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Zusammenfassung

Der folgende Beitrag nimmt einen Zeitraum von rund 20 Jahren der Geschichte des Elektronischen Publizierens in den Blick. Er beschäftigt sich zunächst mit der Frage, wie verbreitet elektronische Publikationen heute sind und stellt fest, dass zwar die gedruckten Publikationen noch deutlich dominieren, aber je nach betrachtetem Publikationssegment elektronische deutlich aufholen, teilweise bereits die gedruckten überflügelt haben. Das wirft die Frage nach der Konkurrenz der unterschiedlichen Publikationsformen auf. Diese wird untersucht anhand dreier Fallbeispiele aus dem Bereich der Nachschlagewerke. Die These von der Koexistenz alter und neuer Medien findet hierbei keine Unterstützung. Schließlich wird, ausgehend von Thesen einer Studie zu den Wirkungen des Elektronischen Publizierens auf das Fachkommunikationswesens aus den späten 1980er-Jahren, nach den strukturellen Veränderungen in der Rolle von Autoren und Verlagen gefragt.

Einleitung

<1>

Versuchen wir uns in die Situation des wissenschaftlichen und fachlichen Publizierens von vor 20 Jahren zurückzuversetzen. E-Mail-Kommunikation war schon bekannt, aber selbst in Kreisen der Wissenschaft war sie längst nicht so selbstverständlich und verbreitet wie heute. Es gab zwar schon das Internet als Computernetz wissenschaftlicher Rechenzentren, aber das World Wide Web war noch nicht erfunden, seine ungeheure Vielfalt durchsuchbarer Inhalte noch nicht vorhanden. Trotzdem gab es schon große elektronische Datenbanken für Wissenschaft und Wirtschaft, die "remote" und "online" zugänglich, nicht ganz einfach zu bedienen und in der Regel kostenpflichtig nutzbar waren. Die überwiegende Zahl dieser Datenbanken diente dazu, die Fülle der gedruckten Publikationen besser zu erschließen. Eine elektronische Volltextlieferung war damit in der Regel nicht verbunden. Über Konzepte des "Elektronischen Publizierens" wurde in Fachkreisen breit diskutiert. Idealerweise wurde darunter die elektronische Integration der Publikationskette vom Autor über Verlag, Herstellung (Satz und Druck), Vertrieb (Buchhandel, Bibliothek) bis zum Leser verstanden. Es wurde experimentiert und geforscht, Prototypen entwickelt und erste Produkte im Markt getestet. Der Autor war von 1986 bis Anfang der 1990er-Jahre an einer Studie über den Strukturwandel in der Fachkommunikation durch Elektronisches Publizieren beteiligt ("Begleit- und Wirkungsuntersuchungen zum Elektronischen Publizieren") und hat seit dem dieses Forschungsfeld immer wieder in unterschiedlichen Kontexten aufgegriffen. [1] Vor diesem Hintergrund sind die vorliegenden Ausführungen zu sehen.

<2>

Im Folgenden wird Entwicklung und gegenwärtiger Stand der Verbreitung elektronischer Publikationen untersucht (Kapitel 2), der Frage nachgegangen, ob das Elektronische Publizieren gedruckte Publikationen eher ergänzt oder verdrängt (Kapitel 3) und schließlich eine Reihe von Wirkungsthesen zum Strukturwandel in der Fachkommunikation, die vor mehr als 15 Jahren aufgestellt wurden, auf ihre Aktualität überprüft (Kapitel 4).

Wie viele elektronische Publikationen gibt es?

<3>

Vor 20 Jahren hatten elektronischen Publikationen im Wesentlichen experimentellen Charakter, waren Prototypen oder spezialisierte Sonderentwicklungen. Ab etwa 1990 gab es einen sich langsam entwickelnden kommerziellen Markt für elektronische Publikationen. Dieser war allerdings noch gut überschaubar. So wurden in Deutschland exakt 17 CD-ROM-Publikationen angeboten, die man als buchähnliche Publikationen bezeichnen konnte. Darunter die Bibel, Kants gesammelte Schriften, drei Lexika, Gesetzes- und Urteilssammlungen im Volltext, Patentsammlungen. Die Qualität dieser für 70 bis 5.000 DM verkauften Produkte war teilweise erbärmlich. [2]

<4>

Heute weist der Katalog der Deutschen Bibliothek (seit 1. Juli 2006 Deutsche Nationalbibliothek) in Frankfurt 106.000 "elektronische Ressourcen" nach. Von den gut neun Millionen Nachweisen im Katalog insgesamt sind dies 1,2 % (Tabelle 1). [3] Von den "Enden des (gedruckten) Buches" [4] keine Spur also. Im Vergleich zu dem sehr übersichtlichen Angebot von vor gut 15 Jahren sind diese über 100.000 Titel aber doch eine beachtliche Steigerung.

Tabelle 1: Elektronische Publikationen im Katalog der Deutschen Bibliothek 2004

Katalogeinträge insgesamt

davon elektronische Publikationen auf Datenträgern und online

absolut

Anteile

Zugang 2003

273.352

17.711

6,5 %

Zugang 2004

299.897

26.333

8,8 %

Bestand Ende 2004

8.961.969

106.321

1,2 %

Quelle: Eigene Berechnungen nach Die Deutsche Bibliothek: Jahresbericht 2004, Statistikteil,
http://www.d-nb.de/service/pdf/jb_2004_erwerbung.pdf <02.08.2006> .

<5>

Es lohnt sich, diese Zahlen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Der Bestand der Deutschen Bibliothek, der bis ins Jahr 1945 zurückgeht, enthält zum größten Teil Jahrgänge, in denen es noch gar keine elektronischen Publikationen geben konnte. Vermutlich stammen die ersten Nachweise von auf elektronischen Ressourcen gespeicherten Publikationen aus den 1980er-Jahren. Es macht also Sinn, sich auf die aktuelleren Jahrgänge zu konzentrieren.

Im Jahr 2003 gab es im Katalog der Deutschen Bibliothek insgesamt einen Zuwachs von 273.000 Titeln, darunter 17.700 "elektronische Ressourcen", was einem Anteil von 6,5 % entspricht. Von den fast 300.000 Titeln Bestandszuwachs im Jahr 2004 gehörten 26.300 in die Kategorie der "elektronischen Ressourcen", das ist immerhin schon ein Anteil von 8,8 % (Tabelle 1).

<6>

Aber nicht nur in Bezug auf die betrachteten Jahrgänge, sondern auch im Hinblick auf die Publikationsarten gibt es deutliche Unterschiede, was den Anteil der elektronischen Publikationen angeht. Es werden im Folgenden Monografien und Zeitschriften bzw. Zeitungen, die beiden größten Gruppen im Katalog, sowie Hochschulschriften betrachtet (Tabelle 2). Danach ergibt sich, dass unter den vier Millionen Monografien 94.300 elektronische Publikationen zu finden sind, was einem Anteil am gesamten Monografiebestand von 2,3 % entspricht. Beim Bestandszuwachs im Jahr 2004 ereicht der Anteil elektronischer Monografien am Gesamtzuwachs von Monografien bereits einen Anteil von 15,6 %. Der weit überwiegende Teil dieser elektronischen Monografien liegt auf Datenträgern, also nicht online vor.

Tabelle 2: Anteil elektronischer Ressourcen an den Monografien, Zeitschriften und Hochschulschriften der Deutschen Bibliothek 2004

Zugang

Bestand

Monografien

124.271

4.046.202

davon Monografien elektronisch

19.351

94.278

Anteil elektronischer Monografien

15,6%

2,3%

Zeitschriften

47.348

1.289.742

davon Zeitschriften elektronisch

15.560

69.117

Anteil elektronischer Zeitschriften

32,9%

5,4%

Hochschulschriften

23.165

811.171

davon Hochschulschriften online

9.493

30.033

Anteil Online-Hochschulschriften

41,0%

3,7%

Quelle: Eigene Berechnungen nach Die Deutsche Bibliothek: Jahresbericht 2004, Statistikteil,
http://www.d-nb.de/service/pdf/jb_2004_erwerbung.pdf <02.08.2006> .

<7>

Die zweitgrößte Gruppe im Bestand der Deutschen Bibliothek sind die Zeitschriften und Zeitungen mit 1,3 Mio. Katalogeinträgen. Der Anteil der elektronischen Zeitschriften und Zeitungen an allen Zeitschriften und Zeitungen liegt mit 5,4 % etwa doppelt so hoch wie bei den Monografien. Betrachtet man den Zuwachs im Jahr 2004, dann stellt sich die Verdopplungsrelation im Vergleich zu den Monografien ebenfalls ein. Der Anteil der elektronischen Zeitschriften am Zuwachs aller Zeitschriften liegt bei 32,9 %.

<8>

Eine dritte große Gruppe stellen die Hochschulschriften mit etwas mehr als 800.000 Titeln im Bestand der Deutschen Bibliothek (Ende 2004). Zu dieser Kategorie zählen Dissertationen und Habilitationen, die nicht in einem Verlag erschienen sind. Der Zuwachs im Jahr 2004 betrug 23.000. Der Anteil der Online-Hochschulschriften (solche auf Offline-Medien werden nicht ausgewiesen) am Bestand beträgt 3,7 % und am Zuwachs 2004 bereits 41,0 %. Betrachtet man die Hochschulschriften differenziert nach den wissenschaftlichen Disziplinen, dann zeigen sich weitere große Unterschiede. In der Biologie oder der Chemie z.B. betrug der Anteil der Online-Dissertationen mit dem Publikationsjahr 2005 bereits 76 % bzw. 91 %.

<9>

Wie sind diese hohen Anteile elektronischer Publikationen zu erklären? Bei den Hochschulschriften gibt es ein gemeinsames Interesse von Autoren und Bibliotheken: Die Autoren sparen sich die Druckkosten für die früher vorgeschriebene Druckauflage der Dissertation, die dann an wissenschaftliche Bibliotheken verteilt wurde. Gleichzeitig ist die Online-Dissertation in den einschlägigen Bibliothekskatalogen nachgewiesen und über das Internet direkt abrufbar. Für die Bibliotheken ergeben sich ebenfalls Sparpotenziale: eine Reduzierung des Magazinplatzes sowie Einsparungen beim Katalogisieren, Auszeichnen und Einstellen der gedruckten Werke. Der Übergang auf Online-Publikationen mobilisiert also ein Rationalisierungs- und Einsparpotenzial von dem beide Akteure profitieren. Da diese Hochschulschriften auch keine Publikationen sind, die auf dem Buchmarkt kommerziell vertrieben werden sollen, geht es im Wesentlichen um die Zugänglichmachung und die Aufbewahrung auf Dauer. Das gewährleistet gemäß ihrem Auftrag die Deutsche Bibliothek. Ein Verlag wird hierzu nicht benötigt.

<10>

In Bezug auf die Verbreitung elektronischer Publikationen lässt sich also ein erstes Resümee ziehen: Solche Publikationen auf Offline- als auch auf Online-Medien haben sich in den letzten 20 Jahren etabliert. Ihr Anteil an den Publikationen insgesamt ist allerdings noch gering, wenn auch die jährlichen Zuwachsraten eine deutliche Zunahme signalisieren. Betrachtet man einzelne Segmente des Publikationsangebots gesondert, dann zeigen sich durchaus beträchtliche elektronische Anteile, z.B. bei den Hochschulschriften. Dies erklärt sich weniger durch innovative neue Publikationsformen als durch ein bei den beteiligten Akteuren gleichermaßen vorhandenes Rationalisierungsinteresse. Gerade in diesen Fällen ist mittelfristig eine Verdrängung der gedruckten durch die elektronischen Publikationen vorstellbar. Für den gesamten Publikationsbereich ist mit dieser Verdrängung aber auf absehbare Zeit kaum zu rechnen. Auf diese Frage – Koexistenz oder Verdrängung – wird im Folgenden noch genauer eingegangen.

Verdrängen die elektronischen die gedruckten Publikationen? Beispiele aus dem Bereich der Nachschlagewerke

<11>

Die Frage, ob die neuen Medien die alten verdrängen oder ersetzen, wird schon lange in Wissenschaft und Öffentlichkeit diskutiert. Das sogenannte Rieplsche Gesetz, bereits 1913 formuliert, wird oft beschwichtigend zitiert. Es besagt, dass kein neues, "höher" entwickeltes Medium ein altes vollständig verdrängen könne. [5] Die allgemeine Erfahrung scheint dies zu bestätigen: Das Foto hat nicht die Malerei verdrängt, der Film nicht das Theater, das Radio nicht die Zeitung, das Fernsehen nicht das Radio, der PC, der für Text, Musik, Film, Spiel, Telefon und geschäftliche Transaktion im gleichen Maße geeignet ist, hat seine Vorgängermedien ebenfalls nicht verdrängt, sondern ist als neues Medium zu den alten Medien hinzugekommen.

<12>

Doch die Konkurrenz der Medien drückt sich in komplexeren Veränderungsmustern aus, und die Frage nach der Verdrängung ist zu einfach gestellt. Oft ist z.B. beobachtbar, dass sich die neuen und die alten Medien gut ergänzen. Der elektronische Volltext ist gut für die schnelle Suche geeignet, das gedruckte Buch aber besser für die intensive Rezeption. Zeitung und Zeitschrift im Abonnement bringen dem Leser oder der Leserin Neues und Anregendes ins Haus, auch wenn sie nicht danach gesucht haben, geben den Überblick über das Tagesgeschehen oder ein Fachgebiet, lassen sich einfach durchblättern, erlauben dabei viele Informationen in unterschiedlicher Intensität aufzunehmen. Vertiefende und weiterführende Informationen zu einem Artikel, überprüfende Recherchen, Gegenmeinungen, Aktualisierungen, mediale Erweiterungen (Bilder, Töne, Filme, Simulationen) etc. ließen sich dagegen wiederum gut in elektronischen Publikationen, im WWW und großen Datenbanken erschließen.

<13>

Das hat auch damit zu tun, dass die jeweilige Kombination von Inhalt und medialer Form zu spezifischen Nutzungseigenschaften führt. Selbst bei identischen Inhalten in unterschiedlichen Medien verändert sich eventuell sogar die "Botschaft", auf jeden Fall aber die Nutzungsweisen. Die Medienkonkurrenz ist deshalb immer nur eine partielle. Das spricht für Koexistenz und Ergänzung, da die jeweiligen Stärken des einen Mediums nicht vollständig im anderen zum Tragen gebracht werden können.

Der Blick sollte also eher auf die Ausdifferenzierung der Medien in ihren Präsentations- und Nutzungsformen gerichtet werden, anstatt auf die einfache Entgegensetzung von Koexistenz oder Verdrängung. Im Prinzip ist das bei Riepl schon angelegt, wenn er zwar die "vollständige" Verdrängung zwischen alten und neuen Medien aus-, die partielle aber einschließt. In diesem Sinne schreibt er, dass sich die alten Medien "andere Aufgaben und Verwertungsgebiete" suchen.

Im Folgenden soll am Beispiel dreier Nachschlagewerke aus dem Bereich der professionellen Fachinformation untersucht werden, wie komplex die Wechselbeziehung zwischen gedruckten und elektronischen Publikationen angelegt ist.

<14>

Nachschlagewerke gelten für das Elektronische Publizieren als besonders gut geeignet. Es ist deshalb kein Wunder, dass sich in allen drei Fällen die verlegerischen Aktivitäten zum Elektronischen Publizieren bis in die 1980er-Jahre zurückverfolgen lassen. Eine unmittelbare Übertragung auf andere Buchgenres, wie die Belletristik oder das wissenschaftliche Fachbuch bzw. die wissenschaftliche Zeitschrift, lässt sich hieraus nicht ohne weiteres gewinnen und ist auch nicht beabsichtigt.

Was beim Nachschlagewerk aus Sicht der Herstellung besonders für das elektronische Publizieren spricht, sind im Wesentlichen drei Gründe:

  1. Die Dokumenteinheiten sind klar strukturiert und mit Verweisen versehen, was sich "datenbankgestützt" besonders gut abbilden lässt;

  2. Nachschlagewerke werden immer wieder in neuen Auflagen publiziert – diese Datenpflege lässt sich in Datenbanken besonders effektiv durchführen;

  3. schließlich unterstützt das "datenbankgestützte Publizieren" die Mehrfachverwertung in dem Sinne, dass aus einer Datenquelle sowohl Druckvorlagen als auch Dateien für das Angebot auf CD-ROM oder im Internet erzeugt werden können.

<15>

Aus Sicht der Nutzer spricht insbesondere das Folgende für das elektronische Nachschlagewerk:

  1. In Nachschlagewerken wird nicht vom Anfang bis zum Ende gelesen, sondern selektiv. Die Fähigkeit des Computers große Textmengen zu durchsuchen, hilft den gewünschten Text zu finden.

  2. Die Texte von Nachschlagewerken sind strukturiert und eher kurz und eignen sich deshalb besser zum Lesen am Bildschirm als umfangreiche Werke.

  3. Der Computer bietet die Möglichkeit, das textbasierte Nachschlagewerk um Funktionen zu ergänzen, die im Buch nicht realisierbar wären. Das bezieht sich zum einen auf multimediale Elemente wie Ton- und Filmmaterial (z.B. in Lexika) und zum anderen auf kommunikative und transaktionsorientierte Arbeitsfunktionen, wie das Auslösen von Bestellvorgängen (z.B. bei Produktkatalogen).

Anhand des Buchkatalogs "Verzeichnis lieferbarer Bücher", des Einkaufsführers "Wer liefert was?" und des Universallexikons "Encyclopædia Britannica" lässt sich die Konkurrenz der unterschiedlichen medialen Angebotsformen – Druck, CD-ROM, Online – beispielhaft veranschaulichen.

Verzeichnis lieferbarer Bücher (VlB) – ausgedruckt!

<16>

Das Verzeichnis lieferbarer Bücher (VlB) wurde seit 1971 durch den Verlag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels herausgegeben. [6] Als zentraler Katalog des deutschen Buchhandels umfasst er fast eine Million Titeleinträge von über 17.000 Verlagen. Das VlB stand bis Anfang der 2000er-Jahre als Beispiel für die Koexistenz von gedruckter und elektronischer Publikation – seit Ende der 1990er-Jahre auf durchaus prekärer Grundlage. Die Druckauflage lag in den 1980er-Jahren noch bei über 10.000 Exemplaren; sie sank bis Anfang der 2000er-Jahre auf unter ein Zehntel dieses ehemaligen Spitzenwertes. Im Jahr 2003 wurde die letzte Druckausgabe des VlB publiziert. Das VlB existiert seitdem nur noch als CD-ROM oder als Datenbank im Internet.

<17>

Eine elektronische Ausgabe auf CD-ROM wird seit 1989 vertrieben. Damals waren CD-ROM-Laufwerke noch kaum verbreitet und kosteten einige Tausend DM. Auch die CD-ROM-Ausgabe des VlB kostete fast 2.000 DM. Heute ist die CD-ROM-Ausgabe des VlB mit einer Auflage von rund 5.000 Exemplaren der wesentliche Umsatzträger. Die Abnehmer sind in erster Linie der Buchhandel und Bibliotheken. Der Preis für das Vollabonnement mit Online-Zugang und monatlichen CD-ROM-Updates liegt etwa bei 1.000 Euro.

Das VlB ist seit 1997 auch im Internet zugänglich und zwar in zwei Funktionen: als endnutzerorientiertes und gebührenfreies Recherche- und Vertriebsinstrument unter dem Namen Buchhandel.de [7] und für die Verlage zur direkten Neuanmeldung von Buchtiteln und Pflege des Titelbestands.

<18>

Dass die gedruckte Ausgabe zunächst ergänzt, dann verdrängt und abgelöst wurde, hat damit zu tun, dass das VlB mehr ein Kommunikations- als ein Rezeptionsmedium ist. Die deutsche Buchbranche "kommuniziert" über das VlB ihre Buchproduktion. Die Verlage melden ihre lieferbaren Bücher, Buchhandel und Buchkäufer nutzen das VlB zur Suche und gegebenenfalls für die Bestellung. Das geht über das Internet direkter und schneller als über papiergebundene Medien.

Ob und wie die CD-ROM-Ausgabe "überlebt", wird sich zeigen. Sie muss gegenüber dem direkten Zugriff über das Internet einen besonderen Mehrwert aufweisen. Das war zu Zeiten schmalbandiger und unzuverlässiger Datenleitungen die bessere Performanz des digitalen Offline-Mediums. Dieser Vorteil ist heute kaum mehr zu erkennen. Einen sukzessiven Verdrängungseffekt – dass nach der gedruckten Ausgabe im nächsten Schritt auch die CD-ROM-Ausgabe aufgegeben wird – lässt sich am zweiten Fallbeispiel, dem Einkaufsführer "Wer liefert was?", aufzeigen.

Wer liefert was? – Online und umsonst im Internet!

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Der Einkaufsführer "Wer liefert was?" ist eine weit verbreitete Quelle für professionelle Einkäufer in der Wirtschaft. Er enthält in elf Sprachen Informationen über Produkte und Dienstleistungen von rund 410.000 Herstellern und Lieferanten aus 15 europäischen Ländern [8]. Noch Anfang der 1990er-Jahre wurden 80.000 Exemplare gedruckt. Im Laufe der 1990er-Jahre sank diese Auflage auf 3.000 Exemplare, im Jahr 2000 erschien die letzte gedruckte Ausgabe des Handbuchs.

Ein kostenpflichtiger Online-Zugriff auf die Datenbank wurde bereits seit den 1980er-Jahren bei Datenbankanbietern wie Genios oder FIZ-Technik angeboten. Durch das zwischenzeitliche Aufkommen des World Wide Web und seine heutige Dominanz im Bereich der Online-Medien wurde deren Bedeutung jedoch immer geringer und auch diese Angebotsvariante wurde schließlich vor wenigen Jahren eingestellt.

1986 war die CD-ROM-Ausgabe von "Wer liefert was?" eine der ersten CD-ROM-Titel in Deutschland. Sie kostete damals ein- bis zweitausend DM. Ihre Auflage stieg von 2.000 Exemplaren im Jahr 1992 auf einen Spitzenwert von rund 300.000 im Jahr 2000, die allerdings zum größten Teil nicht verkauft, sondern verschenkt wurden. Seitdem macht sich die Konkurrenz des Internets massiv bemerkbar. 2004 wurde die letzte CD-ROM-Ausgabe produziert.

Das 1995 recht früh gestartete Angebot im Internet umfasste zunächst nur Teile des gesamten Datenbestandes, seit 2001 dann das vollständige Verzeichnis; die Nutzung ist kostenlos. Der Verlag in Deutschland mit rund 200 Mitarbeitern finanziert sich vollständig aus den Werbeeinnahmen des Internetangebots.

<20>

Damit entspricht diese Publikationsform am ehestens den Vorstellungen einer "Internetökonomie", in der "content" direkt und frei zugänglich ist und über Werbung finanziert wird. Interessant ist, dass sich "Wer liefert was?" zwar als professioneller elektronischer Einkaufsführer bzw. Unternehmens- und Produkt-Suchmaschine im Internet positionieren konnte, aber nicht den Schritt zur Einkaufsplattform vollzogen hat, auf der auch gleich Kaufanbahnung und Kaufabwicklung vollzogen werden könnte. Dieser Schritt – vom Nachweis lieferbarer Bücher zur elektronischen Plattform für den Verkauf von Büchern – wurde dagegen beim "Verzeichnis lieferbarer Bücher" konsequent vollzogen.

Encyclopædia Britannica

<21>

Zu den großen, umfangreichen und traditionsreichen Universallexika zählt die Encyclopædia Britannica, deren erste Auflage 1768-1771 in drei Bänden in Edinburgh erschien. In den 1920er-Jahren wechselten Besitz und Firmensitz nach den USA. Die Druckausgabe umfasst heute 32 Bände und kostet ca. 1.400 US-Dollar. [9]

Der Verlag der "Britannica" zählt zu den Pionieren beim Elektronischen Publizieren [10]. Bereits 1981 (!) konnte man online eine elektronische Volltextversion beim Datenbankanbieter Mead Data Central kostenpflichtig durchsuchen und einzelne Artikel abrufen. 1994 wurde die erste CD-ROM der kompletten 32-bändigen Ausgabe auf den Markt gebracht, gleichzeitig mit Britannica-Online der Gang ins Internet gewagt. Mit Comptons Multimedia Enyclopedia auf CD-ROM hatte der Verlag bereits seit 1989 Erfahrungen im CD-ROM-Geschäft.

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Die Verkaufszahlen der gedruckten Ausgabe gingen in den 1990er-Jahre dramatisch zurück, von über 100.000 im Jahr 1990 auf etwa 20.000 im Jahr 1997. Die Ursache hierfür in erster Linie bei den Online-, CD-ROM- oder Internetausgaben zu suchen, würde sicher zu kurz greifen. Die Ursachen sind vielfältiger: So wurde mit der starken Orientierung auf elektronische Produkte der Direktvertrieb der gedruckten Ausgabe über Vertreter eingestellt, was zu einem deutlichen Einbruch bei den Verkaufszahlen führte. Hinzu kamen die Billigangebote von Lexika-CD-ROMs, z.B. Microsofts Encarta, die für weniger als 100 US-Dollar in Konkurrenz zum Kauf einer mehrbändigen gedruckten Enzyklopädie für über 1.000 US-Dollar traten. Die CD-ROM-Versionen der Britannica haben sich mittlerweile diesem Preisniveau von etwa 30 bis 70 US-Dollar angepasst.

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Ein tragfähiges Geschäftsmodell für das Internet wurde dagegen noch nicht gefunden. Zunächst wurde die Britannica-Online zu einem Pauschalpreis nur an Universitäten und Schulen lizenziert; dann wurde dieses Angebot für alle Endnutzer für einen Jahrespreis von zunächst 150, dann 85 US-Dollar geöffnet – mit relativ wenig Erfolg. Im Oktober 1999 wurde die Nutzung im Internet ganz freigegeben; das Angebot sollte sich über Werbeeinnahmen finanzieren, was sich allerdings auch nicht realisieren ließ. So wurde im Juli 2001 das Geschäftsmodell abermals geändert und ein kostenpflichtiger "Premiumservice" mit einem werbefreien Zugriff auf die kompletten Inhalte der Britannica für 60 US-Dollar/Jahr etabliert, während ein inhaltlich begrenztes Angebot mit Werbung weiterhin frei zugänglich blieb. Außerdem erhalten die Käufer der gedruckten wie der CD-ROM-Ausgabe einen exklusiven Zugriff auf die Internet-Ausgabe der Britannica, die ständig aktualisiert wird.

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Während bei den beiden vorherigen Beispielen nicht nur die elektronischen Versionen die Druckausgaben verdrängt, sondern teilweise bereits auch die Online- die Offline-Medien ersetzt haben, kann die Encyclopædia Britannica (noch) als Beispiel für die Koexistenz und Kombination der unterschiedlichen Medien gelten. Den spezifischen Ansatz kann man als Datenbankpublizieren mit Mehrfachverwertung und "Multichannelvertrieb" bei starker Produkt- und Preisdifferenzierung beschreiben. Dies ist eine Geschäftsstrategie, die nur auf Basis der vorhandenen elektronischen Produktions- und Distributionsmöglichkeiten realisierbar ist. Ob auch mittel- bis langfristig die Offline-Medien bestehen werden und wie ein Geschäftsmodell für das Angebot einer qualitativ hochwertigen, kommerziellen Internet-Enzyklopädie – in Konkurrenz zu Wikipedia und ähnlichen Projekten – aussehen könnte, muss auch hier offen bleiben.

Tabelle 3: Gedruckte und elektronische Nachschlagewerke

Title des Nachschlagewerks

Verzeichnis lieferbarer Bücher

Wer liefert was?

Encyclopædia Britannica

Erste Buchausgabe

1971

1932

1768

Erste Online-Datenbank

in den 1980er

1980

1981

Erste CD-ROM-Ausgabe

1989

1986

1994

Erste Internet-Ausgabe (WWW)

1997

1995

1994

Letzte Buchausgabe

2003

2000

?

Letzte CD-ROM-Ausgabe

?

2004

?

Bestand

930.000 Titelnachweise von 17.000 Verlagen (2005)

340.000 Nachweise deutscher Unternehmen mit Produktinformationen (2005)

32 gedruckte Bände (2006)

Geschäftsmodell

Abonnement

Werbung

Einzelverkauf (Buch, CD-ROM), Werbung und Abonnement (Internet)

Markt

B2B, B2C

B2B

B2C, Schulen, Universitäten

Funktionswandel

Vom gedruckten Nachschlagewerk zum Bibliografier- und Bestellmedium (E‑Commerce)

Vom gedruckten Einkaufsführer zur Internet-Suchmaschine für Unternehmens- und Produktinformationen

Vom Buchverkäufer zum "database publisher" mit Mehrfachverwertung und Mehrkanalvertrieb

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Tabelle 3 zeigt die wichtigsten Etappen und Veränderungen der drei Beispiele im Vergleich. Marktgängige und kommerzielle elektronische Nachschlagewerke existieren teilweise seit den1980er-Jahren. Das wird oft vergessen, wenn man nur das Internet und das wissenschaftliche Publizieren im Auge hat. Das heißt nicht, dass die neuen Publikationsformen immer gleich erfolgreich waren. Das Verhältnis der gedruckten zur elektronischen Ausgabe musste jeweils neu austariert werden. Werke, an die elektronische Arbeitsprozesse angehängt werden können und die sich wesentlich an Geschäftskunden richten (B2B-Markt), wie beim VlB und dem Einkaufsführer "Wer liefert was?", können eher auf eine gedruckte Ausgabe verzichten als dies (noch) bei großen Lexika der Fall ist. An elektronischen Angeboten, aufgewertet gegenüber dem Buch insbesondere um multimediale Elemente, kommt aber auch hier kein Lexika-Verlag mehr vorbei. Der Verkauf gedruckter Enzyklopädien bleibt aber noch die wesentliche ökonomische Grundlage des Geschäfts dieser Verlage, die elektronischen Versionen gelten als Ergänzungen. Das liegt vermutlich – genauere Studien wären notwendig – zu einem großen Teil an dem Prestige, das (noch) mit dem Kauf einer großen Enzyklopädie verbunden ist, vermutlich auch mit der diesen Produkten zugeschriebenen Solidität und Dauerhaftigkeit, die nicht durch Computer-Abstürze und Systemwechsel zu erschüttern sind.

<26>

Erkennbar ist in allen drei Fallbeispielen der Wandel von einer Produkt- zu einer Serviceorientierung. Die Inhalte und "Substanzen", wie es auch in Verlegerkreisen heißt, werden unabhängig von einem konkreten Medium und dem dazugehörigen Produkt elektronisch vorgehalten und in Reaktion auf die sich ändernden Markterfordernisse und technologischen Entwicklungen in unterschiedlichen Medien und über unterschiedliche Kanäle vermarktet.

Alte Thesen und neue Einsichten?

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In dem schon erwähnten Buch "Elektronisches Publizieren. Eine kritische Bestandsaufnahme" (1992) finden sich im abschließenden Kapitel zwölf Thesen zur (neuen) Rolle der Autoren, Verlage und Nutzer im Kontext einer Entwicklung zum Elektronischen Publizieren. [11] Seit Fertigstellung des Manuskripts zu diesem Buch sind gut 15 Jahre ins Land gezogen, und es mag sich lohnen, einige der damaligen Thesen aus heutiger Sicht zu kommentieren. Was hat heute noch Bestand, was muss verworfen werden? [12] Es werden im Folgenden die Thesen 1, 2, 4, 7 und 12 aufgegriffen, in denen es um die Veränderungen der Beziehungen zwischen Autor und Verlag geht, um die Entwicklung der Qualität von Publikationen im Zuge des Elektronischen Publizierens, um Verlagsinteressen am Elektronischen Publizieren, um eine generelle Bestimmung der Rolle des Verlags sowie um die Schwierigkeiten der Verbreitung elektronischer Publikationen.

Immer mehr Tätigkeiten werden an den Anfang der Publikationskette, beim Autor, konzentriert

<28>

Es wurde damals ein Trend zur Konzentration von immer mehr publikationsrelevanten Tätigkeiten am Anfang der Publikationskette bei den Autorinnen und Autoren festgestellt, während die nachgelagerten Akteure, insbesondere die Verlage, Aufgabe an die Autoren abgeben.

Aus heutiger Sicht kann diese Aussage als bestätigt gelten. Es ist quasi selbstverständlich, dass elektronische, wenn nicht gar druckfertige Buchmanuskripte beim Verlag eingereicht werden. Selbst bei Zeitschriftenaufsätzen und Aufsätzen in Sammelbänden gibt es diesen Trend, mittels Dokumentvorlagen die Autoren in den eigentlichen Produktionsprozess einzubeziehen.

<29>

Wie beim Zauberlehrling aber, der die Geister, die er rief, nicht mehr loswird, muss man berücksichtigen, dass die Autoren und Autorinnen, diesen Trend teilweise selbst veranlasst hatten. Denn damals war der computerbegeisterte Teil unter den Autoren die wesentliche Triebkraft für die Einreichung elektronischer Manuskripte beim Verlag. Die Verlage dagegen waren diesbezüglich eher zurückhaltend, wegen der damals noch vorhandenen technischen Probleme in der Übernahme und Weiterverarbeitung elektronischer Manuskripte, die die Neuerfassung des Manuskripts in das Satzsystem des Verlags oft einfacher und wirtschaftlicher erscheinen ließ. [13]

<30>

Der bei wissenschaftlichen Autoren vermutlich besonders ausgeprägte Glaube an die Rationalität von Arbeitsprozessen – dass ein einmal erfasster Text nicht nochmals abgetippt werden sollte – schlägt so zurück in insgesamt erhöhte Anforderungen an die formale und inhaltliche Korrektheit des Manuskripts. Denn für die angestrebte, weitgehend automatisierte Weiterverarbeitung in der "integrierten elektronischen Publikationskette" muss das elektronische Manuskript ganz anderen Ansprüchen genügen als das vorher übliche, per Schreibmaschine geschriebene Manuskript auf Papier.

Dass mit der Open Access-Bewegung heute der Autor nun auch noch selbst, je nach Publikationsmodell, seine Publikation vorfinanzieren, verlegen und vermarkten soll, zeigt die andauernde Gültigkeit der damaligen These, die sich im Übrigen in einen viel breiteren Trend zur "Do-it-Yourself-Gesellschaft" einordnen lässt. [14]

Abstriche bei den Qualitätsstandards

<31>

In dieser These wurde als Folge der Aufgabenverlagerung auf die Autoren ein Trend zu Abstrichen an den Qualitätsstandards der Publikationen postuliert.

Diese Qualitätsstandards haben eine formal-äußere und eine inhaltliche Dimension. Die postulierte Gefahr des Qualitätsverlustes erscheint weiterhin gegeben, wenn die tatsächliche Entwicklung sicherlich widersprüchlich ist und Gegenkräfte für die Verteidigung von Publikationsstandards mobilisiert wurden.

Die ärgsten Auswüchse und Peinlichkeiten des Selbstpublizierens mit Desktop-Publishing-Programmen in laienhafter Manier sind vermutlich überwunden. Hier wurde in den letzten 20 Jahren ein breiter Lernprozess über Regeln der Text- und Buchgestaltung vollzogen. Bei dieser Diffusion ehemals berufsfachlich gebundener Qualifikationen in die breiteren Schichten wissenschaftlicher und professioneller Autoren sollte man sich aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses erreichte Qualifikationsniveau in der Regel immer noch ein "laienhaftes" und nicht vergleichbar ist, mit den professionellen Kenntnissen eines Setzers bzw. Buch-, oder wie es heute heißt, Mediengestalters.

<32>

Bei den inhaltlichen Qualitätsstandards bleibt das Bild ebenfalls widersprüchlich. Einerseits ist der Druck im Wissenschaftssystem nach "peer reviewed journal article" enorm erhöht und von den Naturwissenschaften auf mehr oder weniger alle Disziplinen verallgemeinert worden. Andererseits sind die Qualitätskontrollen bei den Verlagen – bedingt durch einen rapiden Abbau von Fachpersonal in Lektoraten und Redaktionen – nicht besser geworden. Der Verlag nimmt gegebenenfalls, was er bekommt, wenn dafür bezahlt wird – und verfehlt damit gerade seine viel beschworene "Gatekeeper-Funktion".

Verlagsinterne Rationalisierung vor innovativen Konzepten

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Entscheidend für die Verbreitung des Elektronischen Publizierens im Verlagswesen sei, ob es hilft, bestehende ökonomische Probleme zu lösen oder neue ökonomische Perspektiven zu eröffnen. Das verlagsinterne Rationalisierungsinteresse, insbesondere im Bereich der Herstellung und des Vertriebs, stehe vor der Innovation von Publikationskonzepten, wie der Ergänzung um multimediale Elemente, interaktive Möglichkeiten oder neue Text- und Rezeptionsmodelle (Hypertext), so die damalige These.

<34>

Bei den oben geschilderten Fallbeispielen aus dem Bereich der Nachschlagewerke ist dieses Rationalisierungsinteresse am Elektronischen Publizieren deutlich zu erkennen. Im Mittelpunkt steht die Pflege eines großen Datenbestandes aus dem elektronische Publikationen, mehr noch "Dienstleistungen" abgeleitet werden können. Datenbankgestütztes Publizieren, Mehrfachverwertung und Mehrkanalvertrieb sind hierzu viel eher die passenden Stichworte als Multimedia, Hypertext oder die Aufhebung der Trennung von Autor und Leser.

Gleichwohl haben sich auf Basis dieses grundlegenden Rationalisierungsinteresses durchaus innovative und attraktive Konzepte entwickelt und etabliert, die vor 20 Jahren noch kaum vorstellbar waren, an die man sich heute aber schon fast wie selbstverständlich gewöhnt hat. Man denke nicht zuletzt an die teilweise wirklich faszinierenden Möglichkeiten multimedialer Enzyklopädien. Der in der These postulierte Gegensatz ist vielleicht zu hart formuliert, denn ohne den innovativen "Mehrwert" neuer Publikationen (und Dienste) werden diese sich genauso wenig durchsetzen wie ohne eine entsprechend positive Wirtschaftlichkeit.

Verlage in ihrer Rolle zwischen "gatekeeper" und "information provider" verunsichert

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In dieser These wurde formuliert, dass die Verlage in ihrer Rolle verunsichert schienen: Die einen vertraten das traditionelle Konzept des "gatekeepers", also desjenigen, der aus der Fülle der Publikationsangebote die Spreu vom Weizen trennt und "added value", "informationellen Mehrwert", wie dies Reiner Kuhlen einmal nannte, im Publikationsprozess erzeugt. Andere Verleger dagegen propagierten das Konzept des "information provider" und sahen ihre Aufgabe in erster Linie darin, die vorhandenen Informationen dem Nutzer ungefiltert und über elektronische Kanäle gut zugänglich anzubieten.

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Diese damals innerhalb der Verlagswelt leidenschaftlich geführte Diskussion hat ihre Dramatik eingebüßt. Die Frage nach der Rolle der Verlage bleibt allerdings aktuell, heute in Bezug auf die Diskussion um "Open Access". Der Zusammenhang zu den Potenzialen des Elektronischen Publizierens ist offensichtlich. Nur auf dieser Basis konnte es den Open-Access-Promotoren gelingen, die Debatte um Open Access in der Wissenschaft so weit voranzutreiben, dass sich auch die wesentlichen Wissenschaftsorganisationen "Open Access" auf ihre Fahnen geschrieben haben und selbst die großen, internationalen Fachverlage mit Zugeständnissen reagieren mussten.

Marktentwicklung zwischen hohen Ansprüchen und vielfältigen Konkurrenzbeziehungen

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In dieser abschließenden These wurden die Schwierigkeiten der Marktentwicklung für elektronische Publikationen behandelt. Es wurde dabei die folgende Problematik gesehen:

Die hohen Investitionskosten für innovative Publikationskonzepte stehen einem zunächst unsicheren Markterfolg gegenüber. Findet das neue Produkt eine ausreichende, auch ausreichend zahlungskräftige Nachfrage? Dies erscheint umso fraglicher, je partieller das Nutzungsinteresse ist. Aus den damaligen Nutzerbefragungen wusste man, dass das Interesse an elektronischen Publikationen sich immer nur auf besonders problematische, aber seltene Anlässe und Anforderungen bezog. Außerdem führen diese besonderen Problemsituationen, in denen die üblichen Informationsressourcen nicht mehr ausreichen und in denen dann zum elektronischen Angebot gegriffen wird, zu besonders hohen Anforderungen an Breite der Abdeckung, Qualität der Information, Einfachheit der Nutzung und Geschwindigkeit der Informationslieferung.

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In dieser Beurteilung der "Medienwahl" und "Medienkonkurrenz" darf nicht vergessen werden, dass die herkömmlichen gedruckten Werke durch die neuen Angebote nicht automatisch obsolet werden, sondern sich im Vergleich zu den neuen elektronischen Werken durchaus behaupten können. Die gedruckten Werke weisen weiterhin besonders geschätzte Nutzungseigenschaften auf (einfache Handhab- und Nutzbarkeit, keine technische Abhängigkeit und Fehleranfälligkeit, Dauerhaftigkeit etc.), die von den elektronischen teilweise erst erreicht und überboten werden müssen.

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In dieser Gemengelage zwischen alten und neuen Publikationen, Nutzungsanforderungen und Nutzungsroutinen treten andere Akteure aus der "Publikationskette" (z.B. IT-Unternehmen, technische Dienstleister für das Publishing on Demand, Bibliotheken als Verleger) in Konkurrenz zu den Verlagen.

Die Fragen, die hier aufgeworfen werden, beziehen sich auf zwei weiterhin aktuelle Probleme. Die technisch bedingten Veränderungen im Publikationsprozess führen zu Verschiebungen der Aufgaben der etablierten Akteure. Wer hier als Gewinner und wer als Verlierer vom Platz geht, ist auch heute noch nicht entschieden. Die Verlage sind auf Grund ihrer ökonomischen Potenz, ihrer technischen und verlegerischen Kompetenz, ihrer hohen Reputation und ihrer vielfältigen Autoren- und Kundenbeziehungen in einer relativ starken Position, keinesfalls aber unangreifbar, wie wiederum die Entwicklungen um das "Open Access" zeigen.

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Der zweite Aspekt bezieht sich auf die immer wieder neu zu stellende Frage nach dem Verhältnis der herkömmlichen gedruckten Medien zu den neuen elektronischen. Was ist das Grundlegende, was die Ergänzung? Im Gegensatz zu vor 15 Jahren würde man heute in fachlichen und wissenschaftlichen Kontexten die elektronische Datenbasis als die Basis des Publizierens und die gedruckte Publikation nur als eine abgeleitete Konkretisierung ansehen. Das heißt mit Sicherheit nicht, dass bald keine gedruckten Bücher mehr produziert, verkauft und gelesen werden. Wahrscheinlich ist aber ein Szenario, in dem zunächst der erste Zugriff auf die elektronische Datenbasis erfolgt. Ob eine kurze Inspektion des recherchierten Ergebnisses dann schon ausreichen wird oder eine gründliche Rezeption noch erfolgen muss, wird danach entschieden. In Abhängigkeit davon wird sich dann die Frage stellen, in welchem Medium diese Rezeption erfolgen soll. Für den Bezug des gedruckten "Buches" werden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit mehre Alternativen stellen: Eigendruck auf dem Bürodrucker in losen Blättern, Inanspruchnahme eines Druckdienstleisters, der auch eine Bindung der losen Blätter liefern kann oder auch Bezug des "klassisch" hergestellten gedruckten und gebundenen Werkes über den Buchhandel oder den Verlag direkt.

Vor diesem Hintergrund mag die damalige Frage nach den Marktchancen für elektronische Publikationen überholt erscheinen. Heute ist alles Publizieren – im Sinne eines herstellungsorientierten Publikationsbegriffs – Elektronisches Publizieren.

Schlussbemerkung

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Blickt man auf einen Zeitraum von 20 bis 25 Jahre zurück, dann haben sich im Bereich der Wissenschaft und der Fachkommunikation Varianten des elektronischen Publizierens breit durchgesetzt. Ob weiterhin gedruckte, elektronische auf Offline-Medien oder Online-Publikationen im Internet angeboten werden, hängt von den jeweiligen Fachgebieten und spezifischen Nutzungsbedingungen ab und ist immer weniger eine Grundsatzentscheidung als eine, die auf Basis vorhandener elektronischer Datenbasen von Fall zu Fall getroffen wird. Die Rollen der Akteure in der Publikationskette wurden bisher nicht grundsätzlich in Frage gestellt, aber Verlagerungen von Aufgaben (z.B. hin zu den Autoren) und anhaltende Auseinandersetzungen um neue Funktionsbestimmungen innerhalb und zwischen den Akteursgruppen deuten darauf hin, dass ein neu austariertes System erst noch gefunden werden muss. Der erreichte Stand an direktem, oft auch (kosten-)freien Zugriff auf Publikationen, an Suchmöglichkeiten und Verknüpfungen wird kaum mehr hintergehbar sein. Wie dieses System aber auf Dauer finanzierbar und damit auch zu bewahren sein wird, ist eine der großen Zukunftsfragen. Gesellschaftspolitisch problematisch erscheint ein Szenario, in dem herkömmliche, öffentliche Zugangswege (z.B. über Bibliotheken) zunehmend abgebaut werden, und der Komfort und die Leistungsfähigkeit der großen Publikationsdatenbanken nur noch bestimmten privilegierten Gruppen zugänglich ist.

Autor

Ulrich Riehm
Forschungszentrum Karlsruhe
Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS)
Postfach 3640
76021 Karlsruhe
riehm@itas.fzk.de
http://www.itas.fzk.de



[1] Ulrich Riehm / Knud Böhle / Ingrid Gabel-Becker / Bernd Wingert: Elektronisches Publizieren. Eine kritische Bestandsaufnahme, Berlin u. a. 1992; Knud Böhle / Ulrich Riehm / Bernd Wingert: Vom allmählichen Verfertigen elektronischer Bücher. Ein Erfahrungsbericht (= Veröffentlichungen des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse 5), Frankfurt am Main u. a. 1997 ( http://www.itas.fzk.de/deu/itaslit/boua97a.htm <03.08.2006>); Ulrich Riehm / Carsten Orwat / Bernd Wingert: Online-Buchhandel in Deutschland. Die Buchhandelsbranche vor der Herausforderung des Internet, Karlsruhe 2001 (Lieferbar als Book on Demand und als E-Book, siehe http://www.itas.fzk.de/deu/projekt/pob/pob-buch.htm <03.08.2006>); Ulrich Riehm / Knud Böhle / Bernd Wingert: Elektronisches Publizieren, in: Rainer Kuhlen / Thomas Seeger / Dietmar Strauch (Hg.): Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation. Band 1: Handbuch zur Einführung in die Informationswissenschaft und ‑praxis. 5., völlig neu gefasste Ausgabe, München 2004, 549-559 ( http://www.itas.fzk.de/deu/lit/2004/riua04a.pdf <08.08.2006>)

[2] Riehm / Böhle / Gabel-Becker / Wingert: Elektronisches Publizieren (wie Anm. 1), 155.

[3] Die Deutsche Bibliothek: Jahresbericht 2004, in: http://www.d-nb.de/service/pdf/jb_2004_erwerbung.pdf <02.08.2006>. Die folgenden Zahlen entstammen dieser Quelle, teilweise eigene Berechnungen.

[4] So der Titel eines Buches von Michael Wetzel: Die Enden des Buches oder Die Wiederkehr der Schrift, Weinheim 1991.

[5] Hier im Wesentlichen nach Gabriele Siegert / Björn von Rimscha / Marie Oetker: Strukturelle Veränderungen in der Medienlandschaft und ihre Auswirkungen auf die Zeitungen. Gutachten im Auftrag des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger e.V. (BDZV), in: Deutscher Bundestag, Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit: Materialien für die öffentliche Anhörung am 20. September 2004 in Berlin zum Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen – Drucksache 15/3640 – Zusammenstellung der schriftlichen Stellungnahmen, Ausschussdrucksache 15(9)1333, Berlin 2004, 91-129.

[6] Im Folgenden mit Aktualisierungen nach Ulrich Riehm / Knud Böhle / Bernd Wingert: Elektronisches Publizieren, in: Rainer Kuhlen / Thomas Seeger / Dietmar Strauch (Hg.): Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation, Band 1: Handbuch zur Einführung in die Informationswissenschaft und -praxis. 5., völlig neu gefasste Ausgabe, München 2004, 549-559, hier: 551 (online abrufbar unter http://www.itas.fzk.de/deu/lit/2004/riua04a.pdf <08.08.2006>).

[7] Hier also als "neutrale" Plattform für den Online-Buchhandel, in der Endnutzer und der Bucheinzelhandel zusammengebracht werden, vgl. Riehm / Orwat / Wingert: Online-Buchandel (wie Anm. 1), 76ff.

[8] Im Folgenden wiederum mit Aktualisierungen nach Riehm / Böhle / Wingert: Elektronisches Publizieren (wie Anm. 6), 551f.

[9] Zu Vergleich die 21. Auflage der Brockhaus Enzyklopädie aus dem Jahr 2006 wird in 30 Bänden herausgegeben und kostet etwa 2.500 Euro.

[10] Im Folgenden mit Aktualisierungen nach Riehm / Böhle / Wingert: Elektronisches Publizieren (wie Anm. 6), 552.

[11] Riehm / Böhle /Gabel-Becker / Wingert: Elektronisches Publizieren (wie Anm.1), 279 ff. Eine Online-Version dieses Kapitels findet man unter http://www.itas.fzk.de/deu/Itaslit/riua92a_kap7.htm <19.10.2006>.

[12] Zum Status dieses reflexiven Rückblicks muss allerdings einschränkend betont werden, dass sich der Autor heute nicht auf eine auch nur vergleichsweise umfassende Forschungstätigkeit mit differenzierten, empirischen Analysen stützen kann wie bei der Ausarbeitung der Thesen vor über 15 Jahren.

[13] Differenzierter zur These vom "Autorenpush" Riehm / Böhle /Gabel-Becker / Wingert: Elektronisches Publizieren (wie Anm. 1), 59f., 116, 332, 357.

[14] Ulrich Riehm: Veränderungen in der Produzenten-Konsumenten-Beziehung beim elektronischen Handel – Beispiele aus dem Verlags- und Buchhandelsbereich, in: Peter Fischer / Christoph Hubig / Peter Koslowski (Hg.): Wirtschaftsethische Fragen der E-Economy (=Ethische Ökonomie) Heidelberg, 2003, 187-201.

Empfohlene Zitierweise:

Ulrich Riehm : Elektronisches Publizieren revisited! , in: zeitenblicke 5 (2006), Nr. 3, [2006-12-03], URL: https://www.zeitenblicke.de/2006/3/Riehm/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-6432

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