Die polnische Künstlerenklave in München (1828-1914)
urn:nbn:de:0009-9-5660
Zusammenfassung
Der Verlust der Unabhängigkeit Polens für mehr als 100 Jahre – vom Ende des 18. Jahrhundert bis 1918 –, die Teilung des Staates durch Russland, Österreich und Preußen sowie die Repressalien gegen die polnische Bevölkerung waren für junge Polen ein Grund, scharenweise ins Ausland zu ziehen, unter anderem auch, um dort Kunst zu studieren. Besonders beliebt war München: 1828-1914 ließen sich 322 Polen in die Matrikelbücher der dortigen Kunstakademie eintragen, und 150 wurden Mitglieder des Münchner Kunstvereins. Die Polen bildeten in München eine der zahlenstärksten Ausländergruppen. Von der Zensur unbehelligt, schufen sie Werke, die im Hinblick auf Thema und emotionalen Ausdruck nationalpolnisch geprägt waren. Sie nahmen an Ausstellungen teil, wurden recht schnell von Kritikern und Publikum bemerkt und geschätzt und brachten polnische Kunst in Mode. Das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Besonderheit der polnischen Enklave wurden durch den engen Kontakt zu Polen und seiner Kunstszene gefördert.<1>
Durch die Münchener Kunstszene sind im Laufe des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts viele, vor allem junge polnische Künstler mehrerer Generationen gegangen, hauptsächlich Vertreter der Malerei, eines Schwerpunktgebiets der Münchener Königlichen Akademie der bildenden Künste. Meine Archivrecherchen haben eine Gesamtzahl von mindestens 700 kunstschaffenden Polen ergeben, die über verschiedene Zeiträume mit München verbunden waren. [1]
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Außer denjenigen, die sich in Privatateliers namhafter Künstler – später auch in Privatschulen – ausbilden ließen, sind etwa 330 Polen in den erhalten gebliebenen Matrikelbüchern der Akademie verzeichnet, wobei zu berücksichtigen ist, dass manche Eintragungen Unrichtigkeiten enthalten können und dass Gasthörer nicht mitgerechnet wurden. Die erste Eintragung eines polnischen Studenten stammt aus dem Jahre 1828. Das letzte Jahr, das für diese Studie ausgewertet wurde, ist 1913, denn als im Jahr 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde dem Zustrom von polnischen Studenten nach München im Prinzip ein Ende gesetzt – zugunsten von Paris. Etwa 150 polnische Kunstschaffende wurden Mitglieder des Münchener Kunstvereins, was ihnen ermöglichte, an dessen Ausstellungen teilzunehmen, Kunstankäufe zu tätigen, Kontakte zu Kunden zu knüpfen usw. Um aufgenommen zu werden, musste man einen Akademieabschluss haben oder zumindest Student einer der höheren Klassen oder Meisterschüler der Akademie sein.
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Dass polnische Künstler so zahlreich nach München kamen, hing damit zusammen, dass ihr Vaterland Ende des 18. Jahrhunderts für über 100 Jahre die Unabhängigkeit verloren hatte: der einst mächtige Staat war dreimal – 1772, 1773 und 1795 – zwischen den drei Nachbarmächten Russland, Österreich und Preußen geteilt worden. Erst 1918 sollte Polen die Eigenstaatlichkeit wiedererlangen. Mit dem tragischen Verlust der Unabhängigkeit setzten zunehmende Unterdrückung und Repressalien ein, die nach der blutigen Niederschlagung der beiden Aufstände gegen Russland von 1830 und 1863 besonders empfindlich verstärkt wurden. Die Besatzer führten immer schärfere Restriktionen ein und legten unter anderem dem Kunstschaffen sowie der Veröffentlichung von literarischen Texten und Kunstwerken eine strenge politische Zensur auf; betroffen waren alle polnischen staatlichen Einrichtungen, es kam zu Schließungen und Tätigkeitsverboten. Betroffen war auch das Schulwesen, einschließlich der Kunstschulen. Unter diesen Umständen nahmen immer mehr junge Polen Studien im Ausland auf, wo sie zugleich politisches Asyl fanden.
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Sie zogen nach München, aber auch in andere angesehene Kunstzentren (Wien, Rom, Petersburg, Berlin und etwas später Paris). Nach München kamen sie vor allem wegen der bekannten, im 19. Jahrhundert beliebten und in gutem Ruf stehenden Königlichen Akademie der bildenden Künste und auch wegen der namhaften Künstler, die dort unterrichteten. Immer neue Generationen junger Künstler zog es nach München auch wegen seines Ruhmes als 'Athen an der Isar', als ein ausländerfreundliches, reges Kunstzentrum, das von den im katholischen Bayern regierenden Wittelsbachern programmatisch unterstützt wurde und trotz verschiedener, zeitweise vorherrschender Programme gegenüber neuen Tendenzen und Kunstströmungen aufgeschlossen war.
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Die Polen, die nach München kamen, stammten vorwiegend aus dem russischen Teilungsgebiet. In der weit genug von der polnischen Heimat entfernten Stadt waren sie vor Repressalien sicher und nahmen (als Anfänger oder Fortgeschrittene) vor allem an der Akademie (nur Männer) oder in Privatateliers bekannter Münchener Künstler (dort wurden auch Frauen aufgenommen) das Studium auf, um einen künstlerischen Beruf zu erlernen. In München bildeten sie eine labile, über einige Zeiträume hinweg sogar die zahlenstärkste nationale Enklave ausländischer Künstler; zielstrebig bewahrten und schützten sie ihre nationale und künstlerische Eigenart, die auch von der deutschen Kritik wahrgenommen wurde. Wie einer der ersten Chronisten der Münchener Künstlerschaft feststellte, zeichneten sie sich durch eine "zielbewusste Energie des Strebens bei stark patriotischer Tendenz" aus. [2] Sie unterhielten ein enges kameradschaftliches Verhältnis zueinander und vor allem auch ständige Kontakte zu Polen und der heimatlichen Kunstszene. So beschickten sie etwa dortige Ausstellungen und brachten von den Ferien in Polen Skizzen, Studien, Kostüme und Accessoires mit nach München, um sie bei ihren Arbeiten zu polnischen Themen zu verwenden.
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In München schlossen sie sich durch enge persönliche Kontakte, vor allem aber durch die Teilnahme an Ausstellungen des Münchener Kunstvereins und ab 1869 an den großen, von der Münchener Künstlergenossenschaft organisierten internationalen Kunstschauen sowie an der Wiener Weltausstellung 1873 und dergleichen mehr, dem Leben der deutschen Kunstszene an.
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Mit der Zeit nahmen einige polnische Künstler eine Lehrtätigkeit in München auf. So Józef Brandt, der auch deutsche Schüler hatte und Sommerateliers auf seinem Gut in Orońsko in Polen organisierte, Alfred Wierusz Kowalski und Władysław Czachórski, die von der Akademie zu Ehrenmitgliedern ernannt wurden. In den 1890er-Jahren waren es Olga Boznańska sowie Stanisław Grocholski, der zusammen mit Wacław Szymanowski eine Privatschule in München leitete. Sie wurden von der hiesigen Kunstszene immer mehr geschätzt und nahmen an verschiedenen Aktivitäten teil, unter anderem als Juroren, mitunter bei internationalen Ausstellungen.
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Vor allem aber entwickelten sie ein freies, ungehindertes polnisches Kunstschaffen, wobei sie sich sowohl von der neuen Umgebung und den neuesten Trends der europäischen Kunst als auch von ihren polnischen Kollegen, und zwar nicht nur in Polen, inspirieren ließen. Die bedeutendsten Künstler der polnischen Enklave in München spielten dabei eine nicht zu unterschätzende, führende Rolle. Von der Münchener Kritik hoch angesehen, brachten sie es dazu, dass ihre polnischen Bilder, die durch die Andersartigkeit der Themen und malerischen Lösungen auffielen, beim Publikum und bei Kunstsammlern, folglich auch auf dem Kunstmarkt, was nicht weniger wichtig war, in Mode kamen. Und indem sie Ausstellungen in Polen mit ihren Arbeiten beschickten, trugen sie zugleich wesentlich zu einer freien Entfaltung der polnischen Kunst bei – der Politik der Besatzungsmächte zum Trotz.
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Was an der polnischen Künstlerschaft in München anders war, kam vor allem in ihrem Schaffen zum Ausdruck. Polnische Bilder zogen nicht nur durch ihre andersartige polnische Thematik, ihre fremden Szenerien und Kostüme, sondern auch durch eine andere Stimmung die Aufmerksamkeit der Münchener beziehungsweise deutschen Kritik auf sich, als da wären Motive aus der polnischen Literatur, vor allem aus der romantischen Dichtung, historische, militärische und Schlachtenszenen sowie historische Genrebilder aus der noch nicht weit zurückliegenden Vergangenheit der Nationalaufstände (1830, 1863) oder das Zurückgreifen auf die glorreiche Geschichte der alten Republik Polen. Sie frappierten durch das authentische patriotische Engagement, oft durch eine sehnsuchtsvolle, melancholische Note. Die Landschaft war nur selten bayerisch, es war eine polnische Landschaft, meist flach, wie etwa in Masowien, oft winterlich, eine Landschaft, die an die Heimat erinnerte. Mit Hilfe der aus Polen mitgebrachten Skizzen, Studien, Zeichnungen, Kostüme und verschiedenen Accessoires konnte eine stärkere Authentizität bei den aufgegriffenen polnischen Themen erreicht werden.
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Für den Zustrom von Polen in München und die Entwicklung der dortigen polnischen Künstlerenklave waren die Wandlungen der Münchener Kunstszene und die eigenen Erwartungen, die sich im Laufe der Zeit änderten, ausschlaggebend.
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Die ersten Polen, die in den frühen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zum Studium nach München kamen, wurden vom Ruhm der Nazarener angezogen, die damals mit Cornelius an der Spitze dem akademischen Lehrbetrieb ihren Stempel aufdrückten und das Interesse an der monumentalen idealistischen Historienmalerei weckten. Zu ihnen gehörte der heute wenig bekannte Aleksander Lesser aus Warschau.
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Auch die Wanderausstellung mit Gemälden der Belgier L. Gallait und E. de Bièfve, die 1843 in München großes Aufsehen erregte, erwies sich für einige polnische Maler als inspirierend. Ein besonderes Beispiel dafür ist das Schaffen Józef Simmlers aus Warschau, eines Historienmalers, der später ein gefragter Porträtist wurde. Der Wandel, den nach dieser Ausstellung sein Schaffen durchmachte, ist fast identisch mit dem, der sich damals in der Malerei Karl Pilotys vollzog. Die veristischen, ausführlich detaillierten Historienbilder Józef Simmlers, die die polnische Version dieser Inspiration und ihres Kolorismus begründeten, setzten eine wichtige Zäsur auf dem neuen Entwicklungsweg der polnischen Historienmalerei.
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Die nächste Gruppe junger polnischer Künstler, die in den 1850er und 1860er-Jahren nach München zog, kam bereits wegen der Landschaftsmalerei, der zeitgenössischen oder sich auf die jüngste Vergangenheit beziehenden historischen Genrebilder und wegen der Genremalerei, die in der dortigen Kunstszene nach ihrer Neuausrichtung gepflegt wurde. Denn mit dem Abgang der Nazarener, den Ausstellungen der Barbizon-Schule und der Aufnahme von Kontakten zu französischen und belgischen Malern setzte dort eine neue Etappe ein, und es entwickelten sich andere Richtungen in der Malerei dieses Kreises.
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Die polnischen Maler reagierten lebhaft auf diese Wandlungen, zumal sie sie in ihren Erwartungen bestätigten und unterstützten und auch den Tendenzen der einheimischen Kunstszene in Polen entsprachen. Meist kamen sie aus dem so genannten Warschauer Künstlerkreis, und betrieben eine für diesen Kreis typische, mit Genre- und Landschaftsdarstellung angereicherte Malerei mit zeitgenössischer Thematik sowie Landschaftsmalerei. Anders war es in Krakau und dem Krakauer Raum, wo das vom Bewusstsein der glorreichen historischen Vergangenheit der ehemaligen Hauptstadt Polens geprägte Gedächtnis und die umgebende historische Architektur die Entwicklung von historischen Tendenzen in der Malerei förderten. Dafür wurde die Malerei Jan Matejkos zum Musterbeispiel.
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In den 1860er-Jahren, nach der Niederschlagung des Januaraufstands von 1863, nahm der Zustrom an jungen polnischen Künstlern in München besonders stark zu. Auch viele ehemalige Aufständische zogen hierher, darunter Ludomir Benedyktowicz, der im Aufstand beide Hände verloren hatte und sich spezieller Vorrichtungen bedienen musste, sowie Adam Chmielowski, dem ein Bein amputiert worden war. Was das Studium an der Akademie oder in Privatateliers anging, verbreitete sich unter den Studenten eine gewisse Regelmäßigkeit. Auch die gemeinsame Beschickung von Ausstellungen wurde zur Gepflogenheit. Polnische Künstler bekamen zudem Gelegenheit, an der I. Internationalen Kunstausstellung in München 1869 und an der Weltausstellung 1873 in Wien teilzunehmen. Es sei hier nur kurz an die Bedeutung der ersten der genannten Ausstellungen erinnert, bei der die Beteiligung unter anderem von Courbet und französischer Impressionisten und das spektakuläre Zusammentreffen Courbets mit Leibl einen deutlichen Entwicklungsschub in die deutsche Malerei brachte.
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In jener Zeit kamen sowohl bereits ausgereifte als auch angehende Künstler nach München, deren Namen heute gut bekannt sind. Erinnert sei hier nur an einige, die für die damalige polnische Enklave von Bedeutung waren, weil sie deren Schaffen prägten, und für die Entwicklung der polnischen Kunst überhaupt sehr wichtig waren.
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Im Kunstschaffen der Polen gaben seitdem zwei durchaus unterschiedliche, großartige Maler, die auch jetzt noch dem deutschen Publikum und den Erforschern der Münchener Kunstszene ein Begriff sind, den Ton an: Józef Brandt (1841 geboren und 1915 in Polen gestorben, als Nestor bis an sein Lebensende mit München verbunden) und Maksymilian (Max) Gierymski (1846-1874, gestorben in Bad Reichenhall, Aufständischer des Jahres 1863). Sie waren es – beide hervorragende Künstler, von der Kritik hochgeschätzt und beim Publikum erfolgreich –, die der Malerei jene zwei Hauptrichtungen wiesen, die unter den polnischen Kunstschaffenden in München seitdem vorherrschen sollten und überhaupt für die Entwicklung der polnischen Malerei in Polen von Bedeutung waren.
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Max Gierymski war der Vorreiter des Realismus in der polnischen Malerei, er war derjenige, der mit seinen malerischen Lösungen neue Perspektiven öffnete, indem er in der Prosa des Alltäglichen nach dem Schönen suchte und die Hierarchie der Themen wie alles Konventionelle ablehnte. In seinen realistischen, das Kampfpathos und Spannungen der Schlachtenmalerei meidenden Gemälden hielt er die schmerzliche Wahrheit über den Januaraufstand fest; meist malte er Pferdeszenen, die sich in der flachen Landschaft Masowiens (Region um Warschau) abspielten, in suggestiver, monochromatischer Farbskala gehalten, verstärkt durch entsprechende Lichtführung ('Aufständischenpatrouille', 'Alarm im Lager der Aufständischen...') (Abb. 1). Das aus verschiedenen Quellen kommende Licht und dessen Intensität spielten immer eine wichtige, jeweils wechselnde Rolle in seinen Gemälden ('Die Nacht', 'Das Gebet'). Bei den bewegten herbstlichen Jagdszenen ('Parforcejagd der Hirsche') rundet das Licht eine andere, warme, goldschimmernde Farbgebung ab.
Abb. 1
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Józef Brandt, der seine Gemälde als 'Józef Brandt z Warszawy' (= aus Warschau) signierte, schuf mit seinen historischen Genrebildern eine neue Art der Historienmalerei. Er malte heftig bewegte, dynamische, historisierende Pferdeszenen aus der glorreichen Vergangenheit Polens, unter anderem aus dem 17. Jahrhundert, wobei er auch auf literarische Stoffe und Aufzeichnungen von Chronisten zurückgriff. Mit der Farbenpracht der Szenerie, der Kostüme und auch des aufmerksam beobachteten landschaftlichen Hintergrunds vermochte er ein breites Spektrum von Gefühlsspannungen zu erzeugen (Abb. 2). Durch kühne perspektivische Verkürzungen erreichte er einen hohen Grad an suggestivem Ausdruck (Darstellungen von Schlachten, Gefechten, Attacken, Sittenbilder und anderem). Er war in München unter anderem mit der Künstlerfamilie Adam befreundet.
Abb. 2
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Eine ganz andere Größe stellte in der Gesamtentwicklung der polnischen Malerei der viel jüngere Aleksander Gierymski (1850-1901, gestorben in Rom) dar. Er war der Bruder von Max und ein Eigenbrötler unter den Malern. In seiner langen künstlerischen Laufbahn – in Frankreich und in Italien kam er bereits mit dem Impressionismus in Berührung – entfielen mehrere Aufenthalte auf München, wo er auch an der Akademie studiert hatte. Er wurde unter anderem für eine Szene nach Shakespeare mit einer Medaille ausgezeichnet, die er bei Karl von Piloty malte und für die er eine selbständige Lösung fand, indem er an den venezianischen Kolorismus des 16. Jahrhunderts anknüpfte. In seinen Münchner Gemälden setzte er sich mit den Problemen des natürlichen und des künstlichen Lichts sowie mit denen der Farbgebung auseinander. Das gilt zum Beispiel für seine Landschaften, darunter auch Stadtlandschaften in der Abenddämmerung oder bei Nacht, sowie für Darstellungen von dunklen, reich verzierten historischen Kircheninneren (zum Beispiel in Rothenburg) (Abb. 3). Eines seiner Münchner Nachtstücke befand sich schon damals in der Neuen Pinakothek. Als einer der ersten unter den polnischen Malern interessierte sich Aleksander Gierymski für den Impressionismus.
Abb. 3
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Weniger populär war in der polnischen Enklave in München Władysław Czachórski (1859-1911, gestorben ebendort), ein weiterer Schüler Pilotys, der für seine Hamlet-Komposition preisgekrönt wurde. Er malte Salonszenen, die damals in München in Mode waren – Szenen mit schönen, schick gekleideten, Schmuck tragenden Frauen in reichen, mit Kennerschaft arrangierten Interieurs. Er schuf auch vorzügliche Stillleben und psychologisch vertiefte Porträts. Zu seinen Schülern gehörte Otolia Kraszewska, eine der wenigen in München tätigen Frauen.
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Sehr gefragt waren – und sind es auch heute noch – Gemälde von Alfred Wierusz Kowalski (1849-1915, gest. in München), dem Maler von vielfigurigen, genrehaften Pferdeszenen. Seine Hochzeitszüge mit bunten polnischen Trachten, rasenden Wagen mit jungen, lachenden Menschen, voller Fröhlichkeit und Lebensbejahung, beeindruckten durch Farbenpracht und die Suggestion einer sorglosen Bewegung. Er malte auch meist winterliche Jagdszenen und schneebedeckte Winterlandschaften mit bedrohlichen Silhouetten von Wölfen, die Reisende angreifen (Abb. 4).
Abb. 4
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Eine ganz andere Position vertrat Adam Chmielowski (1845-1916), der im Aufstand von 1863 ein Bein verloren hatte, später einem Orden beitrat und dann als Bruder Albert heilig gesprochen wurde. Als Künstler war er seinen Zeitgenossen weit voraus; nach München zogen ihn das Schaffen von Anselm Feuerbach und die dortigen Sammlungen, wie etwa die Galerie Schack. Er war ein subtiler, feinfühliger Kolorist, der mit seinen nächtlichen, in bizarres Licht getauchten Landschaften schon den Symbolismus ankündigte. In München fand er damals mit seinen malerischen Konzeptionen keine Anhänger. Später malte er mystisch durchdrungene, religiöse Kompositionen.
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Auch Stanisław Witkiewicz (1851-1915) muss hier erwähnt werden. Er war Maler, Kunstkritiker und -theoretiker, einer der hervorragenden polnischen Autoren jenes Zeitraums. Mit spitzer Feder formulierte er in seinem Kampf um den polnischen Realismus kompromisslose Urteile und Einschätzungen und setzte sich, das Schaffen der Brüder Gierymski als Beispiel heranziehend, für eine neue polnische Kunst und unanfechtbare ästhetische Prinzipien ein.
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In der polnischen Malerei, auch derjenigen in München tätiger polnischer Künstler verschiedener Generationen, spielte die Landschaft – inspiriert durch die Malschule von Barbizon – eine besondere Rolle. Es war die polnische, je nach Tages- und Jahreszeit wechselnde Landschaft, vor allem die der Tiefebene, die das Vorstellungsvermögen anregte und die Sehnsucht nach der Heimat auslöste, denn nur selten gaben sie die Umgebung von München wieder. Eigentlich griff jeder polnische Maler in seinen Gemälden auf die Landschaft zurück, wobei er sich auf seine Erinnerung und die aus Polen mitgebrachten Skizzen und Studien stützte. Auch hier wirkten einige der Hauptvertreter maßgebend: Maksymilian Gierymski, Władysław Malecki und Ludomir Benedyktowicz. Aus Memoiren und dem Briefwechsel der polnischen Künstler wissen wir, dass Eduard Schleich d. Ä. die Landschaftsmalerei der Polen sehr hoch bewertete, vor allem die von Maksymilian Gierymski, bei dem die Landschaft in allen Gemälden, egal zu welchem Thema, auftauchte – eine Landschaft, die die Eigenart und die Spezifik der polnischen Malerei überhaupt ausmacht.
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In den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zog es die jüngere, aus Polen stammende Generation angehender Künstler wieder nach München. Zwar waren ihnen die dort fest verwurzelten und ansässig gewordenen Józef Brandt, Władysław Czachórski und Alfred Wierusz Kowalski eine Stütze und eine Hilfe, doch sie selbst ließen sich bereits von anderen Erwartungen leiten. Manche besuchten die Münchener Akademie, doch die meisten nahmen bereits Privatunterricht, zum Beispiel an den Schulen Anton Ažbes, Simon Hollósys und der von Stanisław Grocholski und Wacław Szymanowski geleiteten Schule. Sie beteiligten sich an Ausstellungen der Münchener Secession, und manche arbeiteten auch mit den Redaktionen berühmter Zeitschriften wie der 'Jugend', für die sie Illustrationen, Vignetten etc. lieferten. Dazu zählt etwa Otolia Kraszewska, Autorin eines Titelblattes sowie von mehrfach reproduzierten Zeichnungen und Vignetten.
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Im Jahre 1897 erschien in München ein sehr wichtiger Druck der polnischen Künstlerschaft, der den Titel 'Jednodniówka' (Eintageblatt) trug – ein in graphischer Hinsicht vorzüglicher, interessanter Gelegenheitsdruck jener Zeit, der ihren Tendenzen folgte und der Suche nach neuem, dekorativem Ausdruck entsprang (Abb. 5). Die Inspiration dazu und die Illustrationen stammten von polnischen Künstlern aus München, während die Texte auch von polnischen Autoren von außerhalb Münchens verfasst worden waren.
Abb. 5
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Maler aus der polnischen Enklave in München waren auch Schöpfer von Panoramen, die im 19. Jahrhundert populär waren. Erhalten geblieben ist nur eines, die 'Schlacht bei Racławice' aus dem Jahre 1894, die man in Breslau (Wrocław) sehen kann.
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Von den in jener Zeit bis 1914 in München tätigen Künstlern seien erwähnt: Olga Boznańska (1865-1940), eine hervorragende, feinfühlige Koloristin, Malerin von Porträts und bezaubernden Blumenstillleben, eine der wenigen Frauen in diesem Kreis, die auch an einer der Privatschulen unterrichtete und in späteren Jahren mit Paris verbunden war; Wacław Szymanowski (1859-1930), der an der Akademie Malerei und Bildhauerei studierte; in München malte er Bilder, die das polnische Dorf zum Thema hatten, nach der Rückkehr nach Polen widmete er sich hauptsächlich der Bildhauerei, schuf brillante Denkmäler mit romantischem Charakter (Chopin-Denkmal in Warschau); Roman Kochanowski (1857-1945), der durch seine Ehefrau in München ansässig wurde und dort auch starb. Er schuf teilweise sehr kleinformatige Landschaftsbilder, die durch die Naturbeobachtung und die festgehaltene Stimmung damals wie heute bezaubern.
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Aus den erhalten gebliebenen Briefen ist zu entnehmen, dass polnische Studenten von den Münchener Pädagogen sowohl an der Akademie als auch in Privatateliers hoch geschätzt wurden und dass die Polen wiederum jene in warmer und freundlicher Erinnerung behielten. Dazu gehören etwa Hermann Anschütz oder Wilhelm Kaulbach. So erinnerte sich Ludomir Benedyktowicz an die erstaunten Examinierenden an der Akademie, die die Arbeit des jungen polnischen Burschen ohne Hände beurteilen sollten. Bekannt ist die Bewunderung Schleichs für die Landschaftskompositionen Max Gierymskis, der er wiederholt Ausdruck gab. Von den engen Kontakten Władysław Czachórskis mit Karl Piloty zeugt eine Zeichnung, in der der Pole den Besuch des berühmten Professors mit Gattin in seinem Atelier zu Hause festgehalten hat. Eine echte, langjährige Freundschaft verband Franz Adam und seine Brüder, die ebenfalls Maler waren, mit seinen polnischen Schülern. Freundschaft und enge Kameradschaft verbanden auch Józef Brandt mit Theodor Horschelt und Max Gierymski zum Beispiel mit Christian Mali und Anton Braith. Ein ergreifender Nachruf auf den vorzeitig verstorbenen, in seinem Kreise sehr beliebten Max Gierymski wurde mit Einverständnis und nach Auskünften von dessen Bruder Aleksander vom Maler und Illustrator Robert Assmus geschrieben. Es sind viele derartige Erinnerungen erhalten geblieben und sie haben immer noch eine bleibende Bedeutung.
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Die jahrelang im Leben der Münchener Kunstszene präsenten und von den Kritikern und Monographisten beschriebenen polnischen Künstler vervollständigen das Bild eines Münchener Kunstmilieus, dessen Freiheitlichkeit und Vielseitigkeit sehr bekannt geworden ist. Zugleich wiesen diese Künstler selbst durch ihr Dasein als Polen auf der europäischen Landkarte der Kunst auf das Weiterbestehen eines Landes hin, das von den politischen Karten ausradiert war. Und außerdem verkörpern sie einen entscheidenden Beitrag zur polnischen Kunst, denn ihre Präsenz hat in der Entwicklung der polnischen Malerei eine überaus wichtige Rolle gespielt.
Adolf Rosenberg: Die Münchener Malerschule in ihrer Entwicklung seit 1871, Hannover / Leipzig 1887
Halina Stępień: Artyści polscy w środowisku monachijskim w l. 1828-1855 (Polnische Künstler in München in den Jahren 1828-1855), Wrocław (Breslau) 1990
Halina Stępień / Maria Liczbińska: Artyści polscy w środowisku monachijskim w l. 1828-1914. Materiały źródłowe (Polnische Künstler in München in den Jahren 1828-1914. Quellenmaterialien), Warszawa (Warschau) 1994
Halina Stępień: Artyści polscy w środowisku monachijskim w l. 1856-1914 (Polnische Künstler in München in den Jahren 1856-1914), Warszawa (Warschau) 2003
Abb. 1
Maksymilian Gierymski, Polnische Aufständischenpatrouille in 1830, 1869, Öl auf Leinwand, 48,5 x 80 cm, Privatbesitz
Abb. 2
Józef Brandt, Gefecht mit den Tataren, um 1890, Öl auf Leinwand, 46,5 x 71 cm, Privatbesitz
Abb. 3
Aleksander Gierymski, Der See im Sonnenuntergang, 1900, Öl auf Leinwand, 89 x 69,8 cm, Privatbesitz
Abb. 4
Alfred Wierusz Kowalski, Wölfe in der Nacht, um 1900, Öl auf Leinwand, 79 x 104 cm, Privatbesitz
Abb. 5
Władysław Wankie, Einband von "Jednodniówka Monachijska", 1897
Prof. Dr. Halina Stępień
ul. Felinskiego 26/1
PL – 01-569 Warszawa
e-mail:
ispan@ispan.pl
[1] Seit Jahren befasse ich mich mit dem Thema der polnischen Künstlerenklave in München, bin ihre Monographistin und auch emotionell mit diesem Künstlerkreis stark verbunden. Ich habe eine dreibändige Monographie zu diesem Kreis verfasst und veröffentlicht, deren 2. Band Quellenmaterialien sowie eine Anthologie polnischer und deutscher Texte umfasst. Alle Bände enthalten Zusammenfassungen in deutscher Sprache und der 2. Band auch eine Anthologie polnischer und deutscher Texte. Vgl. Stępień, 1990, 1994 und 2003.
[2] Rosenberg 1887, 47.
Empfohlene Zitierweise:
Halina Stępień : Die polnische Künstlerenklave in München (1828-1914) , in: zeitenblicke 5 (2006), Nr. 2, [19.09.2006], URL: https://www.zeitenblicke.de/2006/2/Stepien/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-5660
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