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Frau Stollberg-Rilinger, die Geschichte des Alten Reiches gehört zweifelsohne zu den bevorzugten Arbeitsgebieten der deutschen Frühneuzeitforschung in den letzten Jahrzehnten. Es fällt jedoch auf, dass bestimmte Themenkomplexe bislang vernachlässigt worden sind. Dazu zählt auch das Reichslehnswesen. Sie haben zu diesem Gegenstand kürzlich einen viel beachteten Aufsatz geschrieben. Könnten Sie kurz skizzieren, worin für Sie die Relevanz und die Attraktivität dieses Themas liegen?
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Mich interessiert das Lehnswesen vor allem als ein Element der Reichsverfassung, das bisher in besonders hohem Maße anachronistischen Missverständnissen ausgesetzt war, zum einen, weil es sich der modernen verfassungsrechtlichen Logik nicht fügt (weshalb man sich stritt, ob man es dem Öffentlichen oder dem Privatrecht zuordnen sollte). Gerade deshalb ist es für mich reizvoll, weil es erlaubt, die spezifisch vormoderne Logik der Reichsverfassung besser zu verstehen. Zum anderen reizt es mich, weil das Reichslehnswesen bis zum Schluss vor allem auf symbolisch-rituellen Akten beruhte. Damit eröffnet gerade das Lehnssystem einen guten Zugang zu den grundsätzlichen Fragen nach der Leistungskraft symbolischen Handelns in der Vormoderne und nach den Kontinuitätslinien zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit.
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Die Reichsverfassung war, wie die Reichverfassungsforschung herausgearbeitet hat, in der Frühen Neuzeit keineswegs statisch. Worin sehen Sie die wichtigsten Entwicklungen im Bereich des Reichslehnswesens?
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Erstens: Die Form des Belehnungsrituals veränderte sich gegenüber dem 15. / frühen 16. Jahrhundert: der Ort, die Gesten und Symbole, die Öffentlichkeit, der Teilnehmerkreis. Durch die Verlegung von den Reichsstädten in die kaiserliche Residenz geriet das Ritual unter allein kaiserliche Regie; die Kurfürsten wurden durch kaiserliche Hofbeamte ersetzt, die Fürsten ließen sich durch Gesandte vertreten. Der symbolische Mehrwert des Rituals verschob sich damit sehr wesentlich von den Fürsten zum Kaiser.
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Zweitens: Das Verhältnis zwischen Ritual und Schrift veränderte sich, ohne dass das Ritual von der Schrift ersetzt geworden wäre. Die rituellen Formen wurden vielmehr ihrerseits festgeschrieben, ebenso wie der Anspruch der Fürsten auf Neubelehnung in den Wahlkapitulationen. Man verzichtete also nicht auf die Formen, obwohl der Spielraum, mit diesen Formen flexibel auf veränderte Machtverhältnisse zu reagieren, immer enger wurde. Die rituellen Formen setzten der normativen Kraft des Faktischen – wie so oft im Reich – einen wirksamen Widerstand entgegen.
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Drittens: Die Logik des Lehnswesens kollidierte immer unübersehbarer mit der Logik der Souveränität. In die akute Krise geriet das Belehnungsritual aber erst seit dem schwachen Kaisertum Karls VII. Seither fanden die Kurfürsten und die großen weltlichen Fürsten immer neue Gründe, den Lehnsempfang hinauszuschieben, ohne allerdings ihre Pflicht dazu jemals grundsätzlich zu bestreiten. Die Unfähigkeit der letzten Kaiser, das Ritual zu erzwingen, führte aller Welt ihre Ohnmacht vor Augen.
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Wie ernst wurde Ihrer Einschätzung nach das Reichslehnswesen von den unmittelbar Beteiligten – Kaiser und Vasall –, aber auch von dritter Seite – etwa der Reichspublizistik – als Element der Reichsverfassung genommen? Und welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für die heutige Sicht auf das Alte Reich?
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Da es sich bei dem "Lehnsband" ja letztlich um nichts anderes handelte als um die Fiktion eines persönlichen Treueverhältnisses, die in einem symbolisch-rituellen Akt objektiviert wurde, hing alles davon ab, welche Erwartungen die Akteure selbst wechselseitig daran knüpften – und das war eben durchaus verschieden. Der Kaiser, die mindermächtigen Stände, besonders etwa die geistlichen Fürsten, aber auch die Mehrheit der Reichspublizisten nahmen das Lehnswesen als älteste Basis aller Verbindlichkeit zwischen Kaiser und Reich und als zentralen Legitimationsgrund der Territorialgewalt überaus ernst und nannten es "firmissima totius Imperii anchora", das "hauptsächlichste, die Reichsverfassung und den Zusammenhang zwischen Haupt und Gliedern befestigende Band". Allerdings gab es auch umgekehrt Stimmen, die es – im Interesse der nach Souveränität strebenden Fürsten – schon im 17. Jahrhundert als bloßes "simulacrum" bezeichneten.
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Wo sehen Sie weiteren Forschungsbedarf – und mögliche Forschungserträge – im Themenbereich Reichslehnswesen?
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Die Details sind noch immer weitgehend ungeklärt, vor allem, was die konkrete Praxis betrifft (die juristische Dogmatik ist ja schon von den Zeitgenossen des späten 18. Jahrhunderts und später von Rüdiger von Schönberg ausführlich behandelt worden, das trifft aber nur die halbe Wahrheit). Wichtig fände ich es, den Zusammenhang zwischen den Lehnsbeziehungen auf Reichsebene mit denen auf den nachgeordneten Ebenen in Beziehung zu setzen. Und dann: Was passierte wirklich in den verschiedenen Jahrhunderten, wenn ein Fürst seine Pflicht zum rechtzeitigen Lehnsempfang versäumte, wie effizient arbeiteten die Reichsorgane in solchen Fällen, welche Probleme konnten die Fürsten dadurch mit ihren Landständen bekommen, usw.?
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Könnte das Reichslehnswesen ein Forschungsfeld sein, auf dem sich "traditionelle" Reichsverfassungsgeschichtsforschung und kulturgeschichtliche Ansätze begegnen und fruchtbar ergänzen?
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Ich denke ja, wenn man unter Kulturgeschichte mehr als nur eine entbehrliche Ergänzung des "Eigentlichen" versteht, nämlich eine andere Art, Verfassungsinstitutionen zu beschreiben: nicht als feste, quasi objektive Gegebenheiten, sondern als flexible Erwartungsstrukturen in den Köpfen der Akteure, woran diese ihr Handeln orientieren, und als symbolische Praktiken, die diese Erwartungsstrukturen stabilisieren oder auch durchkreuzen.
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Macht es Sinn, den Blick vergleichend auf das päpstliche Lehnswesen und möglicherweise auch auf die polnischen Lehnsfürstentümer Preußen und Kurland oder die osmanischen Vasallenstaaten zu richten?
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Selbstverständlich, und Sie haben das für Italien ja auch bereits vorgeführt. Überhaupt – auch wenn ich die Forschung in anderen Ländern nicht ganz überschaue – scheint mir, dass vor allem die symbolisch-rituelle Seite der Sache dort noch nicht in den Blick genommen worden ist.
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Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem Fortbestand zwischen- bzw. überstaatlicher Lehnsbeziehungen bis weit in die Frühe Neuzeit hinein für den neuzeitlichen Souveränitätsbegriff? Und damit im Zusammenhang stehend: Ist der Entwicklungsprozess hin zu einem tendenziell egalitären europäischen Staatensystem womöglich langwieriger und weniger geradlinig, als er in der Vergangenheit bisweilen geschildert worden ist?
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Es liegt auf der Hand, dass Lehnsbeziehungen in Europa vielfach nicht nur die Basis für staatliche Verdichtungsprozesse bildeten, sondern auch quer zu staatlichen Strukturen verlaufen konnten. Gerade beim Reich ist das evident. Interessant wäre an Einzelfällen zu untersuchen, wann und unter welchen Bedingungen sich das Lehnswesen zugunsten von Staatlichkeit, wann hingegen zu dessen Lasten auswirkte. Ich vermute, dass nur da, wo – wie im Reich oder in Italien – Lehnslogik und Souveränitätslogik miteinander kollidierten, die lehnsrechtlichen Beziehungen und ihre symbolisch-rituellen Ausdrucksformen bis ins 18. Jahrhundert wirklich lebendig bleiben konnten. Wo die Lehnsbeziehungen in anderen staatlichen Herrschaftsbeziehungen aufgingen, verloren sie vermutlich schneller ihre Relevanz.
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Bei allen Veränderungen des (Reichs-)Lehnswesens vom Mittelalter bis zum Ende des Ancien Régime: Wäre es weiterführend, diesen Gegenstand epochenübergreifend zu bearbeiten? Oder anders gefragt: Ist vor dem Hintergrund der Kontinuitäten im Feudalwesen die Epochengrenze zwischen Mittelalter und Neuzeit (einmal mehr) zu relativieren?
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Ja. Das Belehnungsritual etwa veränderte sich im 14. und dann wieder im 16. Jahrhundert wesentlich – gerade nicht um 1500. Die Fragestellung, die ich verfolge, stammt ja überhaupt aus meiner Zusammenarbeit mit den Mediävisten im Münsteraner Sonderforschungsbereich "Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme", wo sich immer wieder zeigt, dass die Epochenschwelle 1500 tatsächlich mehr den hergebrachten institutionalisierten Disziplingrenzen geschuldet ist als dem Gegenstand selbst. Das heißt natürlich nicht, dass sich innerhalb der Vormoderne nichts verändert hätte. Der beliebte Hinweis auf immer noch ältere Wurzeln aller erdenklichen Phänomene ist als solcher noch nicht besonders Erkenntnis fördernd, sondern banal. Ich meine nur, dass man die Veränderungen im 15. / 16. Jahrhundert viel genauer und sorgfältiger vergleichend beschreiben muss, als es der Fall sein kann, wenn sich die Mediävisten nicht für das 16. und die Frühneuzeitler nicht für das 15. Jahrhundert interessieren.
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stollb@uni-muenster.de Prof. Dr. Matthias Schnettger
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Empfohlene Zitierweise:
Barbara Stollberg-Rilinger / Matthias Schnettger : Die Investitur als symbolisch-ritueller Akt , in: zeitenblicke 6 (2007), Nr. 1, [10.05.2007], URL: https://www.zeitenblicke.de/2007/1/Interview/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-7765
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