte Tiberio Calcagni ein
Holzmodell. Es ist zerstört, aber seine Erscheinung und seine Hauptmaße sind
überliefert.
Zur Ausführung von Michelangelos Projekt kam es nicht.
<8> Am sorgfältigsten gestaltete Michelangelo aber nicht den Plan, den die
Florentiner ausführen wollten, sondern einen Plan, dem ein Oktogon zugrunde
liegt.
<9> Nur hier fügte er schriftliche Erklärungen ein. Er selbst
scheint diesen Plan bevorzugt zu haben. Und wenn man sich vergegenwärtigt, wie
ungefähr der Aufriss konzipiert gewesen sein muss, so ergibt sich eine wahrhaft
grandiose Konzeption, die ihrer Zeit weit voraus ist. In der Renaissance gab es
keine ähnlichen Bauten. Erst Guarino Guarini schuf etwas Vergleichbares: S.
Lorenzo in Turin kommt Michelangelos Projekt am nächsten. Hier zeichnet sich
mit aller Deutlichkeit ab, wodurch der Meister seinen überragenden Ruhm
verdiente. Deshalb wurde dieser Plan zur Analyse ausgewählt. Das Mittel zur
Analyse bildete eine dreidimensionale Visualisierung, die den Grundriss konkretisieren und wiedergeben sollte, welcher Aufriss und welche Raumwirkung
dem Plan nach am ehesten beabsichtigt waren.
<10> Als erste Phase der Analyse wurden die geometrischen Koordinaten bestimmt,
die Michelangelo der Disposition des Grundrisses zugrundelegt, aber nur ungenau
angibt. Nach diesem Schema wurde der Plan in präziserer Form umgezeichnet.
Es folgten grundsätzliche Überlegungen dazu, wie der Aufriss geplant
gewesen sein könnte. Zunächst liefert der Plan mit den eingezeichneten Säulen
einen Anhalt dafür. Weitere Anhaltspunkte ergaben sich aus Vergleichen mit
Michelangelos Bauwerken, speziell mit der ungefähr gleichzeitig entworfenen
Sforza-Kapelle in S. Maria Maggiore und mit dem Projekt Michelangelos für S.
Giovanni dei Fiorentini, das die Florentiner zur Ausführung wählten. Daraus
ergab sich vor allem die Beobachtung, dass der vorbereitende Plan für das
Ausführungsmodell von S. Giovanni dei Fiorentini in einem wesentlichen Punkt
dem von uns analysierten Plan angeglichen wurde: Der Hauptraum wurde
beträchtlich vergrößert, so dass er ungefähr die gleichen Dimensionen wie in
dem von uns analysierten Plan erhielt. Das betraf nicht nur die Weite des
Raumes, sondern auch die Höhe der Kuppel, die ihn decken sollte. Die Höhe der
Kuppel war wichtig, weil der Bau wegen seiner besonderen urbanen Position von
weitem in Erscheinung treten sollte. Diese Angleichung führte im Verein mit der
Größe der Säulen und anderen Überlegungen zu der Annahme, dass der
Aufriss zu dem von uns analysierten Plan mit dem Ausführungsprojekt in den
Höhenmaßen ungefähr übereinstimmen sollte.
<11> Über dem präzisierten Plan wurde das untere Geschoss des Projekts
rekonstruiert. Dazu gehört zunächst die Säulenordnung, die im Plan
eingezeichnet ist, also Säulen über Piedestalen und Gebälk. Die Gewölbe im
Umgang konnten unter anderem mit Hilfe der Angaben, die Michelangelo in den
Plan geschrieben hat, rekonstruiert werden. Soweit bewegten wir uns auf ziemlich
sicherem Terrain. Etwas spekulativer wurde die Rekonstruktion der Attikazone.
Aber die Arkaden, die sich einigermaßen zwangsläufig aus den Formen der
Gewölbe des Umgangs ergaben, und die Notwendigkeit von Fenstern zur Beleuchtung
des Raumes ließen kaum eine andere Lösung als im Ausführungsprojekt zu.
Heikel wurde es bei der Frage, wie der Hauptraum eingedeckt sein sollte. Dass er
gewölbt sein sollte, durften wir ohne weiteres voraussetzen, aber über die
Höhe des Gewölbes ließ sich nur spekulieren. Mit Rücksicht auf die urbane
Situation nahmen wir an, dass es mindestens halb so hoch wie der Durchmesser des
Raumes sein sollte. Die graphischen Angaben für die übrige Disposition des
Gewölbes sind eigentlich eindeutig; problematisch ist nur, dass sich aus ihnen
eine Disposition ergibt, die man nicht aus der Renaissance kennt. Vergleichbares
gibt es in der Spätgotik und dann erst wieder bei Borromini (Collegio di
Propaganda Fide, Cappella dei Re Maggi). Auch für die Gewölbe im Umgang
ergaben sich Konfigurationen, die in ihrer komplizierten Struktur mehr an die
Spätgotik als an die Renaissance erinnern. Wir hatten beträchtliche Mühe, uns
ihre Form vorzustellen. Es erwies sich, dass der Plan ein weiteres Beispiel für
die bekannten Phänomene von Michelangelos Rückgriffen auf die Spätgotik und
seinen proto-barocken Formen bildet. <12> Schließlich fragten wir: Wie waren die Beleuchtungsverhältnisse (konkret:
wie waren Fenster damals verglast), wie war die Architektur farblich gefasst und
wie kann man sich den Fußboden vorstellen? Die letztere Frage warf die meisten
Probleme auf. Sie berührt ein Thema, das in der Kunstgeschichte
stiefmütterlich behandelt wird [4]. Dabei tritt ein Fußboden doch sehr prominent
in Erscheinung, wenn er nicht, wie es heute in Kirchen üblich ist, mit
Sitzbänken zugestellt ist. Und trotzdem war es in der Renaissance oft so, dass
sich die Architekten nicht darum kümmerten, ihn zu gestalten, beziehungsweise dass die
Bauherrn andere Architekten oder Designer mit dieser Aufgabe betrauten. Das
Phänomen bedarf einer Erklärung, denn es sagt viel über das architektonische
Verständnis aus. Ich erwähne das hier als ein weiteres Beispiel dafür, wie
die Auseinandersetzung mit Architektur in der Computer-Visualisierung
weitreichende Forschungen anregen kann.
<13> Man klage nun nicht, dass die Rekonstruktion, die sich ergeben hat, teilweise
hypothetisch ist. Sicher hält sie nicht historische Fakten fest. Aber diesen
Anspruch erhebt sie auch nicht. Sie ist nichts weiter als das Ergebnis einer
Plananalyse, und dazu gehört, sich den Aufriss vorzustellen. Die Pläne hatten
doch nicht Selbstzweck. Sie waren von vornherein dafür bestimmt, sich eine
Vorstellung zu machen. Ein vernünftiger Architekt sollte gewusst haben, dass
ein Plan schon zu seiner Zeit nicht bei allen Betrachtern genau die gleiche
Vorstellung hervorrufen werde. Nicht einmal er selbst konnte immer im Einzelnen
absehen, worauf die Realisierung seines Plans hinauslaufen würde. Schon Alberti
hat sehr lebendig beschrieben, wie sich die Formen bei der Präzisierung der
Gestaltung im Lauf der Planung beständig unerwartet wandelten [5].
<14> Bei unserer Analyse des Plans von S. Giovanni dei Fiorentini wurde jeweils
diejenige Version, die wir nach eingehender Abwägung aller Argumente für die
schlüssige oder sinnvollste hielten, in die Rekonstruktion direkt integriert.
Daneben wurden aber auch die übrigen Gedanken festgehalten, die zu unserer
Analyse gehörten, einschließlich derjenigen, die wir als Irrwege verwarfen.
<15> Mir persönlich scheint es sinnvoll und nützlich, die Analyse so weit wie
irgend möglich zu treiben. Unabhängig davon, dass manches im Einzelnen
unsicher bleibt, bringt sie diverse generelle Erkenntnisse über Michelangelos
Architektur und hat einen weitreichenden Effekt für die Lehre. Man ziehe nur
das Fazit, wie viele Gebiete hier berührt wurden. Das alles gilt allerdings nur
dann, wenn die Materie bei der Computer-Visualisierung präzise analysiert wird.
Es gibt für S. Giovanni dei Fiorentini auch ein Beispiel, das geradezu
paradigmatisch demonstriert, wie man Architektur ohne kunsthistorische
Konzeption im Computer visualisieren kann (http://www.stack-studios.com/): Da
wird das Ausführungsmodell Michelangelos nachgeformt, freilich nur vage - die
Säulenordnung hat dort mehr mit exotischen Balustern als mit italienischer
Renaissance gemein. Durch Beleuchtungseffekte und Blickwinkel wird nun der
Eindruck erweckt, der Betrachter bewege sich in einem realen Raum. Nichts ist
wirklich kritisch hinterfragt. Da die Visualisierung die Säulenordnungen nicht
richtig wiedergibt, bildet sie im Einzelnen einen Rückschritt gegenüber den
bekannten Illustrationen des Modells. Im Ganzen liefert sie eine Fiktion, die,
wie die Wahrnehmungspsychologen allenthalben versichern, nicht einmal annähernd
der Wahrnehmung eines realen Raumes entspricht. Aus kunsthistorischer Warte
bietet eine solche Art von Visualisierung wenig Vorzüge.
<16> Was unserer Visualisierung sicher noch fehlt, ist eine überzeugende
Veranschaulichung der Gedankengänge, die zu unserer Analyse gehörten. Die
Veranschaulichung von Gedankengängen, einmal nicht deren schriftliche
Abfassung, das ist das interessante neue Feld, das der Computer eröffnet, und
daran muss weiter gearbeitet werden. Mit theoretischen Kommentaren allein lässt
sich auf diesem Feld wenig gewinnen. Weiter kommt man nur, indem man so lange
experimentiert, bis sich Ideen für neue Lösungen einstellen.
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