Über der ewigen Ruhe.
Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte einer russischen Stimmungslandschaft
urn:nbn:de:0009-9-31886
Zusammenfassung
Isaak Levitans Gemälde Über der ewigen Ruhe ist ein Musterbeispiel für seine "Stimmungslandschaften", deren Rezeption durch Zeitgenossen und Nachwelt Aufschluss gibt über Kontinuität und Wandel der Wahrnehmungen und Zuschreibungen. Die nationale Codierung der russischen Landschaft begann im 19. Jahrhundert und setzt sich bis in die Gegenwart fort. Gleichzeitig erzeugte das Gemälde "Über der ewigen Ruhe" Empfindungen und Stimmungen, die mit einem Nachdenken über existenzielle Fragen des menschlichen Lebens einhergingen. In der offiziellen Levitan-Rezeption in der Sowjetunion war dafür jedoch kaum Platz. "Über der ewigen Ruhe" wurde im Sinne des Sozrealismus als Ausdruck einer Kritik an den Zuständen im späten Zarenreich umgedeutet, während gleichzeitig die nationale Aufladung der Landschaft beibehalten wurde. Erst in der Phase der Perestrojka wurden Wahrnehmungsmuster der vorrevolutionären Zeit, in denen das Memento Mori-Motiv im Vordergrund stand, wieder aufgenommen und beispielsweise in einem Rocksong einem Millionenpublikum nahe gebracht.<1>
"Ich bin so unaussprechlich glücklich darüber, dass meine letzte Arbeit erneut zu Ihnen gelangt, dass ich seit dem gestrigen Tag irgendwie in Ekstase bin. Und das ist eigentlich erstaunlich, denn Sie haben schon genug von meinen Sachen. Dass aber diese letzte zu Ihnen gelangte, berührt mich deshalb so stark, weil ich in ihr ganz bin, mit meiner ganzen Psyche, mit meinem ganzen Wesen." [1]
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Diese Zeilen finden sich in einem Brief, den der Maler Isaak Levitan (1860-1900) an den russischen Kunstsammler und Mäzen Pavel Tret'jakov schrieb, nachdem dieser sein Gemälde Über der ewigen Ruhe, das im Frühjahr 1894 erstmals in der 22. Ausstellung der Künstlergenossenschaft der "Wanderer" zunächst in Sankt Petersburg, dann in Moskau gezeigt wurde, für sein Museum gekauft hatte. Über der ewigen Ruhe gehört zu den bekanntesten Gemälden Levitans und regte Zeitgenossen und Nachwelt immer wieder zu Mutmaßungen über dessen Botschaft und gedanklichen Gehalt an. Gleichzeitig gilt Levitan bis heute als Schöpfer einer genuin russischen Stimmungslandschaft. Über der ewigen Ruhe wird neben Gemälden wie Goldener Herbst, Abendglocken und Stilles Kloster in der Literatur zu Levitan seit Ende des 19. Jahrhunderts als kongeniales Beispiel dafür angeführt.
Abb. 1
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Wie der Stimmungsgehalt von Landschaften jenseits der Kunstgeschichte zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexionen werden kann, zeigte bereits Georg Simmel, vor allem bekannt als Begründer der modernen Stadtsoziologie. Sein 1913 erschienener Aufsatz zur Philosophie der Landschaft, [2] in welchem die Stimmung zur wichtigsten Analysekategorie von Landschaftskonstrukten erklärt wird, zeigt gleichsam die andere Seite des urbanen Menschen im "nervösen Zeitalter" und seine Sehnsucht nach dem Anderen, visualisiert in Stimmungslandschaften, die ein Gegenbild zu den Ikonen der Moderne darstellen, damit jedoch unweigerlich mit diesen verbunden bleiben.
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Im Folgenden soll am Beispiel des Levitan-Gemäldes Über der ewigen Ruhe der Frage nach Kontinuität und Wandel in der Rezeption einer Landschaft nachgegangen werden. Folgt man Simmel, entsteht die Stimmung eines Landschaftsbilds in einer Art Interaktion oder Zwiegespräch zwischen Künstler und Betrachtenden. Dieser Zwischenraum erschließt sich in der Analyse der vom Maler zu einem Ganzen zusammengefügten Bildelemente und ihrer Wahrnehmung. Zu fragen ist, ob für den Zeitraum vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Sowjetunion im russischen Kontext so etwas wie eine konstante Essenz der dem Gemälde zugeschriebenen Stimmung zu konstatieren ist. Zugleich gilt es, dessen Multifunktionalität und den Wandel seiner Rezeption aufzuzeigen. Es geht also um beides: "die Welt im Kunstwerk" und "das Kunstwerk in der Welt". [3] Kurzen Ausführungen zu Simmels Landschaftskonzeption folgt zunächst ein knapper Überblick über die "Entdeckung" der russischen Landschaft im 19. Jahrhundert. Anschließend werden Entstehung, Bildinhalte und Überlieferung des Gemäldes Über der ewigen Ruhe behandelt. Schlaglichtartig ist dann die Rezeption des Gemäldes im Russländischen Reich bis 1914 und in der Sowjetunion in den Blick zu nehmen, um auf diese Weise neue Erkenntnisse über die Wirkmächtigkeit eines Landschaftsbildes in verschiedenen Kontexten zu gewinnen. [4] Dass Über der ewigen Ruhe sogar zum Sujet eines Rocksongs in der späten Sowjetunion wurde, zeugt von der großen Faszination, die von diesem Gemälde auch noch rund hundert Jahre nach seiner Entstehung ausging. Sie gilt es im Folgenden zu analysieren.
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Ausgangspunkt für Simmels Reflexionen ist die These, dass jede Landschaft durch einen geistigen Prozess erzeugt wird, der sie jeweils als ein "neues Ganzes" konstruiert. [5] Unweigerlich fühlt man sich an das Eingangszitat aus Levitans Brief an Tret'jakov erinnert, wenn Simmel auf die Verflochtenheit der Landschaft "in ein unendlich weiter Erstrecktes, weiter Flutendes" hinweist – "wie das Werk eines Menschen als ein objektives, selbstverantwortliches Gebilde dasteht und dennoch in einer schwer ausdrückbaren Verflochtenheit mit der ganzen Seele, mit der ganzen Lebendigkeit seines Schöpfers verbleibt, von ihr getragen und noch immer fühlbar durchflutet." [6]
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Die Landschaft als "malerisches Kunstwerk" wird für Simmel zum wichtigsten Untersuchungsgegenstand für seine Frage nach dem Gesetz, das Auswahl und Zusammensetzung von Landschaften bestimmt. Er nennt dabei zunächst religiöse Gefühle, die mit Natureindrücken verbunden werden, wie auch die Wechselwirkungen von Leben und Formungskräften der Kunst, um dann in Hinblick auf die in einer Landschaft repräsentierte Einheit festzustellen: "Der erheblichste Träger dieser Einheit ist wohl das, was man die Stimmung nennt." [7] Gleichwohl erwähnt Simmel aber auch "die eigentümliche Schwierigkeit, die Stimmung einer Landschaft zu lokalisieren". Bezüglich der Generierung dieser Stimmungen hält er fest, dass die Vorstellung einer Landschaft und das damit verbundene Gefühl einander bedingen und nicht dem Prinzip Ursache-Wirkung unterzuordnen sind: "So sind die Einheit, die die Landschaft als solche zustande bringt, und die Stimmung, die uns aus ihr entgegenschlägt und mit der wir sie umgreifen, nur nachträgliche Zerlegungen eines und desselben seelischen Aktes." [8] Schließlich verweist Simmel noch auf die Unzulänglichkeit abstrakter Begriffe wie "heiter", "heroisch" oder "melancholisch" zur Beschreibung einer Landschaft und ihrer Stimmung. Sie kann für ihn nur die "Stimmung eben dieser Landschaft" (Hervorhebung im Original, G.P.) sein, die mit allgemeinen Bezeichnungen von Gefühlen nicht angemessen erfasst werden könne, da die je eigene Stimmung eines Bildes so nicht wiedergegeben und die Gleichzeitigkeit von Schauen und Fühlen durch nachträgliche Reflexion gespalten werde. Simmels Beitrag endet mit einer Betonung der Rolle des Künstlers:
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"Der Künstler ist nun derjenige, der diesen formenden Akt des Anschauens und Fühlens mit solcher Reinheit und Kraft vollzieht, dass er den gegebenen Naturstoff völlig in sich aufsaugt und diesen wie von sich aus neu schafft; während wir anderen an diesen Stoff mehr gebunden bleiben und deshalb noch immer dieses oder jenes Sonderelement wahrzunehmen pflegen, wo der Künstler wirklich nur 'Landschaft' sieht und gestaltet." [9]
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Isaak Levitan war einer dieser "Landschaftsgestalter" im Sinne Simmels. Geboren wurde er 1860 in Kybartai, in jener Zeit zum Gouvernement Suwalki, heute zu Litauen gehörend. Levitans Vater, der aus einer Rabbinerfamilie stammte, arbeitete zunächst als Sprachlehrer, dann als Übersetzer für eine französische Baugesellschaft, die eine Eisenbahnbrücke konstruierte. Anfang der 1870er Jahre zog die Familie zunächst nach Kaunas, dann nach Moskau, wo Levitan als 13-Jähriger in die Schule für Malerei, Bildhauerei und Architektur aufgenommen wurde. Durch den Tod von Mutter und Vater, die beide kurz nacheinander starben, blieb er als Waise mittellos und zeitweise ohne feste Unterkunft zurück; der Verbleib auf der Kunstschule wurde nur durch Stipendien möglich. Doch nicht nur die materielle Notlage machte Levitan in jungen Jahren zu schaffen. Zweimal – 1879 und 1892 – musste er Moskau im Zuge der Ausweisungen von Juden aus der russischen Metropole verlassen.
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Im Jahr der ersten Vertreibung Levitans aus Moskau kaufte Pavel Tret'jakov ein Gemälde des jungen Malers, das in einer Schülerausstellung zu sehen war, und wurde fortan zu einem seiner wichtigsten Förderer. In das kulturelle Gedächtnis Russlands ging Levitan nicht zuletzt durch seine Freundschaft mit Anton Čechov ein, dessen Bruder die Moskauer Kunsthochschule zur selben Zeit wie Levitan besuchte. In den 1880er Jahren waren es dann insbesondere Levitans Wolgabilder, die seinen Ruhm als wichtigster Vertreter der russischen Stimmungslandschaft begründeten. Einige seiner Gemälde wurden durch vielfache Reproduktionen und als Briefmarkenmotive, so 1950 und 1968 zu identitätsstiftenden Ikonen für mehrere Generationen. Das große Publikumsinteresse für die Levitan-Retrospektiven in der Tretjakov-Galerie in Moskau und im Russischen Museum in St. Petersburg 2010/11 zeugt von der ungebrochenen Popularität des Malers.
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Die Werke Levitans stehen im Kontext der Entwicklung einer russischen Landschaftsästhetik, die im Zuge der russischen Nationsbildung nach den Napoleonischen Kriegen zunächst in der Literatur einsetzte. Wie russische Schriftsteller und Maler im Laufe des 19. Jahrhunderts den sie umgebenden Raum "schön schrieben und malten", analysierte Christopher Ely in seiner Studie über Landschaft und nationale Identität im imperialen Russland. [10] Er hält fest: "By the final decades of the nineteenth century, the humble native landscape had become a mark of national distinctiveness and a point of pride throughout Russian culture." [11] Bereits Puškin hatte damit begonnen, ein neues Vokabular für die Beschreibung typisch russischer Landschaften zu entwerfen. Die Weite des Raums, die Wolga und alte Klosterkirchen sind wesentliche Elemente dieser neuen Landschaftsästhetik, die sich auch bei Levitan wiederfinden. Sehr bewusst wurde nun auch ein Gegenbild zu arkadischen, pastoralen und pittoresken Landschaftsbildern westlicher Provenienz geschaffen.
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Isaak Levitan steht bei Ely bereits am Ende eines Prozesses, der sich durch das 19. Jahrhundert zieht und durch den Einschluss von Kirchengebäuden in eine als genuin russisch empfundene Landschaft das Bewusstsein von Nationalität und Spiritualität stärkte. [12] Zugleich hebt Ely in Hinblick auf Levitan als Vertreter einer neuen Generation von Landschaftsmalern hervor: "Beginning in the late 1880s, the bright colors and viewlike composition of his work would convey a new sense that Russian landscape could be admired as unambiguously beautiful and inviting, a space of leisure upon which urban visitors might rest their eyes for comfort and pleasure." [13]
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"Comfort and pleasure" war freilich nicht das, was Betrachtende in Über der ewigen Ruhe fanden und finden. In seiner Studie über Raum und Wege als Kernelemente des russischen mental mapping liefert der Kulturhistoriker Felix Philipp Ingold eine Bildbeschreibung. Eingangs verweist er dabei auf die Besonderheit menschenleerer russischer Landschaftsbilder, welche die Empfindung auslösten, dass der dargestellte Naturraum von der Zeit losgelöst sei und ewigen Stillstand repräsentiere. Anschließend heißt es:
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"Besonders eindringlich hat Isaak Levitan einen derartigen Raum unter dem Titel Über der ewigen Ruhe (1894) ins Bild gesetzt, indem er den Horizont etwa auf halber Höhe ungebrochen, also ohne jede Überschneidung durchzieht, darüber einen dräuenden Himmel sich wölben und darunter einen breiten Strom fast unbewegt durch die unabsehbar weite Ebene sich winden lässt. Im Vordergrund steht auf einer stumpfen Landzunge als Repoussoir eine kleine Holzkirche, halb verdeckt von einer niedrigen Baumgruppe, hinter der, zum Betrachter hin, ein verwahrloster Friedhof sich über die Böschung zum Fluss erstreckt. Kein weiteres Gebäude, keinerlei Requisit, kein Tier, keine einzige menschliche Gestalt ist in dem grenzenlosen Raum zu sehen. Alles scheint ausgestorben zu sein hienieden, während in der Höhe gigantische graubraune Wolken das späte Tageslicht verfinstern: mit der Reglosigkeit der Erde kontrastiert die aufgewühlte Szenerie am Himmel." [14]
<14>
Rekonstruiert man die Entstehungsgeschichte des Bildes, wird deutlich, dass Levitan die Inspiration zu diesem Gemälde nicht an einem Fluss, sondern während eines Aufenthalts am Udomlja-See nahe Vyšnyj Voloček in der Seenlandschaft der Waldai-Höhen im nordwestlichen Russland fand, wo er den Sommer 1893 zusammen mit seiner zeitweiligen Lebensgefährtin Sofja Kuvčinnikova verbrachte. Dort entstanden zwei Bleistiftskizzen, beide mit dem Titel Vor dem Gewitter versehen, die den See – jedoch noch mit einer anderen Kirche auf der im See gelegenen Insel – darstellen. [15] In der zweiten Bleistiftskizze wird ähnlich wie in einer anschließend entstandenen Vorstudie in Öl das nahende Gewitter noch deutlicher herausgearbeitet; auch die Wolken wurden vor der endgültigen Fassung des großformatigen Gemäldes in einer Einzelstudie dargestellt. Wie der sowjetische Levitanforscher Prytkov 1960 feststellte, liegen für kein anderes Gemälde Levitans so viele Vorstudien vor wie zu Über der ewigen Ruhe. [16]
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Dass es Levitan nicht darum ging, eine bestimmte Landschaft naturgetreu darzustellen, zeigt der Austausch der kleinen Friedhofskirche auf der Insel. Die dortige Kirche war aus hellem Stein und jüngeren Datums als die im Gemälde dargestellte. Wie Prytkov angibt, war es der Maler Nesterov, der Levitan vorschlug, diese Kirche durch die kleine Peter- und Paul-Kirche aus dem 17. Jahrhundert in dem Wolgastädtchen Ples zu ersetzen; auch diese Kirche hatte Levitan schon zuvor gemalt (Alte Holzkirche in Ples im letzten Sonnenschein, 1888). [17] Nicht auszuschließen ist auch der Einfluss seines Lehrers Savrasov, der bereits in den 1870er Jahren einen Friedhof an der Wolga gemalt hatte, der Levitan nach eigenen Aussagen tief beeindruckte. [18] Neben einigen anderen Werken, die Friedhöfe darstellen, nahm Levitan das Motiv eines verlassenen Friedhofs in einem Pastell auf (Vergessene, 1893), das zur selben Zeit wie die anderen Vorstudien zu Über der ewigen Ruhe entstand.
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In kaum einem Beitrag zu diesem großformatigen Werk fehlt der Hinweis auf die Erinnerungen von Levitans Begleiterin Kuvčinnikova. Sie war die Gattin eines Moskauer Militärarztes; das Lehrer-Schülerin-Verhältnis zwischen Levitan und ihr intensivierte sich bald auf eine Weise, die Anton Čechov zu seiner bekannten Erzählung Flattergeist inspirierte. Die wenig vorteilhafte Darstellung der Kuvčinnikova nachempfundenen Protagonistin führte zu einem mehrjährigen Zerwürfnis zwischen Levitan und Čechov. Kuvčinnikova, die eine gute Klavierspielerin war, hielt über die Entstehung des Gemäldes Über der ewigen Ruhe fest:
<17>
"Nachdem Levitan eine kleine Skizze von der Natur gemacht hatte, begann er auch sofort mit dem großen Gemälde. Er malte es mit großer Hingabe und bestand dabei immer darauf, dass ich für ihn Beethoven und vor allem die Eroica-Sinfonie mit ihrem Marche funèbre spielte. Überhaupt liebte Levitan die Musik leidenschaftlich und nahm ihre Schönheit voller Empfindsamkeit auf. Oft verbrachten wir ganze Abende mit Musik. Ich spielte, und er saß auf der Terrasse, schaute in die Sterne und gab sich seinen Gedanken und Träumen hin." [19]
<18>
Bemerkenswert ist, dass bereits in der zeitgenössischen Kunstkritik eine Gleichsetzung dieses Gemäldes mit musikalischen Werken vorgenommen wird. [20] Die Mehrheit der Kritiker, die über die 22. Wanderer-Ausstellung schrieben, reagierte auf das Gemälde allerdings mit Unverständnis, so wurde sein Titel als prätentiös bezeichnet und moniert, dass die Botschaft des Memento Mori dem Betrachter überdeutlich aufgedrängt werde. [21] Dennoch wurde konzediert, dass das Gemälde eine starke "Stimmung" aufweise, die als tödliche Ruhe interpretiert wurde. Sehr positiv schrieb dagegen der Rezensent Micheev in der Mai-Ausgabe der Kunstzeitschrift Artist (Der Künstler) 1894 über das Bild. Die Zeitschrift gehörte zu den führenden Theaterjournalen jener Zeit; neben dem Theater bildeten auch Musik und bildende Kunst ihre inhaltlichen Schwerpunkte. Daher ist es wohl kein Zufall, wenn Über der ewigen Ruhe in Micheevs Ausführungen mit einer Sinfonie verglichen wird – "fremdartig beim ersten Mal, doch unmerklich die Seele gefangen nehmend". Eine "starke, tiefgreifende Stimmung" des Bildes konstatierend fährt Micheev fort: "Das ist sogar beinahe keine Landschaft mehr: Es ist ein Bild der menschlichen Seele in der Darstellung der Natur." [22]
<19>
Samuil Vermel' (circa 1860-1940), der seiner 1902 erschienenen kleinen Studie über Levitan einen Vers aus Evgenij Baratynskijs Gedicht Auf den Tod Goethes voranstellt, [23] kannte Levitan persönlich. Im Zentrum seiner Hommage steht der "innere, gedankliche Gehalt seiner Werke, der allen zugänglich ist, die Augen haben, um zu sehen, und eine Seele, um zu fühlen." [24] Vermel' war kein Kunstkritiker. Er hatte an der medizinischen Fakultät der Universität Moskau studiert und war als Arzt tätig, so unter anderem während des russisch-japanischen Krieges 1904 in der Mandschurei und im Ersten Weltkrieg in einer psychiatrischen Klinik in Kazan'. Gleichzeitig widmete er sich aber auch leidenschaftlich der russisch-jüdischen Kulturbewegung, unter anderem als Herausgeber der Zeitschrift Jüdische Schule (Evrejskaja škola) und der russischen Übersetzung der jiddischen Erzählung Die Schindmähre von Mendele Mojcher Sforim (1913). [25] Als einer der ersten erklärte Vermel' Levitan zum "Künstler und Philosophen", dessen Landschaften gleichzeitig "sprechen, weinen, trauern, Freude empfinden und lächeln". [26] Bestes Beispiel dafür ist laut Vermel' das Gemälde Über der ewigen Ruhe, das demnach "die alte, aber ewig neue Frage nach Leben und Tod" und die Suche nach dem Sinn des Lebens visualisiert. Vermel' sieht darin Parallelen zur russischen Literatur, insbesondere zu Anton Čechov; als Beispiel zitiert er den berühmten Schluss von Čechovs Bühnenstück Drei Schwestern: "[…] wenn man es nur wüsste, wenn man es nur wüsste". [27] Der russische Jude Levitan wird hier in den Kontext einer russischen Hochkultur einbezogen, die wesentlich dazu beitrug, die Vorstellung einer russischen Nation emotional zu vermitteln. Vermel' schreibt über das Gemälde Über der ewigen Ruhe:
<20>
"Und was sehen wir auf dem Gemälde Levitans? Neben den bemitleidenswerten Gräbern und den darauf schief gewordenen Kreuzen 'der ewigen Ruhe' – die ruhige spiegelartige Oberfläche eines unermesslichen Sees, der in die Wolken eines endlosen Himmels übergeht, einen endlosen universalen Raum: Wir sehen, dass unser endliches Leben, das in der ewigen Ruhe endet, nichts ist im Vergleich zu dem endlosen und ewigen Leben der uns umgebenden Natur…Was fangen wir in dieser Endlosigkeit an? Wie Levitan stehen wir nachdenklich vor diesem Geheimnis, vor diesem Rätsel. Die Erhabenheit und Endlosigkeit der Natur, das Unbekannte, die Nichtigkeit und Begrenztheit unseres eigenen Lebens rufen ein trauriges Gefühl hervor. Ignoramus – sagen wir mit Wehmut. Doch vom Nicht-Wissen, von der Rätselhaftigkeit, von der Nachdenklichkeit ist es noch sehr weit bis zur Verzweiflung und zum Pessimismus…Traurig, doch nicht hoffnungslos, nicht ausweglos…Es ist bezeichnend, dass Levitan keine Winterbilder malte. Der Winter – dieses Symbol für Tod und Stillstand – fand in seinem Herzen keine Empathie." [28]
<21>
Im Jahre 1913 erschienen zwei weitere Monographien unterschiedlichen Charakters über Isaak Levitan, in denen sich ebenfalls Reflexionen zu Über der ewigen Ruhe finden. In der Reihe Fliegende Enzyklopädie (Letučaja encyklopedia) veröffentlichte N.N. Nikolaeva einen populärwissenschaftlichen Beitrag über den Maler. Die bis heute verwendete Kategorisierung von Levitans Werk als "lyrische Landschaftsmalerei" spiegelt sich in der erneuten Heranziehung von Poesie bei Nikolaeva: Sie fühlt sich durch Levitans Gemälde Über der ewigen Ruhe an ein Gedicht des Fin de Siècle-Lyrikers Konstantin Bal'mont erinnert, in dem es heißt: "Es gibt in der russischen Natur eine müde Zartheit, den stummen Schmerz einer verborgenen Trauer […]." [29] Nikolaevas Ausführungen lassen den Schluss zu, dass das Gemälde – anders als die meisten Werke Levitans – nicht kompatibel war mit den Vorstellungen der Autorin über eine helle, optimistische Volkspädagogik. Anders als Vermel' sieht sie in Über der ewigen Ruhe "grenzenloses Leid, für das es keinen Ausweg, keine Hoffnung gibt" und "tiefe, leblose, drückende Stille". [30]
<22>
Ein anderes Zielpublikum hatte die erste umfangreiche Arbeit über Levitan, die 1913 im renommierten Knebel'-Verlag in Moskau in der von Igor' Grabar' herausgegebenen Reihe Russische Künstler: Eine Sammlung illustrierter Monographien erschien. Grabar', der selbst Maler war und später in der Sowjetunion eine Schlüsselstellung als Kunstexperte und Kulturhistoriker haben sollte, erscheint auf dem Deckblatt neben dem eigentlichen Verfasser der Studie Sergej Glagol' als Co-Autor. Erstmals wird in dieser Monographie die Entstehungsgeschichte von Über der ewigen Ruhe auf der Basis der Erinnerungen Kuvčinnikovas rekonstruiert. [31] Levitans Werk stellen Grabar' und Glagol' in den Kontext einer "Suche nach der Rus'", [32] die demnach in den 1880er Jahren begann:
<23>
"Sie suchten den besten Ausdruck für das, was man den 'russischen Geist' nennt, sie suchten die 'russische Schönheit', die 'russische Natur' und sogar eine russische Beziehung zu ihr – ein russisches Weltverständnis. Wo immer man die damaligen Moskauer Künstler traf, kam das Gespräch sogleich auf dieses alle bewegende Thema. Bei jeder Gelegenheit diskutierten sie über 'das russische Wesen', und wenn sie ihre Sommeretüden zeigten, waren sie begierig auf Anmerkungen ihrer Kollegen über 'russische' und 'nicht-russische Motive'." [33]
<24>
Bei Grabar' und Glagol' finden sich keine ausführlichen Bildbetrachtungen. Über der ewigen Ruhe wird hier nicht, wie zum Beispiel bei Vermel', als signifikantes Beispiel hervorgehoben, sondern als integraler Bestandteil des Gesamtwerks behandelt. In Anbetracht der nationalen Codierung der Malerei des späten 19. Jahrhunderts kommen Grabar' und Glagol' jedoch nicht umhin, zu Levitans jüdischer Herkunft Stellung zu nehmen. Exemplarisch für die Leitfrage meiner geplanten Studie sei daher die entsprechende Passage ausführlich zitiert:
<25>
"Diese Poesie, diese Schönheit der einfachen dörflichen Landschaft fühlte Levitan auf wunderbare Weise, und ungeachtet seiner jüdischen Herkunft kann man ihn mit Recht als einen der wahrhaftigsten russischen Künstler bezeichnen, als wahren Poeten der russischen Landschaft. Die Poesie dieser Landschaft fühlte er um vieles stärker und klarer als Dutzende anderer Künstler mit den russischsten Familiennamen. Es ist bekannt, dass manche sogar aufrichtig daran zweifeln, dass er Jude war. So viel Gefühl für diese russische Landschaft war in ihm. Auf bewundernswerte Weise fühlte er auch die ganze Melancholie dieser Landschaft, ihre sehnsuchtsvolle Poesie. In Levitans Seele lebte eine ganz besondere Empfindsamkeit für diese traurigen Akkorde, und möglicherweise wirkte diese russische Natur selbst auf Levitan so stark, weil Levitan in ihrer Wehmut etwas ihm sehr Nahes und Vertrautes fand. Diese Wehmut zieht sich als Leitmotiv (Hervorhebung im Original deutschsprachig, G.P.) durch das gesamte Werk Levitans." [34]
<26>
"Empfindsamkeit" und "Wehmut" standen als Leitbegriffe nach der Oktoberrevolution nicht mehr hoch im Kurs. Gleichwohl blieb die Levitan-Rezeption ungebrochen intensiv. Schlaglichtartig soll nun noch ihre "Sowjetisierung" beleuchtet werden. Eine erste umfangreiche Betrachtung der Werke Levitans erschien 1925 in einer Isaak Levitan und einem seiner Lehrer, dem Maler Vasilij Polenov (1844-1927), gewidmeten Monographie. [35] Zunächst stellt Sergej Lobanov Polenov als typischen Vertreter der Landschaftsmalerei der Wanderer-Bewegung vor, die in der Sowjetunion zum Vorläufer und Wegbereiter eines "sozialistischen Realismus" erklärt wurde. Dabei geht er insbesondere auf Polenovs Werke Moskauer Hof und Großmutters Garten ein, die ebenso wie einige Werke Levitans in der Sowjetunion zu offiziell sanktionierten Ikonen eines guten Lebens jenseits sozialistischer Phrasen wurden. Bezeichnend ist gleichzeitig, dass das Lehrer-Schüler-Verhältnis von Polenov und Levitan bereits in der Anlage des Buches reproduziert wird, was den patriarchalisch-autoritätsgläubigen sowjetischen Denkmustern entspricht. Bezüglich der Werke Levitans hält Lobanov fest: "Der ganze Zauber der Ölgemälde Levitans besteht gerade in ihrer Aufrichtigkeit und Einfachheit – daher diese zarte Frische der Levitanischen Poesie und daher der ganz eigene Wert seiner Werke." [36] An die Stelle von Empfindsamkeit und Wehmut traten nun also Aufrichtigkeit und Einfachheit – auf diese Weise ließ sich Levitan mühelos in den sowjetischen Kulturkanon integrieren.
<27>
Nicht so leicht gelang dies mit Über der ewigen Ruhe. Nachdem Lobanov den tragischen Charakter des Motivs hervorgehoben und der Ölskizze einen höheren künstlerischen Wert als dem großformatigen Gemälde zugesprochen hat, kritisiert er das bewusste Evozieren einer Stimmung von Trauer und Düsterkeit in dieser Landschaft, deren Gestaltung nicht den "Anforderungen der künstlerischen Ausdrucksfähigkeit" entspreche, während die Ölskizze demnach besser die "ausweglose Trauer der russischen Natur" wiedergebe. [37] Hier scheint erstmals ein in der Folgezeit häufig reproduzierter sowjetischer Diskursstrang auf: Levitans Bild wird als Ausdruck einer hoffnungslosen Stimmung im späten Zarenreich interpretiert, die erst durch die Oktoberrevolution und die neue Staats- und Gesellschaftsordnung überwunden worden sei. Es wird damit zu einer als "objektiv" bezeichneten Gegenfolie zum neuen, offiziell verordneten positiven Zeitgeist und somit gleichzeitig legitimiert und instrumentalisiert.
<28>
Ein Jahr vor der großen Levitan-Retrospektive, die 1938 in der Tret'jakov-Galerie zu sehen war, lieferte Izabella Ginzburg dann eine stalinistische Version der offiziellen Levitan-Wahrnehmung. Unter Berufung auf Karl Marx hält sie fest, dass nur in der Sowjetunion jeder Mensch (und nicht nur ausgewählte Einzelpersonen) die Möglichkeit erhalte, sich an der Natur zu erfreuen und zugleich Millionen Menschen Zugang zur "schöpferischen Freude der Kunst" bekämen, die erst die Augen für das "Malerische" der Natur öffne. [38] Levitan hat laut Ginzburg als "echter nationaler russischer Künstler" und "Realist" den Ruf, der beste Landschaftsmaler in der Geschichte der russischen Kunst zu sein. [39] Sie zählt Über der ewigen Ruhe wie die Gemälde Bei der Untiefe, Stilles Kloster und Abendglocken zu den bekanntesten Werken des Künstlers. Auch Ginzburg folgt der neuen Interpretation des Gemäldes als Visualisierung einer Stimmung, die durch die Wahrnehmung der gesellschaftlichen und politischen Zustände im späten Zarenreich hervorgerufen worden sei, und verweist darauf, dass Levitan selbst als "bedingungslos und schmerzvoll fühlender Künstler oft in Verzweiflung" geriet. [40]
<29>
1937 befasste sich auch der Schriftsteller Konstantin Paustovskij in seiner für eine Jugendzeitschrift geschriebenen Erzählung Isaak Levitan mit dem Gemälde Über der ewigen Ruhe. [41] Auch er folgt dem verordneten positiven Weltbild, wenn er, nachdem er auf Levitans schwere Kindheit, bedingt durch den Verlust der Eltern, materielle Not und die jüdische Herkunft, wie auch auf seine Depressionen und Selbstmordversuche eingegangen ist, festhält: "Aber zu guter Letzt triumphierte der Künstler über den Neurastheniker. Lewitan erkannte die Reize des Regenwetters und schuf seine berühmten 'verregneten Bilder': 'Nach dem Regen' und 'Über dem Frieden der Gräber'." [42] Paustovkij vergleicht beide Gemälde und hält für sein jugendliches Zielpublikum fest: "Auf dem Bild 'Über dem ewigen Frieden' kommt die Poesie eines Schlechtwettertages noch stärker zum Ausdruck. […] Kein Maler vor Lewitan hat die unermesslichen Fernen der russischen Landschaft bei Regen mit einer solchen Kraft und Schwermut wiedergegeben. Sie wirkt so ruhig und feierlich, daß man sie als erhaben empfindet." [43] Ohne Zweifel ist Paustovskijs Text über Levitan trotz oder vielleicht gerade wegen seiner jugendlichen Adressaten wesentlich subtiler und einfühlsamer als die bis dahin in der Sowjetunion veröffentlichten. Gleichwohl weicht auch er nicht von der offiziellen Sichtweise ab, nach der es gleichsam die russische Landschaft selbst ist, die den eigentlichen Wert der Gemälde Levitans ausmacht. "Ruhig", "feierlich" und "erhaben" sind hier die Schlüsselbegriffe, mit denen die Stimmung des Bildes beschrieben wird – auch sie entsprechen dem sowjetischen Wertekanon.
<30>
In der Sowjetunion der Nachkriegszeit wurde Aleksej Fedorov-Davydov (1900-1969) zum unangefochtenen Levitan-Experten. Einen ersten Beitrag über den Maler hatte er bereits 1938 veröffentlicht, 1956 erschien eine von ihm herausgegebene Sammlung von Briefen, Dokumenten und Erinnerungen an Levitan, und 1966 veröffentlichte er neben einem weiteren Band mit Dokumenten, Materialien und einer Bibliographie seine rund 400-seitige Studie über Leben und Werk des Künstlers. [44] Das Tauwetter machte möglich, dass die bereits in der vorrevolutionären Levitan-Literatur aufgeworfenen existenziellen Fragen erneut thematisiert werden konnten. Für Fedorov-Davydov markiert Über der ewigen Ruhe den Schlusspunkt eines Zyklus im Werk des Malers, der demnach zwischen 1892 und 1894 in seinen Bildern "große und tiefe Gedanken über die Natur und über die Beziehungen des menschlichen Lebens zum Sein" ausdrückte. [45] Die Gegenüberstellung von Natur und Spuren des menschlichen Lebens in ihr repräsentiert für den Kunsthistoriker eine vielschichtige Botschaft, in der sich auch "religiöse Assoziationen" finden; zugleich aber hebt Fedorov-Davydov die Darstellung der "unermesslichen Weite Russlands, ihres freien Raumes" und die "ruhige Erhabenheit der weiten Räume" als zentral für das Schaffen Levitans hervor. [46]
<31>
Was bei Fedorov-Davydov 1966 noch sehr vorsichtig als "religiöse Assoziationen" bezeichnet wird, findet sich bei der spätsowjetischen Rockband Černyj kofe (Schwarzer Kaffee) in ihrem Song Vladimirskaja Rus', in dessen Mittelpunkt Levitans Gemälde Über der ewigen Ruhe steht, bereits zu Beginn als ostentatives Kirchenglocken-Geläut wieder. Der Rocksong entstand zu Beginn der Perestrojka-Zeit, als die Band mit ihren Songs Stadien in den russischen Metropolen füllte. [47] Sein Text sei als Beispiel spätsowjetischer Rocklyrik und Ausdruck einer Sehnsucht nach Spiritualität, in die nationalrussische Motive einfließen, vollständig zitiert:
<32>
"Holzkirchen der Rus',
Schiefe alte Wände.
Komm näher und frag nach vielem.
In diesen Balken sind Herz und Adern
Das Fenster ist kreuzweise vernagelt,
Die Ausschmückung stumm und armselig
Doch dafür ist es den alten Mauern gegeben,
Einfache Beständigkeit als Maßstab für die Seele gelten zu lassen
Levitan blieb allein,
Wenn der Pinsel voll Wehmut erstarrte
Und dann entstand unter vielen Bildern
Plötzlich 'Über der ewigen Ruhe'
Auf dem Hügel ein kleines Detail,
Eine alte Kirche am Berghang
Und man sieht eine unermessliche Ferne
in legendenhaft-grenzenloser Weite
Ein altrussischer Volksbrauch,
der unbestechliche menschliche Stolz
Die alten Kirchen bleiben,
dieses Leben ist endlos und unbegrenzt."
<33>
Erscheint dieser Rocksong durch seine Verweise auf Religiöses und Spirituelles und die Evozierung "lebender" alter Holzkirchen, deren Fenster jedoch – wie häufig in der Sowjetunion zu sehen – zugenagelt waren, zunächst als Ausdruck einer jugendlichen Gegenkultur in der auf Atheismus und Diesseitigkeit eingeschworenen Welt der Sowjetunion, so finden sich darin zugleich auch Motive aus dem nationalrussischen Fundus, die schon im 19. Jahrhundert entwickelt wurden und auch in der Sowjetunion Bestand hatten.
<34>
Bereits durch den Titel mit Verweis auf die mittelalterliche Rus' wie auch durch die Rede von einem altrussischen Volksbrauch wird eine überzeitliche nationale Gemeinschaft konstruiert. Als Antwort auf die fragende Suche zu Beginn des Liedes besingt die Band Werte und Eigenschaften dieser Rus', was an die oben zitierte "Suche nach der Rus'" erinnert, die bereits im 19. Jahrhundert begann. Räumliche Weite und historische Kontinuität sind Kernelemente dieses nationalen Diskurses, die auch in diesem Rocksong beschworen werden. Dass Isaak Levitans Gemälde Über der ewigen Ruhe als Visualisierung dieser Denkmuster interpretierbar ist, erklärt die ungebrochene Faszination, die es schon seit mehr als einem Jahrhundert auf das russische Publikum ausübt.
<35>
Es ist dies freilich nur eine und gleichsam funktionalistische Erklärung dieser Faszination, mit der die Bedeutung des Bildes nur unzureichend erfasst werden kann. Daher sei abschließend noch einmal an Simmels Philosophie der Landschaft erinnert, die in den Bereich der Ästhetik als Wahrnehmungslehre und damit auf die Sinn- und Bedeutungsstrukturen der Bilder verweist. Während die Aufladung des Gemäldes als Ausdruck eines spezifisch russischen Raumes im späten Zarenreich und in der Sowjetunion vor allem der Stärkung des Nationalgefühls diente, [48] deutete man die nachdenkliche Stimmung, die durch die verschiedenen Bildelemente, die Farbgebung und nicht zuletzt den Titel des Bildes erzeugt wird, in der offiziellen sowjetischen Rezeption vornehmlich als Kritik an den Zuständen im Zarenreich, was Levitan selbst wohl kaum intendiert hatte. Zu vermuten ist jedoch, dass der Rezeptionsstrang des Memento Mori, der bereits von Zeitgenossen Levitans entwickelt worden war, nach 1918 nicht völlig abbrach. Darauf deutet der in den 1980er Jahren entstandene Rocksong hin: Er greift vorrevolutionäre Wahrnehmungsmuster auf, in denen Reflexionen über Ewigkeit und Vergänglichkeit im Vordergrund standen. "Traurig, doch nicht hoffnungslos" [49] – das warme Licht im Fenster der kleinen Friedhofskirche lässt darauf schließen, dass dies tatsächlich die Botschaft des Malers war, der sich darin, wie dem Eingangszitat zu entnehmen ist, auch selbst repräsentiert sah.
[1] Isaak I. Levitan: Pis'ma, dokumenty, vospominanija (Obščaja redakcija A. Fedorova-Davydova), Moskau 1956, 47.
[2] Georg Simmel: Philosophie der Landschaft, in: ders.: Das Individuum und die Freiheit. Essais, Frankfurt a. M. 1993, 130-139.
[3] So die Überschriften der Hauptkapitel bei Bernd Roeck: Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit, Göttingen 2004.
[4] Dieser Beitrag ist eine Vorstudie zu einem geplanten Buch über die Rezeption Isaak Levitans durch Zeitgenossen und Nachwelt, in der vor allem der Frage nachgegangen werden soll, für wen, wann und warum seine jüdische Herkunft von Bedeutung war. Leben und Werk Levitans wurden von mir bereits in vergleichender Perspektive untersucht, siehe Gertrud Pickhan: Levitan – Liebermann – Gottlieb. Drei jüdische Maler in ihrem historischen Kontext, in: Osteuropa 5 (2008), 8-10, 247-264.
[5] Simmel: Philosophie (wie Anm. 2), 130.
[6] Simmel: Philosophie (wie Anm. 2), 131.
[7] Simmel: Philosophie (wie Anm. 2), 136.
[8] Simmel: Philosophie (wie Anm. 2), 137.
[9] Simmel: Philosophie (wie Anm. 2), 138-139. Es sei an dieser Stelle auf andere Autoren aus der Kunstgeschichte und Philosophie hingewiesen, die sich mit Landschaftsstimmungen befassen, so Werner Busch: Einleitung, in: ders. (Hg.): Landschaftsmalerei (= Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren Bd. 3), Berlin 1997, 13-32; Alois Riegl: Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst, in: ders.: Gesammelte Aufsätze (hg. von Karl M. Swoboda), Augsburg 1929, 28-39; Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft 1962), in: ders.: Subjektivität, Frankfurt a. M. 1989, 141-163.
[10] Christoper Ely: This Meager Nature. Landscape and National Identity in Imperial Russia, DeKalb 2002.
[11] Ely: This Meager Nature (wie Anm. 10), 223.
[12] Ely: This Meager Nature (wie Anm. 10), 191.
[13] Ely: This Meager Nature (wie Anm. 10), 221.
[14] Felix Phillip Ingold: Russische Wege. Geschichte. Kultur. Weltbild, München 2002, 347. Dem von Ingold verwendeten Begriff "Empfindungen", die von Landschaftsbildern ausgelöst werden, widmet der Wiener Philosoph Konrad Liessmann eine höchst lesenswerte Studie, in der er ästhetische Empfindungen als selbstreflexives Verfahren und Spüren einer angenehmen oder unangenehmen Emotion beim Betrachten eines Bildes beschreibt und damit auf gemeinsame Schnittmengen des iconic und des emotional turn in den Kulturwissenschaften verweist. Siehe Konrad Paul Liessmann: Ästhetischen Empfindungen. Eine Einführung, Wien 2009. Die Levitan-Rezeption bietet zahlreiche Beispiele für die mit den Bildern in Verbindung gebrachten ästhetischen Empfindungen wie auch für Stimmungen, was in der geplanten Studie noch genauer zu untersuchen ist.
[15] Zur Entstehungsgeschichte des Bildes siehe Aleksej Aleksandrovič Fedorov-Davydov: Isaak Il'ič Levitan. Žizn' i tvorčestvo, Moskau 1966, 175-177.
[16] Vladimir Alekseevič Prytkov: Levitan, Moskau 1960, 45.
[17] Prytkov: Levitan (wie Anm. 16), 44; Fedorov-Davydov: Isaak Il'ič Levitan (wie Anm. 15), 175, weist daraufhin, dass möglicherweise auch Details einer anderen Friedhofskirche am Ostrovenskoe-See in das Gemälde einflossen.
[18] Isaak Il'ič Levitan (wie Anm. 15), 177.
[19] Sofija Kuvčinnikova: Iz vospominanij ob I.I. Levitane, in: Levitan: Pis'ma, dokumenty (wie Anm. 1), 166-172, hier: 171-172.
[20] Auch im Audioguide zur Levitan-Ausstellung in der Tretjakov-Galerie 2010/11 wurde auffällig häufig zu musikalischen Termini gegriffen, um Levitans Gemälde dem russischen Publikum näher zu bringen.
[21] Siehe dazu ausführlicher Fedorov-Davydov: Isaak Il'ič Levitan (wie Anm. 15), 184-185.
[22] Zitiert nach Fedorov-Davydov: Isaak Il'ič Levitan (wie Anm. 15), 185.
[23] Samuil Vermel': Isaak Il'ič Levitan i ego tvorčestvo, St. Petersburg 1902, 3. In freier Übersetzung von Heinrich Stemmler lautet der Vers: "Er atmete Freiheit im Reich der Natur,/ Dem Murmeln des Bachs sich verbündend,/ Er lauschte verstehend dem Raunen der Flur,/ Mit welkenden Blüten empfindend". Die letzte Zeile findet sich auch in einem der Briefe Levitans, in dem er es als Ideal eines Landschaftsmalers bezeichnete, seine Psyche so zu schärfen, dass er (in wörtlicher Übersetzung der Zeile): "das Welken der Gräser" hören könne. Siehe. dazu Aleksej Aleksandrovič Fedorov-Davydov: Levitan, Moskau / Leningrad 1938, 7.
[24] Vermel': (wie Anm. 23), 3.
[25] Siehe den biographischen Eintrag in http://www.rujen.ru/index.php/ВЕРМЕЛЬ_Самуил_Саломонович ,< 2.9.2011>.
[26] Vermel': Isaak Il'ič Levitan i ego tvorčestvo (wie Anm. 23), 18.
[27] Vermel': Isaak Il'ič Levitan i ego tvorčestvo (wie Anm. 23), 19.
[28] Vermel': Isaak Il'ič Levitan i ego tvorčestvo (wie Anm. 23), 20-21. Für Vermel's Interpretation spricht ein kleines Detail des Gemäldes: Aus einem winzigen Fenster der Friedhofskirche scheint ein warmes, helles Licht, das nur in wenigen Texten, die sich mit dem Bild befassen, Erwähnung findet.
[29] N.N. Nikolaeva: I. I. Levitan, Moskau 1913 (Letučaja enciklopedija), 32.
[30] Nikolaeva: Levitan (wie Anm. 29), 35.
[31] Sergej Glagol' / Igor' Grabar': Isaak Il'ič Levitan. Žizn' i tvorčestvo, Moskau 1913 (Igor' Grabar', Russkie chudožniki. Sobranie illjustrirovannych monografii 2), 61. Grabar' als Herausgeber gehörte zur Künstlergruppe Welt der Kunst (russisch: Mir iskusstva), die sich von den "Wanderern" und ihrem kritischen Realismus vehement absetzte. Levitan selbst war Mitglied der Wanderer-Genossenschaft, veröffentlichte aber in seinen letzten Lebensjahren auch Werke im Rahmen von Ausstellungen der Welt der Kunst. Die Zuordnung Levitans zu der einen wie der anderen Kunstrichtung ist immer wieder Thema in der Levitan-Literatur, kann hier jedoch nicht ausführlich behandelt werden. Ein Beispiel für eine Interpretation der Werke Levitans im Geist der Welt der Kunst-Bewegung findet sich in Levitan. Očerk A.A. Rostislavova, Sankt Peterburg 1911.
[32] Die Bezeichnung "Rus'" geht auf die mittelalterliche Kiever Rus' zurück, die als erste Reichsbildung in Osteuropa zunächst von skandinavischen, dann von ostslawischen Eliten getragen wurde und neben finno-ugrischen Stämmen auch andere Ethnien einschloss. Insbesondere im 19. Jahrhundert wurde der Begriff Rus' dann als erhaben-feierliche Bezeichnung für Russland ethnonational codiert und zur Stärkung der Vorstellung einer jahrhundertelangen Kontinuität benutzt.
[33] Grabar' / Glagol': Isaak Il'ič Levitan (wie Anm. 31), 8-9.
[34] Grabar' / Glagol':, Isaak Il'ič Levitan (wie Anm. 31), 80-81.
[35] Sergej Lobanov: Polenov i Levitan, Moskva 1925.
[36] Lobanov: Polenov i Levitan (wie Anm. 35), 32.
[37] Lobanov: Polenov i Levitan (wie Anm. 35), 39.
[38] Izabella Ginzburg: I. Levitan, Leningrad / Moskau 1937 (Velikie mastera iskusstva), 4-5.
[39] Ginzburg: Levitan (wie Anm. 38), 6-7.
[40] Ginzburg: Levitan (wie Anm. 38), 43-44.
[41] In deutscher Übersetzung in: Konstantin Paustovski: Am Kai von Neapel. Erzählungen, Frankfurt a. M. 1985, 58-83.
[42] Paustovski: Am Kai von Neapel (wie Anm. 41), 73. Über der ewigen Ruhe wird hier frei übersetzt.
[43] Paustovski: Am Kai von Neapel (wie Anm. 41), 74.
[44] Fedorov-Davydov: Levitan (wie Anm. 24); Levitan: Pis'ma, dokumenty, vospominanija (wie Anm. 1); Fedorov-Davydov: Isaak Il'ič Levitan (wie Anm. 15); Il'ič Levitan. Dokumenty, materialy, bibliografija pod obščej redakciej A.A. Fedorova-Davydova, Moskau 1966. Im Katalog zur jüngsten Levitan-Ausstellung der Tretjakov-Galerie Moskau findet sich eine Würdigung Fedorov-Davydovs als bedeutendster Levitan-Forscher, verfasst von einem seiner Schüler: V. Turčin: Professor A.A. Fedorov-Davydov i ego predstavlenie o tvorčestve I.I. Levitana, in: Isaak Levitan. K 150-letiju so dnja roždenija, Moskau 2010, 55-57.
[45] Fedorov-Davydov: Isaak I'lic Levitan (wie Anm. 15), 171.
[46] Fedorov-Davydov: Isaak I'lic Levitan (wie Anm. 15), 172.
[47] Den Hinweis auf die sowjetische Rockband und ihre Levitan-Hommage verdanke ich meinem ehemaligen Studenten Robert Kalmullina, der dazu auch eine vorzügliche Hausarbeit schrieb. Auf YouTube findet sich ein Video, in dem die Band den Song spielt: http://www.youtube.com/watch?v=DXtXy6uENmc , <1.9.2011>.
[48] Die Reaktionen auf die Levitan-Ausstellungen 2010/11 in den russischen Medien verdeutlichen, dass sich daran nichts geändert hat.
[49] Vermel': Isaak Il'ič Levitan i ego tvorčestvo (wie Anm. 23), 21.
Empfohlene Zitierweise:
Gertrud Pickhan : Über der ewigen Ruhe. Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte einer russischen Stimmungslandschaft , in: zeitenblicke 10, Nr. 2, [22.12.2011], URL: https://www.zeitenblicke.de/2011/2/Pickhan/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-31886
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